Formelbücher der Luxemburgerzeit in Böhmen
Resümee
Die pragmatische Schriftlichkeit entfaltete sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Přemyslidischen Königreich Böhmen mit voller Kraft. Trotz der politischen Zäsur zwischen dieser und der nachfolgenden Epoche der Luxemburger wurden die Fäden nicht völlig unterbrochen, wobei die intesiveren westlichen Einflüsse sind besonders in der böhmisch- und seit 1346 römisch königlichen Diplomatik zu sehen. Das musste sich auch im Bereich der Formelsammlungen widerspiegeln. Aber auch andere Kanzleien, besonders die des Prager Bischofs und seit 1344 Erzbischofs, ja auch die der Städte, haben sich dieses Hilfsmittel angeeignet, obwohl wahrscheinlich vornehmlich durch die private Initiative der richtungweisenden Kanzleibeamten. Es handelte sich einerseits um Übernahme der bewährten Sammlungen der früheren Zeiten (vornehmlich ist das die sog. Petrus de Vinea Sammlung), es entstanden jedoch auch eigene Sammlungen aufgrund des aktuellen Angebots am vorhandenen Kanzleimaterial. Führend war natürlich die königlich-luxemburgische Kanzlei, wobei besonders die Karls IV. – diese vornehmlich dank seinem Kanzler Johann von Neumarkt – recht massiv vertreten ist. Aus dem städtischen Material ist das Troppauer und Prager Material interessant, jedoch auch das im Bereich des öffentlichen Notariats. Was die Sprache betrifft, so dominiert die lateinische, ziemlich überraschend fehlt die deutsche, während die tschechische erst am Anfang des 15. Jh. auftaucht.
Es lohnt sich mit der Paraphrase einer berühmten Parole beginnen. Es gilt zwar ganz allgemein, dass ars longa und vita brevis est, jedoch auch in gewisser Paraphrase dieses Slogans ist zu sagen, dass auch investigatio librorum formularum medievalium longa est, sed vita nostra brevissima. Nun aber schon zum konkreten Thema*.
I. Allgemeine Voraussetzungen
Das 13. Jahrhundert gilt zwar allgemein als Umbruchzeit, doch merkt man das im Königreich Böhmen in noch pointierterer Weise. Das betrifft auch die schriftliche Verwaltungskultur, wie das Marie Bláhová im vorgehenden Beitrag dieser Publikation dargelegt hat1. Jedoch der große Dynastienwechsel nach 1300 hat diesen Umbruch noch exponenziert. Im 14. Jahrhundert beschleunigte sich nämlich besonders der wirtschaftliche, rechtliche, d. h. vornehmlich auch administrative sowie kulturelle Aufstieg . Damit ging natürlich Hand in Hand der Bedarf intensiverer Verwaltungstätigkeit in allen Bereichen und an allen Ebenen des öffentlichen Lebens des Landes, an der Spitze freilich mit dem königlichen Hof mit seinen böhmisch-königlichen, ab Karls IV. Zeit auch römisch-königlichen bzw. -kaiserlichen Prärogativen. Hand in Hand damit merkt man auch den allseitigen Aufstieg der Städte.
Aber auch die Kirche hat an diesem Prozess aktiven Anteil genommen. Das alles hat dringend auch vertiefte Kenntnisse des Lesens und Schreibens vorausgesetzt, nach der Gründung der Universität 1348 im noch erhöhtem Maße. Allerorts tauchten nämlich Kanzleien unterschiedlicher Niveaus und Kompetenzen auf, die früher unvorstellbare Aufgaben erfüllen mussten. Deshalb wuchs notgedrungen im großen Maße nicht nur die Zahl schriftlicher Verwaltungsunterlagen, sondern auch ihre Variabilität. Dass damit eng die Zunahme der Beamtenzahl unterschiedlicher Qualifikationen, Qualitäten und Aktivitäten anwachsen mußte, versteht sich von selbst. Mit anderen Worten bedeutet das einen bisher kaum vorstellbaren gesellschaftlichen Wandel.
Dass im ganz engen Zusammenhang damit selbstverständlich das sich vertiefende schriftliche Rechtsverfahren innerhalb einzelner sozialer Schichten verlief, das früher fast nur auf kirchliche Kreise beschränkt war, versteht sich von selbst. Jedoch auch die quer durch die unterschiedlichen sozialen Schichten laufende schriftliche Kommunikation nicht nur mit benachbarten, sondern auch entfernteren Partnern sowohl im altbewährten kirchlichen (so vornehmlich im Kontext mit der päpstlichen Kurie in Avignon), jedoch zunehmend auch im weltlichen Bereich, spielte zunehmend mit. Auch bloße kurzlebige Handelskorrespondenz mit entsprechenden Rechnungsunterlagen wuchs fast unkontrollierbar, obwohl das italienische Niveau freilich nicht erreichbar war, ja von weitem nicht erreichbar werden konnte.
Damit hängt einerseits zusammen, dass verschiedene neue schriftliche Produkte entstehen mussten, anderseits sich auch die Produktion des Geschäftsschriftgutes, besonders was wirtschaftliche Aktivitäten betrifft, mehrfach gewachsen ist. So nimmt es kaum Wunder, dass man nicht nur zu neuen Produkten der Verwaltungspraxis (auch Textsorten genannt) jedoch parallel dazu auch zu neuen Hilfsmitteln Zuflucht gesucht hat, ja eigentlich dazu gezwungen wurde. Während in der späten Přemyslidenzeit solche Unterlagen eher als Produkte der privaten Aktivität von Einzelleuten betrachtet werden können, ja müssen, änderte sich nun im böhmischen Königreich die Lage grundlegend, wobei freilich die persönliche Initiative von Einzelbeamten immer vorauszusetzen ist, was hoffentlich aus den anknüpfenden Ausführungen noch genauer erhellt.
Damit ging notgedrungen Hand in der Hand auch die Lese- und Schreibkundigkeit nicht nur im Rahmen der Verwaltung, sondern auch im Kontext der literarischen Aktivitäten, die sich immer deutlicher aus dem Bann der bisherigen Alleinherrschaft der Kirche-Geistlichkeit auszuklammern begannen. Ist das schon seit dem Anfang der Regierung Johanns von Luxemburg zu merken, gilt das um so mehr ab der Mitte des 14. Jh. Der Antritt Karls IV. sowohl als böhmischer (1346) als auch römischer König (1346) und 1355 als Kaiser sowie Gründer der Prager Universität (1348) stellt im gewissen Sinne weitere Meilensteine dar. Nur beispielhaft kann man anführen: gegen Dutzende von literarischen Handschriften heimischer Herkunft vor 1300 gibt es ab jetzt Hunderte, ja nach 1350 Tausende von Handschriften, die im Lande entstanden sind. Im Bereich der Verwaltung ist dieser Aufschwung noch deutlicher. Gegen Hunderte einheimischer Urkunden der Přemyslidenzeit zählen sie jetzt Aberhunderte, ja Tausende, wobei auch die Zahl der Aussteller und Empfänger des administrativen Gutes stürmisch wächst 2. Mit der Verbreitung der Schreibkenntnisse und allgemeiner Intensivierung der schriftlichen Produktion hängt natürlich auch das Bedürfnis der Beschleunigung des Schreibens und selbstverständlich im Zusammenhang damit der Versuche um ihre Vereinfachung3.
