[p. 115] Bemerkungen zur Typologie der Urkunden des Kreuzfahrerkönigreichs Jerusalem
Unser Thema ist das 13. und 14. Jahrhundert; ich muß dennoch vor allem über das 12. Jahrhundert sprechen. Im April 1222 verkaufte Enguerran von Boves bei Amiens dem Deutschen Orden ein Haus in Tyrus, und der König von Jerusalem bestätigte dies1. Dies ist die letzte bekannte wirkliche Königsurkunde von Jerusalem. Die Kanzlei der Könige von Jerusalem stand kurz vor ihrem Ende. War auch das Rechtsgeschäft unbedeutend, so war es dennoch ein würdiger Abschluß der Kanzleigeschichte, denn Enguerran stammte aus der pikardischen Familie der Herren von Coucy, die seit Generationen immer und immer wieder auf den Kreuzzug gegangen waren. Ein Coucy lag in Nazareth begraben, ein anderer fand 1192 seine letzte Ruhestätte in Akkon. Enguerran war erstmals im Hl. Land beim dritten Kreuzzug. Er war 1199 wieder in Frankreich, zog 1202 mit zwei Brüdern erneut auf den Kreuzzug, verließ diesen aber schon bei Zara, machte also die Eroberung Konstantinopels nicht mit. Er brach 1219 erneut auf, diesmal zum Kreuzzug nach Damiette, verkaufte 1222 sein Haus in Tyrus und starb ein Jahr später in Frankreich2.
[p. 116] Von nun an gab es nur noch Königsurkunden von landfremden Königen, die sich für deren Herstellung ihrer eigenen Kanzleien bedienten, erst Kaiser Friedrich II. und der deutsche König Konrad IV., dann die lusignanschen Könige von Zypern und Karl von Anjou. Das eigenständige Urkundenwesen der Könige von Jerusalem endete also im September 1222 mit der Abreise des Königs Johann von Brienne nach Europa. Es war bedeutungslos, daß Friedrich II. noch einen Kanzler für Jerusalem ernannte; die Diplome schrieb seine kaiserlich-sizilische Kanzlei. Es gibt bei den Diplomen als der bekanntesten Urkundenart also nicht viel über das 13. Jahrhundert zu sagen.
Man erwartet an sich, daß es zwei große Typen von Königsurkunden gegeben hätte, nämlich Diplome und Mandate. Das war wohl auch der Fall, aber wir wissen nichts darüber, ob diesem Unterschied in der Sache auch ein Unterschied in der Form entsprach, auch wenn hierfür eine aprioristische Wahrscheinlichkeit besteht. Es sind nämlich erst aus staufischer Zeit Mandate erhalten, aber es sind eben Produkte der staufischen Kanzleien3. Es muß aber schon früher königliche Mandate gegeben haben. Wenn der König Fulko die Jakobiten in ihrem Rechtsstreit mit Gaufrid vom Davidsturm um 1138 schriftlich zu einem Gerichtstermin lud, dann dürfte es sich dabei um ein Mandat gehandelt haben4. Sieht man von den Herolden im Feldlager ab, die königliche Befehle übermittelten, was natürlich immer nur mündlich oder akustisch [p. 117] durch Trompetensignal geschah5, so ließ sich all das, was man normalerweise durch eine mündliche Botschaft erledigte, auch schriftlich durch eine Urkunde bewirken, so wie hier im Prozeß. Als königliche Befehle von nur begrenzter Dauer waren solche Dinge klassische Sujets für Mandate. So wurden üblicherweise die Vasallen durch Herolde oder Boten zur Heerfolge aufgeboten6. In diesem Fall mußte der König nach den Rechtsbüchern des 13. Jahrhunderts seinen banier oder drei seiner Vasallen schicken7. Aber alle Rechtsbücher stimmen darin überein, daß der König auch aufbieten konnte par lettres; allerdings mußten solche Urkunden besiegelt sein8. Dieses Verfahren ist in der Praxis nur einmal 1150 deutlich bezeugt bei dem erfolglosen Versuch des Königs Balduin III., die seiner Mutter loyalen Vasallen auch für sich zum Heeresdienst aufzubieten9.
