[p. 61] Einflüsse der Papsturkunde im Urkundenwesen der Patriarchen von Aquileia
Eine Darstellung der Einflüsse der Papsturkunde im Urkundenwesen der Patriarchen von Aquileia bedarf, jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt, nicht vieler Druckseiten. Denn sehr vieles von dem, was Othmar Hageneder auf dem Innsbrucker Diplomatikerkongreß von 1993 über den Einfluß des päpstlichen auf das bischöfliche Urkundenwesen allgemein gesagt hat, trifft auch für das Patriarchat Aquileia zu.1
Andererseits bietet das Aquileier Material Lösungsansätze oder jedenfalls bedenkenswerte Hinweise zu einigen Problemen allgemeiner Natur: zum Einfluß päpstlicher Muster als Fälschungskriterium, zu den Transporteuren päpstlicher Einflüsse, über den gezielten Einsatz päpstlicher Modelle, über die Rolle der einzelnen Schreiber, über den möglichen Zusammenhang von Veränderungen im Urkundenwesen einerseits mit politischen Kehrtwendungen andererseits und schließlich über das päpstliche Vorbild in der Organisation der schriftlichen Verwaltung überhaupt. Im folgenden sollen daher vor allem diese Punkte zur Sprache kommen.
Daß sich der vorliegende Beitrag auf die Zeit bis 1250 beschränkt, hat seine prosaische Ursache zunächst in der Materialgrundlage des Verfassers.2 Diese Abgrenzung läßt sich jedoch auch sachlich als gerechtfertigt betrachten, nämlich wegen des für das fortgeschrittene 13. Jahrhundert schon mehrfach konstatierten allgemeinen Zurücktretens des päpstlichen Einflusses auf das bischöfliche Urkundenwesen allgemein.
Generell gilt, daß – nach ersten Ansätzen im späten 10. Jahrhundert – in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts infolge der Steigerung der päpstlichen [p. 62] Autorität die zunehmend nach festen Richtlinien gestaltete Papsturkunde auch für bischöfliche Urkunden in fühlbarer Weise als Modell gedient hat. Zäsuren im Umfeld des Nachahmers sollten hierbei in besonderem Maß Gelegenheit für die Aufnahme päpstlicher Muster geben. Am intensivsten ist der Einfluß päpstlicher Errungenschaften in der zweiten Hälfte des 12. und noch im frühen 13. Jahrhundert; um 1250 ist der Höhepunkt, wie schon gesagt, überschritten.
Mit Ausnahme der Vorläufer im 11. Jahrhundert gilt all dies auch für die Urkunden der Patriarchen von Aquileia. Wenn aber allgemein festgehalten worden ist, daß die Übernahme von Elementen der Papsturkunde – jedenfalls, was die äußeren Merkmale betrifft – vornehmlich in den Beurkundungsstellen der Metropoliten wirksam zu werden pflegte, um von dort an die Suffraganbistümer weitergegeben zu werden, so ist das im Patriarchat Aquileia ganz gewiß nicht der Fall. Der Verfasser dieser Zeilen hatte bereits Gelegenheit zu zeigen, daß aus einem ganzen Bündel von Gründen die Patriarchen von Aquileia in keiner Weise eine führende Rolle im Urkundenwesen ihrer Kirchenprovinz wahrgenommen haben: Die Urkunden der Metropoliten waren weder nach der Autorität, noch nach ihrer formalen oder inhaltlichen Reife, noch nach der Dichte der bei den Suffragan-Bischofssitzen verfügbaren Urkunden in der Lage, für die Suffraganbischöfe ein imitierenswertes Vorbild abzugeben. Bisweilen war das Verhältnis geradezu umgekehrt.3
Die hochmittelalterlichen Patriarchen gehörten zu den „Importeuren“ nördlicher Beurkundungssitten in eine von der Notariatsurkunde beherrschte Umgebung; sie haben sich ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in zunehmendem Maße auch selbst der Notariatsurkunde (und damit meist des Notariatsinstruments) bedient, insbesondere in weltlichen Angelegenheiten und da ganz besonders in solchen von geringerer Bedeutung.4 Nicht nur der Metropolitansprengel, sondern auch die eigene Diözese der Patriarchen war kulturell zweigeteilt: sie gehörte nur zum Teil zum regnum Italicum; zum anderen Teil gehörte sie zum regnum Teutonicum und damit zum unbestrittenen Herrschaftsgebiet der Siegelurkunde. Das Urkundenwesen der Patriarchen mußte auf die unterschiedlichen Bedürfnisse in den verschiedenen Bereichen Rücksicht nehmen und wurde [p. 63] dadurch in der Entwicklung einer eigenen Ausprägung von Urkundenwesen entscheidend gehemmt. Diese Erscheinungen koinzidieren zum Teil mit der Praxis der Reiseherrschaft und mit den damit verbundenen Herstellungen durch Empfänger und dritte Hände. Nur in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts hat es einigermaßen kontinuierlich arbeitende „Urkundsbeamte“ der Patriarchen gegeben, die auch in ihren Erzeugnissen ein gewisses Streben nach Regelmäßigkeit erkennen lassen. Aber nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Patriarchenurkunden ist auch tatsächlich von diesen Personen ausgefertigt worden.