Jedoch nicht nur das. Es handelt sich auch um das neu aufkommende administrative Buchgut. das sich vorher, d. h. im ausgehenden 13. Jh. eigentlich nur auf böhmische Landtafeln beschränkte4, obwohl auch andernorts die Anzeichen über Existenz des Gutes der inneren Verwaltung schon zu registrieren sind. Ab jetzt, d. h. im 14. Jh., beginnt aber dieses Gut auch bei anderen Institutionen stets massiver, ja massiv aufzutauchen, seien es Stadtbücher, Register und wohl besonders verschiedene Produkte des Rechnungswesens, obwohl diese als Verbrauchsgut meist absichtlich kassiert wurden.
Man merkt: die Verwaltung an allen Ebenen erlebt einen bisher kaum geahnten Aufschwung, von der Jahrhundertmitte dann mit noch steigender Intensität. Deshalb wuchs auch die Zahl der professionellen Beamten, egal ob man sie Notare, Schreiber, Registratoren, öffentliche Notare oder anders nannte. Es handelte sich nämlich um Intellektuelle aller Art, zunehmend jedoch um Leute mit spezieller, nicht selten auch mit ausländischer, vornehmlich italienischer Bildung. Solche Spezialisten wurden dann besonders geschätzt. Deshalb auch kein Wunder, dass sie manchmal nicht nur zu hohen kirchlichen, jedoch auch zu weltlichen Würden und Ämtern emporstiegen. Wie im vorgehenden Beitrag von Marie Bláhová (der auch sonst zugezogen werden soll) dargelegt wurde, gab es jedoch ab Ende des 13. Jh. auch in Böhmen Notarschulen, wo aber nicht nur das „plumpe Notarsgewerbe“ gelehrt wurde, sondern auch verschiedene Hilfsmittel zur Beherrschung der Notarkunst benutzt, abgeschrieben, nachgeahmt und schließlich auch konzipiert wurden. Dabei hat im Lande schon ziemlich bald nach seiner Entstehung auch das sog. Formelbuch Petrus´ von Vinea gewirkt. Über „seine“ späte Přemyslidenzeit braucht man hier nicht sprechen, doch ist es zu konstatieren, dass es sich um ein Werk gehandelt hat, das im böhmischen Milieu eine langlaufende Wirkung besaß. Es drang nicht nur in die Kanzleipraxis ein, sondern auch in den universitären Unterricht, wie darüber der Lokationskatalog des universitären Karlskollegs aus der Mitte der zweiten Hälfte des 14. Jh. ausweist5.
Obwohl eben fremde Impulse angeführt wurden, muss doch als entscheidender Antrieb für das Entstehen und Konzipieren heimischer Hilfsmittel stets eigener Bedarf und eigenes Material gelten. Dass dabei freilich die persönliche Initiative als primum movens galt, versteht sich von selbst. Um das ziemlich breite Panorama sinnvoll skizzieren zu können, muss anfangs die Kanzleienstruktur im böhmischen Königreich des 14. Jh. knapp charakterisiert werden.
Als älteste Einrichtung, die mindestens seit dem frühen 13. Jh. relativ durchgehend (obwohl freilich im mittelalterlichen Sinne des Wortes) funktionierte, galt die königliche Hofkanzlei6. Ihre Struktur und Organisation hat jedoch im 14. Jh. unter westlichem Einfluss neue Impulse bekommen und wurde unter Karl IV. im Rahmen der böhmischen Verhältnisse zur Großbehörde mit umfangreicher Reichs- und böhmischer Agenda. Das heißt, dass in ihrem Personal zur relativ deutlichen Strukturierung und Schichtung der Kompetenzen kam und obwohl keine Kanzleiordnung bekannt ist (und wohl auch kaum schriftlich fixiert existierte), war ihr Arbeitsrhythmus schon ziemlich stabil. Die Zahl gleichzeitig amtierender Notare und Schreiber ist jedoch nicht genau abzuschätzen, da diese Leute verschiedentlich zwischen ihren privaten Angelegenheiten, besonders Pfründen- und Hofverpflichtungen pendelten, obwohl sich dort schon allmählich das laikale Element zu Wort gemeldet hatte. Jedenfalls hat es sich um Dutzende, ja Aberdutzende von Menschen unterschiedlichen Ranges gehandelt. Darüber hinaus existierten, oder aber eben in dieser Zeit am Hof entstanden, verschiedene weitere Nebenkanzleien oder wenigstens Spezialnotariate, wie das der Küche u. a. Mit Ausnahme der Kanzlei des Reichshofgerichtes7 und des Amtes des böhmischen Unterkämmerers waren diese jedoch so gut wie stets nur zum Zweck des inneren (Hof)haushaltes bestimmt.
In Mähren dann nach der Entstehung der ordentlichen luxemburgisch markgräflichen Sekundogenitur um Mitte des 14. Jh. entstand kontinuierlich fungierte markgräfliche Kanzlei8, freilich mit bedeutend kleineren Kompetenzen und dementsprechend bescheidener Urkundenemission als die „Prager“ Hofkanzlei.
Eine spezifische Stellung innerhalb der böhmischen Zentraleinrichtungen besaß das böhmische Landgericht in Prag mit seinen Landtafeln als höchste Standesbehörde des Landes im Bereich der allgemeinen Kompetenzen der freien Tschechen9. In Mähren wurde ins Leben eine analoge Einrichtung berufen, oder besser aus älteren Wurzeln reorganisierte ähnliche Institution, jedoch mit wechselndem Sitz in Brünn und Olmütz10. Beide pflegten um diese Zeit eine wichtige Agende – als Landtafelnführung genannt – schon mit mehreren Buchreihen unterschiedlicher rechtlicher Kraft11. Über die zweifellos fungierte schriftliche Agenda in den Landkreisen wissen wir für diese Zeit nur allzu wenig, um damit ernsthaft arbeiten zu können. Neben dem Landgericht und Landtafeln konstituierte sich im engeren Bereich der Königsherrschaft das böhmische Hofgericht mit Hoftafeln mit eigener umfangreicher Aktivität im Bereich des dominium speciale des Königs12.
Aber an Bedeutung gewannen auch andere zentrale bureaukratische Strukturen. Im kirchlichen Bereich waren die Kanzleien der Diözesanverwaltungen in Olmütz, jedoch besonders in Prag, von großer Bedeutung. Beide mit ziemlich langer Tradition, die doch erst im 14. Jh. aufgrund konsolidierter Pfarrorganisation und auch vertiefter direkter Kontakte mit dem Papsttum zur Entfaltung gelangten. Erstrangig gilt das von Prag, das 1344 zum Erzbistum wurde. Da war besonders die Ära des ersten Erzbischofs Ernst von Pardubitz (1346-1364), des Juristen, der viele Jahre an norditalienischen Universitäten verbrachte und der seiner Kanzlei, oder eher seinen Kanzleien, neue Konzeption und Ordnung gab, von eminenter Bedeutung13. Diese Spitzeninstitutionen der Zeit waren aber nicht die einzigen. Denn man sieht, dass sich auch Kanzleien an unteren Stufen der Regional- bzw. Lokalverwaltung sowohl weltlich als auch kirchlich entfalten begonnen.