Solche Aufgebote verursachten im Prinzip einen erheblichen Arbeitsaufwand, mochten sie nun mündlich oder schriftlich ergehen, aber insbesondere dann, wenn schriftlich aufgeboten wurde10. Leopold [p. 118] Delisle hat uns gelehrt, wie arbeitsintensiv dies für Richard Löwenherz als Graf von Poitou war11. Vielleicht hatte Richard mehr Soldaten als der König von Jerusalem, aber wohl auch mehr Notare, um solche Situationen zu bewältigen. Es liegt auf der Hand, daß die kleine Kanzlei von Jerusalem dies mit ihrer Stammbesatzung nicht schaffen konnte. Sie muß in solchen Situationen Aushilfsschreiber beschäftigt haben, wie wir sie bei anderen Gelegenheiten mit hohem Arbeitsanfall hin und wieder feststellen können. Die Annahme solcher Aushilfsschreiber ist jedenfalls so gut wie sicher für das umständliche Verfahren des schriftlichen Aufgebots. Dann aber muß man auch ein dringendes Interesse daran gehabt haben, den Text und das Formular und auch die äußere Gestaltung einfacher zu halten als bei den Diplomen, mit anderen Worten ein Mandatsformular zu entwickeln.
Seine dauerhaften Rechtsgeschäfte wickelte der König in Gestalt des feierlichen Diploms ab, nicht nur Schenkungen und Bestätigungen, sondern auch Hofgerichtsurteile, etwa in der Haute Cour vorgenommene Genehmigungen für Lehnsverkäufe (RRH n° 934), und sogar zweiseitige Verträge. Die Gegenleistung mußte dann entweder in das Phot. eingearbeitet werden, wie im ersten erhaltenen Vertrag mit Pisa von 1156 (RRH n° 322), oder sie wurde festgehalten in einem gesonderten Gegeneid der Vertragspartner, was einmal, vielleicht zweimal zu einer Chirographierung geführt zu haben scheint, auf die ich noch zu sprechen komme. Lediglich ein nicht erhaltener, sondern nur bei Wilhelm von Tyrus erwähnter Vertrag mit Byzanz von 1171 scheint aus dem Rahmen gefallen zu sein, denn von ihm heißt es pactis hinc inde ad placitam utrinque consonantiam reäactis et scripto traditis utriusque bulla signato12. Aber die Nachricht ist mit Vorsicht aufzunehmen. Es bestand kein Grund, von der üblichen Form byzantinischer Staatsverträge abzuweichen. Hierbei beurkundete der ausländische Vertragspartner [p. 119] einseitig seine Verpflichtungen, und eine solche Urkunde des Königs von Jerusalem wird sicher besiegelt worden sein, war aber dann erneut ein feierliches Phot.. Ein solches Schriftstück ging nicht nur in das kaiserliche Archiv, sondern wurde als sogenanntes έγγραφον in das kaiserliche Chrysobull inseriert13. Aber es ist ganz unwahrscheinlich, daß der Kaiser hier neben seiner Goldbulle ein weiteres Siegel geduldet haben sollte, zumal der Basileus darauf achtete, daß sein Gast auf einem kleineren Thron saß als er selbst14.