Allgemein gilt, daß der Einfluß des päpstlichen auf das bischöfliche Urkundenwesen keineswegs gleichmäßig-konsequent, sondern durchaus sprunghaft gewesen ist, zufällig und punktuell. Mit besonderem Bezug auf das Patriarchat Aquileia, darf man hinzufügen: Wo das bischöfliche Urkundenwesen selbst keine kontinuierliche Linie zeigt und keine eigenen Traditionen entwickelt, dort ist auch eine konsequente Aufnahme oder Weiterführung fremder Vorbilder schon deshalb nicht zu erwarten. Auch hier gilt wie sonst, daß das eine Mal eine Urkunde zur Gänze dem päpstlichen Vorbild nachgestaltet wird, dann wieder nur einzelne ihrer Charakteristika. Wenn die Papsturkunde weder quantitativ noch qualitativ einen auch nur annähernd gleichmäßigen oder gar gleichmäßig zunehmenden Einfluß ausüben konnte, so lag das sicher in erster Linie beim Rezipienten. Gerade dadurch ist es aber möglich zu sehen, in wie grundverschiedener Weise das päpstliche Urkundenwesen vorbildhaft zu wirken vermochte – in jeweils anderen historischen Momenten.
Von den Urkunden der Patriarchen ist ein bedeutender Teil für die hier verfolgte Thematik von vornherein unergiebig, nämlich die bereits angesprochenen Notariatsinstrumente. Jene Schriftstücke, welche ihrer Zwecksetzung nach mit päpstlichen litterae verglichen werden können, sind gering an Zahl und stehen den päpstlichen Gegenstücken durchaus fern. Vieles von dem, was der Papst seinen litterae anvertrauen mußte, konnte der Patriarch offenbar in seinem Bereich noch persönlich erledigen. Dankbare Studienobjekte sind lediglich jene Urkunden, die dem Typ der Siegelurkunde zuzurechnen sind, insbesondere jene, die eine gewisse Feierlichkeit aufweisen.
Besehen wir zunächst die äußeren Merkmale.5 Das Vorkommen von Datierung und Schreiber-Unterfertigung in einer eigenen, abgesetzten Zeile [p. 64] und gänzliche Füllung der ersten Zeile mit verlängerter Schrift wird man vielleicht noch nicht für besonders charakteristisch halten. Ersteres ist 1139 und dann erst wieder ab 1161 der Fall, letzteres ebenfalls 1139 und dann ab der Jahrhundertmitte regelmäßig. Ungleich charakteristischer ist die markante Verlängerung einzelner Schäfte über das in der Elongata-Zeile ansonsten eingehaltene Zweilinienschema hinaus. Dieses Merkmal findet sich in Patriarchenurkunden 1139, 1140, 1175 und dann nach 1179 zweimal in den achtziger Jahren. Die ersten dieser drei Urkunden haben sich nun – aus anderen Gründen – als Fälschungen erwiesen, und damit erklärt sich zugleich die eben vorgeführte anderweitige Vorreiterrolle der Urkunde von 1139.
Käme es nur auf die vorgeführten Kriterien an, so ließe sich als Ergebnis formulieren: Merkmale der Papsturkunde erscheinen bei den Patriarchen von Aquileia in wenig kennzeichnender Weise ab der Mitte des 12. Jahrhunderts, deutlich seit den achtziger Jahren desselben Jahrhunderts; die eindeutige Berücksichtigung päpstlicher Muster in Urkunden vor der Jahrhundertmitte ist ein Indiz für Unechtheit. Es wird noch zu sehen sein, daß die Papsturkunde überhaupt bei Fälschern in höherem Maß Nachahmung gefunden hat als bei den Schreibern echter Urkunden.