Besonders sind jedoch die Städte, vornehmlich die königlichen, und ihre unterschiedliche Kanzleieinrichtungen hervorzuheben. Unter ihnen ragten freilich besonders die Prager Städte hervor, daneben auch die einzige Reichsstadt im Rahmen des Königreichs, nämlich Eger. Sie alle strebten, manchmal eigentlich unbewußt, nach Effektivität. Das heißt, dass die Benutzung verschiedener Hilfsmittel mehr oder weniger unausweichlich erschien. Mit anderen Worten bedeutet das, dass das breite Aufkommen von heimischen Formelbüchern im 14. Jh. an sich nicht lange warten ließ, obwohl das erhaltene Material, besonders an unteren Verwaltungsebenen, relativ, ja absolut spärlich und darüber hinaus sehr verstreut erhalten ist. Jedoch eben deshalb ist diese Problematik so verlockend, wobei sie zugleich imstande ist, manches Wichtige zur tieferen Kenntnis der Zeit beizusteuern.
II. Gang der Forschung
Die Formelbuchstudien bzw. -editionen, die das 14. Jh. betreffen, haben in Böhmen lange Tradition schon ab 18. Jh. Als markanteste Persönlichkeiten dieser Anfänge gelten Franz Martin Pelzel (1734-1801)14 und Franz (František) Palacký (1798-1876), dessen Studien auch in der internationalen Forschung verdientermaßen entsprechendes Echo fanden15. Als Blütezeit der bohemikalen Formelbücherforschung kann man jedoch die letzten Jahrzehnte des 19. Jh. registrieren. Die Hauptverdienste sind mit Recht dem Skriptor der damaligen Prager Universitätsbibliothek (heutige Nationalbibliothek) Ferdinand Tadra (1844-1910) zuzuschreiben16, während Jan B. Novák (1872-1933), der sich den Formelbücherstudien langzeitig widmen wollte. das Thema jedoch relativ bald aufgab17. Aber auch die deutsche Forschung hat dabei mitgespielt. Aus diesem Kreis seien wenigstens Jean Lulvès, Hans Kaiser18 bzw. die Konrad Burdachs Schule (besonders Paul Piur) mit ihren breit angelegten Arbeiten19 genannt.
Man kann freilich das zur Verfügung stehende Formelgutmaterial aus mehreren Aspekten analysieren. Zwei sind jedoch von grundlegender Bedeutung. Erstens kann man in mühsamer Arbeit für diese Zeit die einzelnen Formeln in den zuständigen Urkunden untereinander vergleichen, wobei leicht festgestellt werden kann, dass der individuelle Stil bzw. Diktat besonders in den großen, aber auch mittelgroßen Kanzleien allmählich definitiv verschwindet und durch einen Kanzleistil ersetzt wird. Das braucht nicht einfach so interpretiert werden, dass hier stets offizielle oder aber unoffizielle Unterlagen bzw. Vorlagen zur Verfügung stehen müssten, sondern ist das besonders auch der steigenden Intensität der Emission sowie der damit verbundenen Vereinfachung des Formulars zuzumuten.
Doch ist dieser Weg der „Präparierung“ von Urkunden nur allzu kompliziert und kommt lediglich zu bedingten Ergebnissen. Gewisse Ausnahme stellt z. B. die Pönformel für die Rechtsgeschichte. Denn es konnten auch Vorurkunden im Spiel sein, vornehmlich wohl in Form der Kanzleiregister, welche in die Hofkanzlei schon unter Johann von Luxemburg eingeführt und stets weiterhin geführt wurden, jedoch für die Luxemburger Zeit fast vollständig kaputt gingen. Jedoch auch der „Drill“, den man sich in Notarschulen aneignen wusste, konnte seine Rolle spielen.
Bedeutend ergebnisreicher ist natürlich ein anderer Weg, nämlich das direkte Studium des erhaltenen Formelbüchergutes und dessen Vergleich mit entsprechendem Originalmaterial bzw. anderen Formelbüchern. Da gelten natürlich die konkreten Formelbüchersammlungen bzw. ihre Teile als unmittelbarer Gegenstand des Studiums, da sie öfter zum konkreten Konzeptbeamten oder mindestens zur entsprechenden Kanzlei führen. Jedoch auch das, d. h. ihr Studium, kann nicht völlig den Diktatvergleich meiden, wobei besonders das Arengengut Aufmerksamkeit verdient.
Doch bevor man unmittelbar zum handschriftlichen Material übergeht, ist als gewisse quellenkundliche Ergänzung des sehr lückenhaft erhaltenen Materials auf eine ganz spezifische Quellengruppe hinzuweisen. Es ist die Kategorie der mittelalterlichen Bibliotheksverzeichnisse, die eine wichtige Rolle spielt. Denn eben sie ist imstande wenigstens andeutungsweise zu zeigen, bis inwieweit dieses Material die relativ engen Grenzen des pragmatischen Horizonts sprengen und zur allgemeineren Ausrüstung der mittelalterlichen Intellektuellen auch außerhalb der Kanzleiforschung werden könnte20. Dabei ist darüber hinaus auf die nicht zu unterschätzende Gattung des epistolographischen Gutes bzw. der Dictaminatraktate nicht zu vergessen, die mit dem Formulargut manchmal sehr eng verbunden waren. Das kann jedoch nicht Gegenstand unserer Bemerkungen sein21.
Jedoch zurück zu den Bücherverzeichnissen. Leider ist das böhmische Material dieser Kategorie mehr als bescheiden und vornehmlich sehr einseitig vertreten. Darüber hinaus gilt, dass solche Verzeichnisse lange nicht alle in konkreten Büchern erhaltenen Titel anführen mussten; so betrifft das besonders die Sammelhandschriften, oft mit vielen Werken, die manchmal nur den ersten bzw. wichtigsten Titel des Buches anführen. Dennoch verdienen sie kurze Erwähnung. Es ist nur eine winzige Zahl von Institutionen die Bibliotheken besaßen und zugleich heutzutage noch ihre mittelalterlichen Verzeichnisse, freilich von unterschiedlicher Qualität und Vollständigkeit, besitzen. Sie heißen: das Karlskolleg der Prager Universität, die Kathedralkapitel in Prag und Olmütz und von den klösterlichen Bibliotheken in relativer chronologischer Ordnung die Hohenfurter Zisterze, die Nimburger Dominikaner, die Břevnover Propstei in Braunau, die Benediktinerabtei in Opatowitz, das Prag-Kleinseitner Augustiner-Eremitenkloster beim hl. Thomas, die Augustiner-Chorherren zu Wittingau, die Zisterze in Plass und etliche Privatbibliotheken. Ihre Evidenzhilfsmittel der Zeit vor der hussitischen Revolution (also vor 1420)22 seien kurz aus unserer Sicht vorgestellt:
Als ältestes Verzeichnis gilt das der Hohenfurter Zisterzienserabtei in Südböhmen, das noch aus dem endenden 13. Jh. stammt und deshalb wohl überwiegend noch (und wohl auch nur) die Grundausstattung aus dem oberösterreichischen Wilheringer Mutterkloster evidiert. Wir finden hier etliche nicht näher identifizierbare Epistolare, die jedoch fremder Herkunft sein mussten und kaum konkreten Einfluss übten23.