Die Diplome folgten gewissen äußeren und inneren Formen. Ich kann mich hier mit der Entwicklung des Formulars nicht befassen, sie gehört auch nicht in den Rahmen des Themas. Aber natürlich erleichterte der Umstand, daß die Könige vorwiegend Diplome ausstellten, die Entwicklung eines Formulars. Mit den äußeren Formen gab es am Anfang Probleme, denn eine Kanzlei wurde erst 1115 eingerichtet, als der erste Kanzler ernannt wurde. Zuvor bediente sich der König der Schreibstube des Hl. Grabs. Deshalb ist es auch schwierig zu entscheiden, was das Vorbild war für die frühen Diplome von Jerusalem, ob die lothringisch- nordfranzösische Seigneursurkunde, insbesondere die von Despy untersuchte lothringische Herzogsurkunde, oder aber italo-normannischer Einfluß, wie er am Hl. Grab neben dem lothringischen deutlich zu erkennen ist. Nehmen wir beispielsweise den Umstand, daß die frühen Urkunden Balduins I. — von Gottfried von Bouillon haben wir aus dem Osten ja keine Urkunden — von ihm teilweise eigenhändig unterschrieben wurden mit † b. dei gracia rex †15. Despy hat zwar bestritten, daß die Herzöge von Niederlothringen nördlich der [p. 120] Alpen jemals ihre Urkunden eigenhändig unterschrieben oder wenigstens unterkreuzt hätten, aber das spärliche Material, das mit Fälschungen durchsetzt ist, läßt sich ebenso gut für wie gegen eine Unterschrift verwerten. Es ist jedenfalls prima vista nicht einzusehen, warum Herzog Gottfried der Bärtige auf eine eigenhändige Unterschrift in Lothringen verzichtet haben sollte, nachdem er ein ganzes Jahrzehnt lang als Markgraf der Toskana seine Placita eigenhändig unterschrieben hatte16. Aber eigenhändig unterschrieben waren auch die Urkunden der süditalischen Normannenherzöge, allerdings in ganz anderer Form wie in Jerusalem, etwa † Ego R. dux me subscripsi †, wobei allerdings nur das Kreuz eigenhändig war, in Jerusalem aber die gesamte Unterschrift. Diese Unsicherheiten änderten sich mit der Ernennung des ersten Kanzlers schlagartig zur Vereinheitlichung hin, vor allem weil er mit den zuvor häufigen Empfängerausfertigungen aufräumte. Als sie wesentlich später vorübergehend wiederkamen, bemühten sich die Empfängerschreiber um die Nachahmung der Kanzleiprodukte, auch wenn dies natürlich nicht so gut gelang, daß die moderne Diplomatik zu täuschen wäre. Die Königsunterschrift hörte bald auf; sie könnte 1120 in einer Kopie letztmals erwähnt worden sein, ohne daß sie nachgezeichnet worden wäre (RRH n° 91). Dafür war der Siegeszug des Siegels unaufhaltsam. Es gab nicht mehr viel Ausnahmen von der Besiegelung bis zum Tode des Königs Fulko im Jahr 1143, und zum Teil sind sie auch erklärbar (RRH n° 90a.102.125.157. 179.210). Danach, als der Kanzler Radulf die Stabilisierung des Formulars abschloß, wurden die Ausnahmen noch seltener. Ich kenne dann nur noch drei unbesiegelte Originale: eines kündigt aber ein Siegel an und war wohl einst besiegelt, denn es scheint am unteren Rande einmal beschnitten worden zu sein (RRH n° 293), ein anderes, das eine Empfängerausfertigung war, blieb sichtlich unvollzogen (RRH n° 452)17, auf ein drittes komme ich noch zu sprechen.
[p. 121] Eine Doppelbesiegelung durch den König und seine Mutter kam gelegentlich in der Zeit der großen Reichskrise um 1150 vor, als das Reich wegen des Streits der beiden dem Zerfall entgegentrieb18. Zu diesem Zeitpunkt war aber die Kanzlei zusammengebrochen und durch zwei rivalisierende Scriptorien ersetzt worden, die von den beiden Hofkapellen bemannt wurden, die aber vom Urkundenwesen nichts verstanden. Und so konnte es dahin kommen, daß auf dem Höhepunkt der Krise gar einmal ein Empfänger ein Chirograph der Königin mitbesiegelt zu haben scheint19. Ganz anders ist es zu beurteilen als eine einmalige Ausnahme vom Kanzleibrauch, wenn das wichtige Phot. des Königs Fulko, das die Gründung des Doppelklosters Bethanien einleitete, in einer Zeit einer gut funktionierenden Kanzlei nicht nur vom König, sondern auch vom Patriarchen Wilhelm von Jerusalem besiegelt war20. Das hing mit der außergewöhnlichen Stellung des Patriarchen zusammen, den man quasi als Premierminister des Königs bezeichnen [p. 122] kann. Das zeigt sich nicht nur an der erwähnten Mitbesiegelung, sondern noch mehr an einer Urkunde des Patriarchen von 1141, die ein an sich vom König vorzunehmendes Rechtsgeschäft betraf, aber vom Patriarchen in der königlichen Residenz in Nablus nicht nur per consensum et confirmationem, sondern sogar per auctoritatem regis et regine beurkundet wurde (RRH n° 201).
In rechtlicher Sicht war das Siegel das kardinale Beglaubigungsmittel. Als Echtheitskriterium ist dagegen das Format besser geeignet. Von Anfang an war das Diplom von Jerusalem als Charta transversa angelegt, d.h. parallel zur kürzeren Seite beschrieben. Dies gilt schon für das erste erhaltene Diplom, das ohne Ankündigung besiegelt war und gar nichts von einem Diplom an sich hat, sondern aussieht wie eine Seite aus einer Handschrift (RRH n° 51). Das erste Querformat bei einem echten feierlichen Diplom kommt erst 1185 oder 1186 vor (RRH n° 657)21. Danach ist das Querformat zulässig, aber nicht Vorschrift22. Wie lässig jetzt die Dinge geworden waren, ergibt Sich aus einem Diplom des Königs Johann von Brienne, das in zwei Ausfertigungen vorliegt, von denen die eine Hochformat, die andere Querformat hat (RRH n° 934). Stößt man aber vor 1185/86 auf ein feierliches Diplom mit ausgesprochenem Querformat, dann handelt es sich entweder um eine spätere Kopie, wie sie im Johanniterarchiv häufig sind, oder um eine Fälschung (RRH n° 276) oder um eine zwar echte, aber außerhalb der Kanzlei entstandene Urkunde. Schon 1115 haben wir [p. 123] eine solche, die auch aus anderen Gründen eine Empfängerausfertigung ist (RRH n° 79)23.
Ein von Juni 1174 datiertes Stück (RRH n° 516) ist gleichfalls eine vom Empfänger geschriebene Urkunde, und zwar eine der relativ wenigen Gerichtsurkunden der Cour des Bourgeois in Jerusalem. Da das Gericht erst 1251 in Akkon einen eigenen Schreiber erhielt, schrieben hier zuvor generell die Empfänger. Die Sache mag im Juni verhandelt worden sein, aber die Beurkundung erfolgte ausweislich der mehrfachen Tintenwechsel — gerade auch in der Datierung — etappenweise und war sicher nicht vor dem 11. Juli abgeschlossen, als der König, der überhaupt erst Ende Juni oder Anfang Juli nach Jerusalem zurückgekehrt war, starb. Nach seinem Tod, auf den nur vier Tage später sein Sohn als König folgte, wurde angesichts des verschiedenen Namens natürlich die alte Bullenzange zerbrochen, und das führte dazu, daß die Urkunde nicht mehr besiegelt werden konnte, wie es für ein Diplom eigentlich unerläßlich war. Das fiel allerdings bei den Gerichtsurkunden nicht sonderlich auf, denn von den 14 aus der Stadt Jerusalem erhaltenen sind nur zwei besiegelt. Eine Besiegelung war hier um so weniger notwendig, weil es sich um eine Schenkung an zwei Empfänger, die Johanniter und ein hauptstädtisches Nonnenkloster, handelte, die damit zugleich einen Vertrag über die Nutzung der beiden gemeinsam geschenkten Straße schlössen, und deshalb erging das Stück als Chirograph, was sonst in den Diplomen nur noch ganz selten vorkommt, zuvor nur in RRH n° 278 aus der Zeit der Kanzleikrise, wiederholt in der Nachurkunde RRH n° 307, wo das Wort Chirograph aber sicher nicht mehr als bare Münze zu nehmen ist. Danach kommt es nur noch zweimal vor, einmal in einem Diplom Konrads von Montferrat für Genua von 1190 (RRH n° 691), ohne daß man genau erkennen könnte warum, denn wenn Genua zwei Ausfertigungen haben wollte, so konnte man dies ohne Chirographierung bewirken. Aber es wäre natürlich denkbar, daß auf dem fehlenden Blatt ein Gegeneid der Genuesen über deren Verpflichtungen stand. Es verdient immerhin [p. 124] Beachtung, daß der pisanische Gegeneid, den Favreau-Lilie veröffentlicht hat, als Chirograph angelegt ist und ebenso die Urkunde des Herrschers Heinrich von Champagne, mit der Favreau-Lilie den Gegeneid in Zusammenhang bringt24.