Die Nimburger Dominikaner genügt es nur zu erwähnen, da ihr bescheidenes Verzeichnis schwer verletzt ist und kaum entziffert werden kann24.
Die ziemlich genauen Verzeichnisse der Prager Kapitelbibliothek (das älteste stammt schon aus dem Jahr 1354), bringen überraschend keine Anhaltspunkte für unsere Fragestellung25, obwohl in den heute erhaltenen Handschriften der Bibliothek verschiedene Texte dieses Charakters aufbewahrt werden, die dort so gut wie sicher zum guten Teil schon im Mittelalter lagen, darunter auch die Sammlung (die sog. Kleine sechsteilige Sammlung) des Petrus von Vinea.26. Ähnliches gilt auch über die Olmützer Verzeichnisse, die ab 1413 bezeugt sind27.
In der universitären Karlskollegbibliothek evidierte man um das Jahr 1370 folgende relevante fremde Titel, die nebeneinander in einem Bibliotheksfach lagen: Ordo nonus: Formularius literarum pape. Petrus de Vineis. Richardus de Pofis, Novus formularius penitenciarie pape und dictamina tribuni, also die des Cola di Rienzo28. Und was noch wichtiger ist: man findet Einfluss der Petrus de Vinea Sammlung nicht nur in den heimischen Formelsammlungen, sondern auch direkt im konkreten Urkundenmaterial der Hofkanzlei. Das berühmteste Beispiel bildet die Gründungsurkunde der Prager Universität, die nur erwähnet sei29.
Es ist interessant, dass die schmale Bibliothek der Brewnower Propstei in Braunau in Ostböhmen 1393 zwei nicht näher identifizierbare lateinische dictamina30 besaß. Schließlich seien noch die Plasser Zisterzienser mit der Summa dictaminum des Thomas von Capua und mit einer anonymen Summa dictaminum erwähnt31.
Im benediktinischen Opatowitz, bei Wittingauer Chorherren, Brewnower Benediktinern sowie bei den Kleinseitner Augustiner-Eremiten, die alle nicht nur relativ umfangreiche Bibliotheken innehatten, sondern auch ihre Verzeichnisse besaßen, finden wir kaum Spur nach Literatur dieser Art. Das deutet wohl an, dass die meisten kirchlichen Institutionen des Regularklerus´ meist – im Unterschied zur Universität und dem Kapitelklerus – kaum Interesse an diesem Gut aufwiesen, da es auch kaum brauchten und sich deshalb darum kaum gekümmert haben.
Ziemlich überraschend finden wir aber Formularbehelfe in den privaten Bibliotheken von Intellektuellen. Bekannt sind von ihnen drei: der älteste, jedoch undeutliche Beleg gar schon aus dem Jahre 1293. Damals wird nämlich im Testament des Rektors der Prager Altstädter Egidienkirche ein Band erwähnt, der solas epistolas enthielt32. Aus dem Besitz des berühmten streitbaren Scholastikers des Prager Domkapitels der zweiten Hälfte des 14. Jh. Adalbert Ranconis de Ericinio († 1388) stammt ein zweiter Beleg. Es handelt sich um Briefe des Petrus von Vinea und Peters von Blois, die Adalbert mit Sicherheit aus Frankreich nach Böhmen (es ist nicht zu entscheiden ob in Avignon bzw. in Paris, wo Adalbert an der Sorbonne im J. 1355 gar Rektor wurde, erworben) mitgebracht hat. Diese Handschrift ist auch durch ihre Geschicke interessant. Adalbert hat das Buch nämlich geliehen und musste es gerichtlich von einem Breslauer Kantor anfordern33. Vielleicht gehört in diesen Zusammenhang auch ein Buch aus der Bibliothek des Prager Generalvikars Adam von Nežetice († 1414), dessen Titel lautet liber diversorum processorum, sentenciarum et contractuum34.
Schließlich sei das Testament des Predigers an der Peterskirche in der Olmützer Vorstadt, einem gewissen Thomas vom J. 1428 (das höchstwahrscheinlich jedoch den Zustand vor dem J. 1420 widerspiegelt) erwähnt. Man spricht von einem Formelbuch aus der Kanzlei Karls IV., d. h. es handelte sich so gut wie sicher um die noch unten zu besprechende Summa cancellariae Caroli IV35.
Das Fazit ist also nicht eben üppig, was aber leicht aus der kargen Überlieferung zu erklären ist. Doch muss man erneut in Kauf nehmen, dass nur ganz winzige Überreste dieser mittelalterlichen Quellengattung erhalten sind, die darüber hinaus bis auf wenige, oben angeführte Ausnahmen, nicht die richtungweisenden Institutionen reflektierten. Anderseits sind diese Verzeichnisse – wieder bis auf Ausnahmen – nicht exakt und ausführlich genug, so dass manches Existierende in ihnen versteckt und unerkannt geblieben sein konnte. Doch sieht man, wie schon oben erwähnt, dass das Interesse an Formelsammlungentexten in kirchlichen Institutionen im Unterschied zu den Personen geistlichen Standes deutlich geringer war als bei den weltlichen.
Die Schicht der Notare, die öffentlichen inbegriffen36, war besonders an dieser Gattung interessiert. So ist vorauszusetzen, dass sich solche Behelfe im privaten Besitz dieser Leute relativ häufig befinden mussten. Wenn man von eventuellen Testamenten absieht, steht jedoch keine Überlieferung dieser Art zur Verfügung. Eine spezifische Stellung aber nimmt ein öffentlicher Notar aus westböhmischem Taus namens Johann Přimda ein, dessen Nachlass die Handschrift I 40-2 der Prager Kapitelbibliothek darstellt, der jedoch noch zum Schluss erwähnt wird.
III. Das erhaltene Formulargut der luxemburgischen Zentralverwaltung
Nun aber endlich zum eigenen, wirklich erhaltenen Formulargut! Die heutige Forschung hat relativ buntes, jedoch oft kaum entsprechend analysiertes, ja manchmal noch kaum geordnetes Material zur Verfügung. Dabei heißt es, dass was die Formelbücher betrifft, fast alle Ebenen von Verwaltungskategorien hier vertreten sind. Zwar manchmal buchstäblich nur symptomatisch, also nicht flächenhaft aber doch. Das Material ist nämlich nicht gleichmäßig verteilt, wobei sich die zur Verfügung stehende Überlieferung, manchmal undurchsichtlich, d. h. aus verschiedenen sozialen Niveaus durchdringt. Die Spuren sowohl der direkten als auch indirekten Vorlagen werden dabei meist völlig verwischt. Im Folgenden soll der vorläufige Versuch gemacht werden, die profilierten Sammlungen hierarchisch - wie oben angedeutet - geordnet, kurz zu charakterisieren.