Allerdings birgt die Überlieferung Probleme, weil der Gegeneid in Pisa liegt. Favreau-Lilie, die davon ausgeht, daß das Chirograph dazu gedient habe, zwei gleichlautende Exemplare des Gegeneides herzustellen, hat ungeachtet der allerdings stereotypen Versicherung des Notars, daß er den Gegeneid aus einem gesiegelten Original abgeschrieben habe, in dem Chirograph in Pisa das Original des Gegeneides gesehen. Man klagt an sich ungern einen Notar an, aber für ihre These spricht immerhin, daß die Vorlage des Notars besiegelt gewesen sein soll, ohne daß man sehen könnte, wer denn hier gesiegelt haben sollte. Die Pisaner siegelten nicht, sondern arbeiteten mit ungesiegelten Notariatsinstrumenten, während Heinrich von Champagne beim Gegeneid nichts zu besiegeln hatte. Nimmt man die Äußerung des Notars für bare Münze, so wird die Sache schwierig. Er hätte seine Vorlage, die ins königliche Archiv gehörte, in dem pisanischen in Akkon gefunden, in dem er Pisas ganze urkundliche Überlieferung bis 1200 kopierte. Das gibt an sich keinen Sinn. Nun hat aber Favreau-Lilie schon darauf hingewiesen, daß der Gegeneid Heinrichs Nachfolger nicht mit einbezog, also bei seinem Tode obsolet wurde25. Mir scheint daher folgende Lösung wahrscheinlicher: Im Mai 1192 stellte Heinrich den Pisanern RRH n° 713 aus26. Das Original wurde als Chirograph angelegt, auf dessen eine Hälfte die Kanzlei das Diplom schrieb, während auf der anderen Hälfte, eben weil die Pisaner kein Siegel hatten, ein pisanischer Notar den Gegeneid anbrachte, der ins königliche Archiv kam. Nach Heinrichs Tod 1197 verlangten die Pisaner erfolgreich ihren Gegeneid zurück, den sie [p. 125] nun nicht mehr nach Pisa schickten, weil er ohnehin obsolet war. In Akkon wurde er um 1200, als die Pisaner im Osten ihre erste große Abschreibeaktion für die heimische Kommune vornahmen, kopiert, mit den anderen Kopien nach Pisa geschickt und dort archiviert.
Der erste Kanzler führte 1115 auch sofort die verlängerte Schrift für die Invocatio der Ingrossate ein, die sich in Urkunden des Patriarchen und eines Legaten schon früher findet (RRH n° 67.69.80). Sie blieb dann de rigueur und wurde eine Kanzleiregel, die nur ganz seltene Ausnahmen duldete, von denen zwei Stücke ausgesprochenen Empfängereinfluß zeigen (RRH n° 102 [Nachzeichnung]. 134), zwei aus anderen Gründen die Kanzlei nicht durchlaufen haben (RRH n° 262.359), eines eine einfache Ausfertigung eines Diploms ist, von dem noch eine zweite feierlichere mit verlängerter Schrift vorliegt (RRH n° 934), während ein Original des Königs Johann von Brienne keine Zierschrift hat (RRH n° 930), wobei wohl die heimischen Bräuche der Champagne und von Brienne durchschlugen.
Die Schrift der Diplome variierte, von der reinen Buchschrift bis zur diplomatischen Minuskel, die im 12. Jh. Anleihen bei der päpstlichen Urkundenminuskel machte, im 13. Jh. bei der zierlichen und eleganten französischen Urkundenschrift. Aber die Schrift variierte auch deshalb, weil die überwiegend selbst mundierenden Konzipienten aus aller Herren Länder kamen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der eine oder andere von ihnen im Lande geboren war, aber sonderlich wahrscheinlich ist das nicht. Dieser am Diktat zu erhärtende Befund entspricht im großen und ganzen dem, was Rudolf Hiestand für den Episkopat festgestellt hat: Das Kanzleinotariat in Jerusalem war ein Einwandererberuf. Das zeigen auch die Schriften. Bei eingeborenen Notaren müßte man ja konservative Schriften erwarten. Tatsächlich aber hinkt die Schrift in den Diplomen zu keiner Zeit wesentlich hinter der europäischen Schriftentwicklung hinterher, eben weil die Notare einwanderten und selbst mundierten.
Von der letzten Regel gibt es nur zwei Ausnahmen, die Kanzleischreiber I und II. Sie waren, wenigstens im Grundsatz, reine Schreiber, die nicht diktierten. Den Schreiber I hat man in einer Situation, in der besonders viel Arbeit anfiel, hilfsweise auch für Dictamina herangezogen. Der Schreiber II war für die Schrift der Star der Kanzlei, der erst diktierte — nach dem Vorbild der Kanzlei, aber eben nicht ganz richtig —, als er die Kanzlei hatte verlassen müssen und sich nun sein Brot mit [p. 126] der Herstellung von Privaturkunden verdiente. Das ist bedauerlich, denn so haben wir keinen Anhaltspunkt im Diktat für seine Herkunft, denn in der Kanzlei mundierte er nur. Aber als Kalligraph, der er war, hat er die schönsten der jerusalemitanischen Diplome geschrieben, die es mit jeder Kanzlei Europas aufnehmen konnten. Ich würde bei dieser kleinen, zierlichen, aber doch kraftvollen Urkundenminuskel gern annehmen, daß er aus Italien kam, aber sicher bin ich nicht.
Die Sprache der Diplome war natürlich das Latein. Das gilt auch nach dem Ende der Kanzlei für die Urkunden der staufischen Könige und Karls von Anjou. Allerdings ist der Vertrag Friedrichs II. mit dem Sultan von 1229 in den päpstlichen Registern nur französisch überliefert27. Der Einbruch des Französischen erfolgte massiv bei den Fürsten von Antiochia und Grafen von Tripolis ab 122728. Sehr bald folgten ab 1234 die lusignanschen Könige von Zypern, wenn auch nicht durchgehend29, aber 1291 urkundete der König von Zypern auch einmal italienisch für Pisa (RRH n° 1518). Bei den Ritterorden setzt das Französische 1239 ein (RRH n° 1091), im Adel von Jerusalem nur unwesentlich später (RRH n° 1099.1149 von 1241 und 1247). Aber hier kommt der massive Einbruch der gesprochenen Sprache erst mit dem mehrjährigen Aufenthalt Ludwigs des Heiligen in Palästina (1250-1254). Abgesehen von Ausnahmen blieb die Amtssprache der Weltkirche im allgemeinen bis 1291 das Latein30. Privaturkunden in arabischer Sprache hat es gegeben, aber sie waren sehr selten und keine ist erhalten31.
[p. 127] Über die Privaturkunden kann ich weitaus weniger sagen als über die Diplome, schon deshalb weil mir hier aus dem ohnehin schon dezimierten Material nicht einmal Photographien aller Originale der beiden großen erhaltenen Empfängergruppen vorliegen. Aber so viel läßt sich bei Anlegung verallgemeinernder Maßstäbe sagen, daß die Privaturkunde der Kreuzfahrerstaaten grosso modo eine vereinfachte Ausgabe der Diplome war. Jedenfalls gilt das für die seigneuriale Privaturkunde, im Äußeren sogar für die episkopale. Die Privaturkunden haben überwiegend das Format der Charta transversa außer bei den Chirographen, die in dieser Gruppe natürlich häufiger waren als bei den Diplomen und überwiegend Querformat aufweisen32. Eine verlängerte Schrift war für die Invocatio der Privaturkunde kein unbedingtes Erfordernis, und sie fehlt häufig, aber die Tendenz dazu ist unverkennbar. Auch in der Datierung ist der Zuschnitt der Privaturkunden wesentlich einfacher. Häufig sind sie gar nicht datiert, oft nur mit dem Jahr, und dies noch ohne Indiktion. Abersoweit wir uns in den Schichten von Kirche und Adel bewegen, sind sie überwiegend besiegelt, nachdem die Seigneurs sich gegen den hinhaltenden Widerstand der frühen Könige das Recht auf ein Siegel erworben hatten.