Schon am Anfang ist zu sagen, dass man bei der Untersuchung einzelner Sammlungen nicht nur zu den diplomatischen, jedoch auch zu den kodikologischen Methoden greifen muss. Man arbeitet nämlich so gut wie kaum mit dem originalen Kanzleimaterial, sondern – bis auf Ausnahmen, die man eher vermutet als feststellt – mit der sekundären und jüngeren Überlieferung, die meist privaten Charakters ist. Die Provenienzen festzustellen wäre sehr wichtig, doch sind sie meist unrekonstruierbar37.
Zuerst zur luxemburgischen Hofkanzlei und zu den ihr nahen Hofeinrichtungen, die unter Karl und Wenzel (bis 1400, nachher griff er nur ganz selten in die Reichskompetenzen ein) auch Reichskompetenzen ausgeübt haben. Aus diesen allen drei nacheinander funktionierenden Kanzleien (Johanns von Luxemburg 1310-1346, Karls IV. 1346-1378, und Wenzels IV. 1378-1419) ist Formelbuchmaterial vorhanden. Dieses ist heutzutage freilich von unterschiedlicher Überlieferungsdichte, Bedeutung und Umfang greifbar. In Regierungszeit und Milieu des ersten böhmischen Luxemburgers ist ein Formelbuch erst relativ spät belegt. Ob das irgendwie mit der Konsolidierung des Kanzleiwesens Johanns unter dem Einfluss des jungen und dynamischen mährischen Markgrafen Karl (1330-1346), des späteren Karls IV., geschah, ist nicht zu entscheiden. Es handelt sich um den anonymen sog. Codex epistolaris Johannis regis. Er wurde ziemlich früh ediert38 und steht deshalb der heutigen Forschung leider nur in seiner ganz veralteten und wohl nicht ganz vollständigen Edition des codex unicus zur Verfügung, da die Handschrift, ursprünglich im Staatsarchiv Breslau, mindestens seit 1919 als verschollen gilt. Aus der Jacobis knappen Beschreibung geht jedoch hervor, dass es sich um ein Heft handelte, das nur diese Sammlung, die einer anonymen Hand zugeschrieben wird, enthält. Deshalb ist wohl anzunehmen, dass die Sammlung der königlichen Kanzlei nahe stehen konnte, obwohl sie nicht direkt als ein kanzleiinternes Heft gelten musste. Denn fast alle übrigen Formelbücher (jedoch mit Ausnahme der gleich zu besprechenden Summa Gerhardi und Gelnhausens Collectarius) befinden sich in literarischen Sammelhandschriften, in denen andere Formelsammlungen oder aber theologische bzw. sonst andere literarische Texte überwiegen, was heißt, dass ihre Abschriften eindeutig als „kanzleifern“ bezeichnet werden können.
Der Codex epistolaris enthält (nach Jacobis Information) insgesamt 226 Formeln, fast ausschließlich Briefe (202 Stück) in unterschiedlicher Vollständigkeit, jedoch bis auf Ausnahmen ohne Datierungen. Ihr Haupttenor waren die Finanzsachen, zwar meist, jedoch lange nicht allgemein, mit dem Königshof verbunden. Das heißt, dass dort auch viele Briefe vorkommen, die mit dem höfischen Umkreis in keinem Zusammenhang stehen, so dass nicht nur die Empfänger, sondern auch Aussteller reichlich variieren39. Das Material ist also sowohl provenienz- und pertinenzmäßig als auch inhaltlich sehr mannigfaltig, so dass jeder Versuch um dessen eindeutige Zuschreibung scheitern muss.
Damit hängt auch die weitere Beobachtung zusammen, nämlich welche Vorlagen zur Verfügung standen, bzw. stehen konnten. Sowohl Reinschriften (Kanzleieingang) als auch Konzepte (Kanzleiauslauf) sind hier vorauszusetzen, jedoch manchmal nicht genauer fassbar. Die Texte wurden manchmal zu bloßen Formeln, doch führen sie von Zeit zu Zeit auch Konkreta an, jedoch ohne Datierungen. So kann man mit gewisser Wahrscheinlichkeit voraussetzen, dass es sich um einen Arbeitsbehelf handelte, das sich ein Kanzleibeamte, ob des Herrschers um 1345 oder städtisch um dieselbe Zeit besorgte. Ob event. für spätere Schulzwecke zur Ausbildung der Notare aus dem Material ihm nahen Kanzleien, bleibt freilich offen.
Inhaltlich und formell steht dem Formelbuch Johanns die sog. Summa Gerhardi nahe, die ebenfalls aus den 40er Jahren des 14. Jhs. herrührt. Ihr Autor ist zwar dem Namen nach bekannt, doch ist er nicht näher einreihbar. Wir kennen nämlich keine Person der Zeit, die mit diesem Namen identifiziert werden könnte, obwohl es sich wahrscheinlich um einen der sonst anonymen unteren Beamten der Hofkanzlei, oder eher des Unterkämmereramtes gehandelt haben kann40. Jedoch auch hier befindet sich Verschiedenes was mit dem Umkreis des königlichen Hofes, ähnlich wie es im vorgehenden Formelbuch der Fall war, nichts gemeinsam hat. Deshalb ist auch hier nicht näher charakterisierbare Liaison mit dem Milieu der Prager Altstadt vorauszusetzen. Da die Schrift als zeitgenössisch gilt, kann sich wohl ebenfalls um originales Behelf handeln. Man kann sagen, dass sich hier die Situation des Codex epistolaris Johannis regis wiederholt.
Da dem Autor der Summa nicht nur das Hof-, sondern auch pragstädtisches Material direkt zur Verfügung stand, bedeutet das, dass auch im städtisch Prager Milieu direkt gewisse Unterlagen gesammelt wurden. Ob in Gestalt eines bescheidenen Formelbuches das Gerhard mit dem hofnahen Schrifttum zur neuen Einheit kompilierte oder in einer anderen Weise, steht dahin41. Wie eng der Gerhards Draht zur Kanzlei der Prager Altstadt war, ist nur zu vermuten. Dem Zweck nach stand diese Sammlung wohl dem des Codex epistolaris Johannis regis nahe und ist als Erzeugnis für privaten Nutzen des Inhabers zu betrachten. Und noch eine Nähe zum Breslauer verlorenen Kodex ist zu beobachten. Dort fast stets Briefe, hier fast ausschließlich Urkunden, in beiden Fällen stets lateinisch verfasst, obwohl um diese Zeit sich schon die deutsche Urkundensprache in böhmischen Kanzleien durchsetzen begann42. Beide Sammlungen schöpften eindeutig aus dem wirklich ausgestellten Material. Es beweisen zwar nur vereinzelte, jedoch überzeugende Belege der Originalüberlieferung, die nachgespürt werden können.
Eine wahre Explosion von Formelbüchern im Umkreis des Hofes bzw. eher von Handschriften der Summa cancellariae, die auch Summa cancellarii oder aber Cancellaria Caroli IV. bezeichnet wird, kann man in der oder um die Kanzlei Karls IV. registrieren43. Mehr als zwanzig Texthandschriften sind erhalten. Deshalb lohnt es sich diese Tatsache aus kodikologischer Sicht näher zu charakterisieren. Mehrere von diesen Handschriften stammen noch aus dem 14. Jahrhundert, jedoch stets aus der Zeit nach 1378 bzw. 1380 (Sterbejahr des Johann von Neumarkt, des Bischofs von Olmütz, der in der Funktion des Kanzleileiters und vornehmen Beraters des Kaisers funktionierte und der manchmal als „erster Protohumanist“ und am Hof als spiritus movens galt44). Inhaltlich handelt es sich um die amtliche Hofkanzleikorrespondenz, die sich freilich mit Johanns privatem Briefverkehr, jedoch zum Teil auch mit der Olmütz-bischöflichen Verwaltungsaktivität durchdringt 45.
Die Handschriftenreihe des 14,-15. Jahrhunderts, ja teilweise auch die aus der noch jüngeren Zeit der Texte der Summa spricht davon, dass das Werk lange Zeit als Inspiration beliebt war. Textlich heißt das, dass die Überlieferung dem Umfang nach variierte, ja stets irgendwie variieren musste, so dass weder das Stemma noch Redaktionen der Sammlung eindeutig rekonstruiert werden können. Bemerkenswert ist zugleich, dass die Handschriften in mehreren Bibliotheken sowohl des In- als auch Auslandes verstreut sind46. Und wie es scheint, handelt es sich dabei, mindestens mehrheitlich, um schon alte Provenienzen, die nicht nur in Mitteleuropa auftauchen, sondern schon im Mittelalter direkt auch z. B. in Schweden belegt sind47.
Das eben nur knapp Gesagte48 kann wohl folgendermaßen zusammengefasst werden: 1) die Sammlung hat sich lange Zeit großem Ansehen und breiter Verwendung als praktisches Hilfsmittel „Mitteleuropaweit“ erfreut. Die meisten bekannten Erstbesitzer der Sammlung waren Privatleute, so dass wirklich eine große und lange Wirkung vorauszusetzen ist und ihre Ausstrahlung weit über die Grenzen des Königreichs Böhmen anzunehmen ist. Konkretes ist freilich nur zu vermuten. 2) Sehr oft taucht diese Sammlung in enger Nachbarschaft mit anderen hochgeschätzten italienischen Sammlungen des 13. Jahrhunderts (Petrus de Vinea, Richard de Pofis), was zu vermuten erlaubt, dass es sich einerseits wirklich um praktisches und beliebtes, anderseits um theoretisches Hilfsmittel gehandelt hat.
Weitere Sammlung bzw. ihre zwei Redaktionen sind mit der eben besprochenen Summa kaum zu vergleichen, da sie nach heutiger Kenntnis keine nennenswerte Verbreitung erlebten. Es ist das das Werk des ehemaligen Registrators der Hofkanzlei Karls und nachher Stadtnotars Johann von Gelnhausen, der zum Ahasver der böhmisch-mährischen Kanzleien der zweiten Hälfte des 14. und Anfangs des 15. Jahrhunderts wurde. Das Werk ist unter dem Titel Collectarius perpetuarum formarum49 bekannt. Es gilt als Produkt der späten Privatinitiative des Autors, als er längst die Hofkanzlei Karls IV. verlassen hat. Es scheint, dass man dessen Itinerar wie folgt rekonstruieren kann: 1374 folgte er Johann von Neumarkt nach seinen Bischofssitz Olmütz als sein Kanzleibeamte und im gewissen Sinne auch Vertrauensmann. Doch kurz vor dem Tode des Bischofs siedelte er, schon unter der Schirmherrschaft des mährischen Markgrafen Jodok (1351/1375-1411) als Stadtnotar nach Brünn um. Seine Brünner Jahre dauerten bis irgendwann um oder kurz nach 1390. Dann wechselte er endgültig nach Iglau, wo er als Stadtnotar spätestens ab Anfang 1397 bezeugt ist. Seine Spur erlöscht dann dort im J. 140750.
Der Collectarius schöpft aus dem Schriftgut der Hofkanzlei Karls. Seine Genesis ist kompliziert und kaum zu entschlüsseln. Das Material, das den Registern Karls entnommen wurde, musste vor 1374 angesammelt worden sein. Ob schon damals ein formularartiges Hilfsmittel entstand, ist kaum zu beantworten, da mit Ausnahme der nicht ganz eindeutigen Formulierung in der Vorrede des Collectarius 51, sind dafür keine solche Indizien vorhanden. Die heute erhaltene Fassung entstand also vornehmlich aufgrund Gelnhausens eigener Unterlagen aus der Zeit seiner Registratorenstelle in der Hofkanzlei52, jedoch erst während seiner Brünner Tätigkeit, also irgendwann nach 1379. Stillschweigend wurden jedoch auch verschiedene Texte der Summa cancellariae benutzt, die ihm zur Verfügung stehen musste, was jedoch wegen seiner engen Kontakte mit dem Bischof gar vorausgesetzt werden muss53, ganz abgesehen davon, dass die Summa in der Kanzlei Karls, die als offizielles Hilfsmittel sicher frei zur Verfügung stehen musste.
Die erste Redaktion des Collectarius wurde dem mährischen Markgrafen Jodok (1375-1411) dediziert, die zweite dann dem österreichischen Herzog Albrecht III. (1348/1365-1395). Welche Gründe haben dazu Johann von Gelnhausen geführt , weiß man nicht. Doch ist die enge Freundschaft Jodoks mit Albrecht allzu gut bekannt, so dass die Vermittlungsrolle Jodoks nicht ausgeschlossen ist, ja sich direkt anbietet54. Der Hauptunterschied zwischen beiden Fassungen besteht darin, dass die ältere mährische Fassung einen theoretischen epistolographischen Anhang besitzt, der ausdrücklich an die tabule magistri Laurentii de composicione litterarum und practice tabule sive ferculum Romanorum ex conswetudine 55 fußt. Der Hinweis an Magister Lorenz ist zwar ganz allgemein formuliert, doch muβ es sich so gut wie sicher um Laurentius von Aquile(g)ia (Cividale dei Friuli) handeln, der mehrere Werke über die Briefkunst am Ende des 13. Jh. verfasst hat, dessen Gegenwart zwar in Böhmen im heute bekannten Material nicht belegt ist, jedoch aufgrund dieser Information als damals vorhanden gelten muss56. Diese Konstatierung macht uns darauf aufmerksam, dass Schlüsse ex silentio stets mit Zurückhaltung zu nehmen sind.
Trotz generationenlangem Interesse am Thema Formelbücher der Hofkanzlei Karls IV. wurde längst kaum letztes Wort gesagt. So kann hier nur illustrativ die Handschrift der Leipziger Universitätsbibliothek Nr. 1249 erwähnt werden, die ein noch nicht einreihbares Formelbuch Karls IV. Texte bringt57.