Selbst über die bischöfliche Urkunde ist wenig zu sagen. Gelegentlich findet man Einflüsse aus der Papsturkunde, so bei den Patriarchen von Jerusalem Wilhelm (1130-1145) und Amalrich (1158-1180). Hierhin gehören etwa die Verewigungsformel in perpetuum (RRH n° 234. 251.455.456.469) oder Arengen wie Officii nostri nos compellit auctoritas33 oder die salvatorische Klausel salva diocesanorum episcoporum reverentia (RRH n° 172) oder die Sanctio positiva oder negativa päpstlicher Privilegien und schließlich gelegentlich die große Datierung [p. 128] der feierlichen Papstprivilegien mit einer Data per manum-Formel. Diese Einflüsse scheinen hier etwas stärker zu sein als etwa in Nord- und Ostfrankreich, wo Olivier Guyotjeannin die Frage kürzlich in einem Vortrag mit überraschend negativem Resultat untersucht hat. Von Ausnahmen kann man bei den genannten beiden Patriarchen nicht mehr sprechen, aber es bleiben in der Geschichte der Patriarchenkanzlei Zufälligkeiten. Anders als bei der Königsurkunde entwickelte sich kein stabiles Formular der Patriarchenurkunde, sondern jeder Urkundenmann der Patriarchenkanzlei fing von vorne an und entwickelte mehr oder minder sein eigenes Formelgut, das ihn nicht überlebte, und zwei davon haben eben gern Papsturkunden imitiert. Nur bei der Intitulatio kam es zu so etwas wie einer Stabilität des Formulars34.
Die Mehrzahl der cancellarü, die vorkommen, zeigt natürlich nicht die Existenz episkopaler oder seigneurialer Kanzleien an, sondern bezeichnet nur simple Urkundenschreiber, die einmal oder mehrmals für einen bestimmten Aussteller schrieben. Nachweisen lassen sich Kanzleien oder zumindest organisierte Schreibstuben nur beim König von Jerusalem, beim Fürsten von Antiochia und beim Grafen von Tripolis, beim Patriarchen von Jerusalem und beim Chorherrenstift vom Hl. Grab. Schon bei den Patriarchen von Antiochia und den Grafen von Edessa reicht die Überlieferunt nicht hin, um sichere Aussagen zu machen. Umgekehrt ist sicher, daß ein so mächtiger Baron wie Fürst Walter von Galilaea, Kastellan von St.-Omer, keine Urkundenschreibstube hatte, denn es läßt sich schwerlich eine Urkundengruppe denken, die nach Schrift und Diktat so unterschiedlich wäre wie seine sechs Urkunden aus der Zeit 1165-117135. Sechs Urkunden haben hier fünf verschiedene Intitulationes. Über Typologie von Urkunden kann man im Grunde nur da reden, wo eine wenigstens rudimentäre Einheitlichkeit der äußeren und inneren Merkmale besteht, aber ohne [p. 129] Urkundenschreibstube bildete sich eine solche Einheitlichkeit nicht aus. Der Vizegraf von Nablus (RRH n° 542.566), der Herr von Margat (RRH n° 609.612.630), der mächtige Herr von Ramla (RRH n° 533.539), sie alle lieferten im Abstand von nur einem oder zwei Jahren Originalurkunden, die teils sehr ungelenk, teils aber auch erstklassig wirken und es dann mit jedem Diplom aufnehmen können (RRH n° 539).