Über Karls Nachfolger Wenzel kann man sagen, eher vermuten, dass unter ihm die Unterlagen aus der Zeit seines Vater benutzt und mehrere ihre Texte in die damals aktuellen Behelfe übernommen wurden.58 Das war umso eher möglich, da seine Kanzlei fließend die Beamten der Vaters Verwaltung übernommen hat um sich erst im Laufe der Zeit zu profilieren. Die selbständigen Sammlungen aus Wenzels Zeit fanden also kein breiteres Echo59, vielleicht spielte hier auch die Ungunst der Zeit mit, da Wenzels Erbe – Sigismund – seine Kanzlei nicht zügig (mit Ausnahme von Registern) sondern nur etliche Beamte übernommen hat. Doch auch damals handelte sich noch ausschließlich um lateinische Texte, obwohl sonst die deutsche Sprache im ausgelieferten Material vorherrschend war.
Wenn man zum zentralen Amt des Königreichs Böhmen übergeht, so ist das zuständige Material des Landtafelamtes zwar vorauszusetzen, doch findet man eher zufällig nur verstreute bescheidene Textgruppen, da die ganze Registratur im J. 1541 während der verheerenden Feuerbrunst der Prager Burg zugrunde ging. So z. B. die tief in das späte 13. Jahrhundert reichenden lateinischen sog. Klageformeln, die durchgehend benutzt wurden und formelartige Unterlagen haben mussten60, was auch über die am Landgericht behandelten Rechtstitel vorauszusetzen ist. Ein wenig deutlicher sehen wir erst in der zweiten Hälfte des 14. Jh. dank einer Handschrift des 15. Jh. (man kann nämlich das diesbezügliche Material rückprojizieren), die spätestens seit dem17. Jh. der südböhmischen Zisterzienserabtei Goldenkron angehört hat (und jetzt in der Prager Nationalbibliothek aufbewahrt wird). Man findet dort nämlich die Formae litterarum apud tabulas confici solitarum, Formae querelarum oder Formae literarum judicialium, die am Landgericht obligatorisch waren. Sie wurden schon zum guten Teil auch tschechisch konzipiert, während das ganze bisher besprochene Material stets lateinisch verfasst ist61. Ob die Spärlichkeit der Quellen Folge der Katastrophe der Prager Burg im J. 1541 ist, oder deshalb, dass die Einträge relativ stereotyp und die Formularunterlagen nicht zwingend nötig waren, ist zwar schwer zu entscheiden, doch neige ich eher zur ersten Möglichkeit.
IV. Geistliche Institutionen
Es ist aber zu anderen schreiblustigen Rechtsebenen zu übergehen. Zuerst zu der zweitältesten, nämlich kirchlichen. In diesem Bereich gehört die vorrangige Stellung den Kanzleien der Prager Bischöfe. Man sieht, dass hier die přemyslidische Tradition62 eine würdige Fortsetzung bekam. Zuerst ist die Adaptation der Formelsammlung des Prager Bischofs Thobias von Bechin (1279-1296) in der Kanzlei des Bischofs Johann IV. (es handelte sich um Johann IV. von Dražice, 1301-1343) anzuführen. Eine Handschrift der Thobias´ Sammlung (die natürlich ältere Wurzeln hat), wurde in der Weise adaptiert, dass die Initiale Th(obias) mit J(ohannes) ersetzt wurde, ohne sonst etwas zu ändern. Die institutionelle Kontinuität ist hier auf der Hand63.
Johanns Nachfolger Ernst von Pardubitz aber knüpfte an diese Tradition nicht an, da sie schon nicht mehr den neuen Verhältnissen entsprach. Die neuen Verhältnisse (Erhöhung Prags im J. 1344 zum Erzbistum und damit zusammenhängende Reorganisation der Diözesanverwaltung sowie vertiefte Fäden zum Papsttum) waren anspruchsvoller als vorher. Mit anderen Worten heißt das, dass man damals auch zu moderneren und komplexeren Hilfsmitteln greifen musste und auch gegriffen hat. Deshalb entstand die sog. Cancellaria Arnesti, die ein exemplarisches und systematisches Kanzleihilfsmittel darstellt64. Das heißt, dass die Sammlung strikt und systematisch in einzelne kirchenrechtliche Verfügungen gegliedert wurde, wobei stets mehrere Varianten konkreter Formulierungen mit gleichem Rechtsinhalt angeboten wurden, oft gar mit konkreten Namensnennungen. jedoch stets ohne welcherlei Datierungsangaben. Wenn sich in ziemlich wenigen Einzelfällen doch um Texte fremder Aussteller handelte, ist es stets die Prager Diözesanzentrale, die irgendwie inhaltlich involviert worden war.
Es überrascht jedoch, dass diese Sammlung nur in einem einzigen Exemplar erhalten ist, obwohl aus der (höchst wahrscheinlichen) Nichtexistenz der Formelsammlungen Ernsts Nachfolger deutlich hervorgeht, dass die Cancellaria Arnesti auch seinen Nachfolgern gute Dienste leisten konnte. Die Handschrift gilt als zeitgenössisch, spätestens aus der Zeit der unmittelbaren Ernsts Nachfolger (am Rücken die Jahreszahl 1386), so dass man annehmen kann, dass es sich wohl um ein Kanzleibehelf im wahren Sinne des Wortes handelte65. Selbständige Formelbücher Ernsts Nachfolger sind nicht zu eruieren, waren aber wohl kaum nötig. Das Epistolar Johanns von Jenstein ist privates Gut des zweiten Nachfolgers von Ernst und gehört nicht in diesen Zusammenhang66.
Aber auch bei anderen gerichtlichen Stellen der kirchlichen Verwaltung findet man verschiedene Bruchstücke der damals existierenden Hilfsmittel. Es sei nur auf das Fragment des Formulars des Prager bischöflichen Offizialats der Zeit Johanns IV. von Draschitz (+1343) hingewiesen67. Dabei ist ein bisschen überraschend, dass man auch Existenz von Formelsammlungen der Ordensgeistlichkeit nicht nur voraussetzen, sondern auch beweisen kann. Als pars pro toto genüge nur der Hinweis auf ein wohl ziemlich unbedeutendes südmährisches Minoritenkloster in Znaim, das entdeckt und identifiziert wurde68.
V. Städte, Adel und öffentliches Notariat
Auch beide noch übrig gebliebene Sozialschichten spielten mit. Es sind die Städte bzw. ihre Kanzleien, die im Laufe eben des 14. Jh. eine stürmische Entfaltung erlebten und die des Adels. denen noch das öffentliche Notariat zugezählt werden muss. Während im Bereich des Adels eigentlich nur die Rosenberger, die das wichtigste Adelsgeschlecht im Lande waren, mit gewisser Zurückhaltung, zu erwähnen sind69, wissen wir über die städtischen Kanzleien besser Bescheid, obwohl auch hier das Meiste unabwendbar verloren gegangen ist.
Vier Städte seien vorgestellt. Am frühesten, nämlich schon in der ersten Hälfte des 14. Jh., finden wir – ein wenig überraschend – ein Formelbuch im oberschlesischen Troppau „im Betrieb“. Es beinhaltet mehr als 500 Formeln, die sich in fast dreißig Gruppen gliedern70. Der Stoff ist in der Sammlung sehr konzise geordnet, wobei die Stadt stets als Aussteller vorkommt71, der Empfängerkreis jedoch sehr breit konzipiert ist. Von innerstädtischer Korrespondenz bis zu den Texten an geistliche sowie weltliche gesellschaftliche Spitzen europaweit. Da das konkrete urkundliche Material aber mehr als spärlich ist, sind nähere Forschungen in dieser Richtung kaum möglich.
Besonders wichtig – da mit dem Namen des berühmten humanistischen Dichters Johann von Saaz (auch von Tepl bzw. Schüttwa) und städtischen Notars eng verknüpft – sind zwei Saazer Formelsammlungen aus dem Ende des 14. Jh., die hier nur zu erwähnen sind. Obwohl längst bekannt und knapp beschrieben, doch harren sie immer einer tieferen Bearbeitung, die jedoch reichhaltigen Gewinn verspricht72.
Es wäre überraschend, wenn das Haupt der Böhmischen Krone, die Prager Altstadt, hier nichts beisteuern könnte. Und wirklich. Man besitzt eine ziemlich breit angelegte Sammlung aus der Zeit um 140073, die zu dem privat-, weniger öffentlichrechtlichen Bereich der Stadt auch verschiedene stadtfremde, heute kaum im Prager Zusammenhang erklärbare Einzelheiten aufweist. Einerseits handelt es sich um 79 Formeln, die schwankend bloße Formeln sind, verschiedentlich jedoch Namen bzw. Daten aufweisen, die aber nie konkrete Vorlage zu rekonstruieren erlauben. Dieses großenteils ungeordnete Material bringt auch stadtfremdes Gut. Darüber, dass es im praktischen Kanzleigebrauch war, zeugt das der Sammlung vorangestellte Register. Aber es existierte dort noch ein anderer Teil, von dem nur Titeleien von 65 paarweisen Texten erhalten sind. Im ersten ist stets die an den Rat adressierte Anfrage, der zweite dann bietet diesbezügliche Antwort an74.
Obwohl sich die Handschrift in der Bibliothek der südböhmischen Zisterzienserabtei Hohenfurt befindet, scheint es, dass die Vorlage irgendwie direkt aus der altstädtischen Kanzlei stammt. Auf welchem Wege jedoch diese Sammlung in die erhaltene Sammelhandschrift eingegangen ist, weiß man nicht. Die Handschrift gilt als zeitgenössisch – es handelt sich um die Zeit um 1400 oder kurz nachher – und enthält ein wenig überraschend einleitend die Lebensgeschichte der Jungfrau Maria. Bis zum gewissen Grad gehört in diesen Zusammenhang auch die Formelsammlung heute im Staatsarchiv in Wittingau75, die neben Formeln der Prager Neustadt auch Material aus anderen Bereichen beinhaltet, wohl auch bloße dictamina. Übrigens liegt manches aus dem städtischen Bereich sicher noch in verschiedenen Stadtbüchern, jedoch auch anderswo, verborgen.
Nur bis zum gewissen Grad gehört hierher die berühmte und historisch wichtige schon oben erwähnte sog. Přimda-Handschrift der Prager Kapitelbibliothek76. Ihr Autor war ein in Taus fungierender öffentlicher Notar und wohl auch Stadtschreiber, der sich nicht nur eine aktuelle Formelsammlung (Formularius... in quo continentur diverse cancellarie), sondern auch eine ältere italienische Sammlung besorgte, nämlich die des Johann von Bologna. Doch gilt es als Ironie, dass sie zwar verschiedentlich und oft benutzt wurde und wird, jedoch noch nicht systematisch erforscht wurde.
Eine äußerst wichtige Rolle im öffentlichen Rechtsverfahren spielte auch die Institution des öffentlichen Notariats, das eben in dem luxemburgischen 14. Jahrhundert einen stürmischen Aufstieg erlebte und so gut wie in allen Rechtsebenen tätig (freilich mit unterschiedlicher Intensität) war. Formelbücher sind dort „tägliches Brot“ gewesen77.
In dieser knappen Übersicht konnten zwar alle Bereiche des öffentlichen Lebens präsentiert werden, in denen die Nutzung des Formelgutes bezeugt ist, doch existiert noch eine Menge von weniger ausgeprägten und informellen Formelsammlungen bzw. Gruppen von Formeln, die noch nicht genauer erforscht wurden und deshalb deren konkrete Zuweisung noch nicht möglich ist. Das muss als Aufgabe künftiger Forschung gelten. Auch was die Konkretisierung der Datierungen bzw. Nennungen von Personen und anderen Namen in den einzelnen Belegen betrifft, ist die Skala umfassend. Von bloßen Formeln bis zur fast vollen textuellen „Ausrüstung“.
Über die Existenz des fremden, vornehmlich italienischen Formelbüchergut im böhmischen Besitz der luxemburgischen Zeit weiß man vorläufig nur rahmenweise Bescheid. Bis auf die oben erwähnten Ausnahmen wird diese Existenz zwar registriert, aber die konkrete praktische Einflussnahme auf das heimische diplomatische Gut wird kaum erforscht. Auch ist nicht zu vergessen, dass sich manche Sammlungen ganz selbstverständlich innerhalb des literarischen Gutes befinden, was von ihrer sekundären Funktion zeugt.
Zusammenfassung
Zusammenfassend ist also zu sagen, dass das 14. und erste zwei Jahrzehnte des 15. Jh. im luxemburgischen Böhmen als sui generis „goldenes Jahrhundert“ der Verbreitung von Formelsammlungen zu bezeichnen ist. Dazu ist noch zu sagen, dass bei der Musterung dieses Gutes nur spärlich theoretische Anweisungen antrifft. Dagegen sind diese Sammlungen nicht selten von verschiedenen Verzeichnissen von Adressen begleitet worden, was wohl heißt, dass dazu die einfache Kanzleipraxis geführt hat.
Dass Verschiedenes noch in Form von kleinen Textgruppen bzw. auch als Einzelheiten an oft kaum denkbaren Stellen im kodikologischen Material verstreut zu finden ist, versteht sich von selbst. Es heißt also: wir sind hier noch lange nicht am Ende der Forschung, eben umgekehrt. Bestenfalls in ihrer Mitte. Denn es handelt sich um einen Langlauf mit mehreren, meist kaum zu erwartenden Hindernissen, wie darauf eingangs hingewiesen wurde. Es ist aber auch zu hoffen, dass man in dieser Quellengattung noch neue Informationen findet. Sowohl zur allgemeinen Geschichte, jedoch auch über die Schriftkultur als solche.
Ganz zum Schluss soll auf eine numismatisch-historische Studie aufmerksam gemacht werden, die durch Interpretation und Kombination verschiedener Formelbücher bzw. ihrer Formeln versucht zu relevanten historischen Schlüssen zu kommen. Das ist jedoch nur ein kleines Beispiel78. Gründliche Forschungen und Ergebnisse sind noch zu erwarten.