Unter dem Gesichtspunkt der Typologie muß man auch reden von Doppelausfertigungen, nicht von den normalen, wo man zwei Exemplare für verschiedene Archive des Empfängers bekam oder neben der feierlichen Ausfertigung, die das Archiv tunlichst nicht mehr verließ, noch die einfacher gehaltene carta gestatoria für Prozeßzwecke haben wollte. Die Rede ist vielmehr von scheinbaren Doppelausfertigungen, die in Wahrheit keine sind, auch wenn mindestens bei der Besiegelung eine einfachere Ausfertigung einer sorgfältigeren gegenübersteht. Bei näherem Hinsehen unterscheiden sich die beiden oft leicht im Wortlaut, im Sachinhalt, in der Natur des Rechtsgeschäftes, durchaus auch in den Zeugen und in der Datierung, aber die Unterschiede sind nur leicht, und erst vor kurzem ist überhaupt die Verschiedenartigkeit in der Rechtsqualität erkannt worden. Was wir vor uns haben, ist jeweils ein Vorvertrag und eine endgültige Beurkundung. Beides sind Urkunden, aber der Vorvertrag hat nur ein Wachssiegel und nur eine zeitlich begrenzte Geltungsdauer. Er beurkundet ein Rechtsgeschäft unter Praktikern, die sich um entgegenstehendes Recht nicht kümmerten. Dann wurden die Juristen zugezogen und brachten das Rechtsgeschäft in Übereinstimmung mit dem Gesetz, häufig genug mit Lügen. Die endgültige Fassung mit Ewigkeitswert wurde dann mit Blei gesiegelt, der wachsgesiegelte Vorvertrag wurde jetzt obsolet und ist deshalb nicht sonderlich häufig erhalten. Aus den von mir untersuchten Fällen des 13. Jh. rekapituliere ich hier nur einen. Im Dezember 1261 verkaufte der Herr von Beirut in einer einzigen Urkunde36 dem Deutschen Orden einen großen Lehenskomplex weiter südlich für eine Annuität von 11000 Goldstücken sowie einen kleinen Turm namens Toron Aghmid [p. 130] unweit von Beirut für eine einmalige Zahlung von 5000 Goldstücken. Aber der Verkäufer kannte den Namen des Turms überhaupt nicht. Er müsse ihn erst im Archiv in Zypern feststellen, dann werde er in die endgültige Fassung eingesetzt werden. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt mußte die Sache endgültig und neu beurkundet und diesmal ausdrücklich in Blei gesiegelt werden, während der Vorvertrag wachsgesiegelt war. Ausdrücklich wurde bestimmt, daß der Kaufpreis von 5000 Goldstücken für Toron Aghmid in der endgültigen Fassung nicht erwähnt werden durfte. Und so geschah es (RRH n° 1308). Diese Urkunde wurde auf November 1261 rückdatiert. Hier war der Verkauf als eine zulässige Almosenschenkung an den Orden deklariert, während ein Verkauf von Lehnsbesitz genehmigungspflichtig war. Trotz dieser Kaschierung der Natur des Rechtsgeschäftes quittierte der Herr von Beirut dem Orden in einer dritten Urkunde, daß er die 5000 Goldstücke erhalten habe (RRH n° 1310). Formal gesehen sind solche Vorverträge Urkunden, aber faktisch sind sie schon Akten.
Erst ab 1250 kam in die Urkunden jedenfalls des städtischen Bereichs — und Urkunden über Besitz auf dem Lande gab es immer weniger — eine gewisse Tendenz zur Einheitlichkeit, weil jetzt das italienische Notariatsinstrument auch außerhalb der italienischen Handelsniederlassungen dominierte. Selbst die Zentralgewalt bediente sich jetzt gelegentlich dieser Urkundenform, so als 1286 der neue König Heinrich II. von Zypern dem französischen Regiment, das die Zitadelle von Akkon besetzt hielt, bei Abzug freies Geleit zusicherte (RRH n° 1465.1466). Zum Siegeszug des Notariatsinstrumentes mußte es insbesondere beitragen, daß ein italienischer Notar namens Aliotto Uguccio 1251 zum ersten Schreiber der Cour des Bourgeois in Akkon ernannt wurde, einer Stadt, die jetzt nicht nur Hauptstadt, sondern in zunehmendem Maße der verbliebene Staatsrest war. Aliotto hatte jetzt die Masse des städtischen Immobilienverkehrs zu schreiben, den die Cour des Bourgeois als ein Ort der freiwilligen Gerichtsbarkeit abwickelte37. Aber daneben war er der Notar der Johanniter. Nicht [p. 131] nur haben wir noch Urkunden, die er für sie geschrieben hat38, sondern das Original oder eine Kopie seiner eigenen Ernennung zum Notar hatte er bei den Johannitern abliefern müssen, in deren Archiv es noch im 16. Jh. aufbewahrt wurde39. Heute ist es verloren.