Dieser Befund läßt sich auf Schritt und Tritt anhand weiterer Kriterien erhärten: anhand von charakteristischen Worttrennern6 und der gelegentlich weit auseinandergezogenen st- und ct-Verbindungen7 wie des zur besseren Zeilenfüllung flach gestreckten s, ferner anhand des monogrammatisch ausgestalteten in perpetuum und der betonten Majuskeln am Beginn der einzelnen Kontextabschnitte. Alles das findet sich mit besonderer Vorliebe in den angesprochenen Fälschungen bis in die siebziger Jahre des 12. Jahrhunderts. Wirklich eindeutige und fühlbare Übernahmen aus der Papsturkunde setzen erst 1179 ein.
Die einzige Ausnahme ist die zu einem Radkreuz vereinfachte Rota, welche Patriarch Pilgrim I. mehreren seiner Urkunden von 1136 (echt?) [p. 65] und aus der Jahrhundertmitte beigefügt hat – das einzige erhaltene Original läßt sogar Eigenhändigkeit vermuten. Die dem Radkreuz eingeschriebene Devise ist nicht immer dieselbe; anscheinend hat der Patriarch die Devise Papst Innozenz’ II., dem er die lange umstrittene Anerkennung seiner Metropolitanrechte über Istrien verdankte, in leicht verkürzter Form erst nach dessen Tod eingefügt.8 In einem Fall (1152) finden sich sogar die drei Kolumnen der Kardinalsunterfertigungen in adaptierter Form wieder; allerdings handelt es sich um die Zeugenlisten dreier in einer einzigen Bestätigungs-Urkunde vereinigten Traditionen.
Aber weder der Patriarch noch seine „Kanzlei“ dürfen für diese (ephemere) Erscheinung hauptverantwortlich gemacht werden: Patriarch Pilgrim unterfertigte in anderen Urkunden ganz anders,9 die gleichzeitige wie die wenig spätere Ein-Mann-Kanzlei des Patriarchen verhielt sich ganz anders,10 und die Radkreuz-Urkunden weisen nicht wenige andere Charakteristika auf, die eindeutig Triestiner „Handschrift“ verraten – und gerade in Triest hat man in den vierziger Jahren des Jahrhunderts durchaus unabhängig vom Patriarchat päpstliche Textmuster zu verwenden gewußt.11 Die Zufälligkeit des Gebrauchs päpstlicher Muster in den Patriarchenurkunden wird dadurch auf das Nachdrücklichste unterstrichen.12
Im frühen 13. Jahrhundert läßt der Einfluß der Papsturkunde stark nach, was allerdings – zumindest zum Teil – auf den stark vermehrten Einsatz des Notariatsinstruments zurückgeführt werden kann. Wenn in den vierziger Jahren eine Art Spätblüte festzustellen ist, dann hat das in erster Linie mit den Vorlieben einzelner Schreiber wie vor allem des Kanonikers Bonencontrus zu tun.
[p. 66] Die äußeren Merkmale der Papsturkunde empfahlen sich aus Gründen des guten Eindrucks zur Nachahmung, bei den inneren Merkmalen spielen zusätzlich die juristischen Qualitäten des päpstlichen Vorbilds eine Rolle. Der allgemeine Wandel von der mehr formalen zur eher juristischen Beeinflussung ist auch in Aquileia zu verfolgen. Am Anfang der Entwicklung finden sich den Papsturkunden verwandte Arengen über die mit kirchlichen Ämtern verbundenen Pflichten. Diese Arengen spielen aber binnen kurzem – angesichts des allgemeinen Übergangs zu weniger feierlichen Formen – keine bedeutende Rolle mehr.
Im übrigen bestätigen alle auch nur einigermaßen charakteristischen Formulierungen die bereits im Zusammenhang mit den äußeren Merkmalen gemachten Feststellungen. Man kann sogar eine Art Proportionalgleichung aufstellen, daß nämlich die Urkunden mit besonders ausgeprägter Berücksichtigung äußerer Merkmale des Papsturkundenwesens diesem Muster auch hinsichtlich der inneren Merkmale besonders nahestehen. Da dies auch bei Urkunden solcher Schreiber der Fall ist, die anderweitig dem päpstlichen Vorbild wenig oder keinen Tribut zollen, ist das als Hinweis darauf zu werten, daß jedenfalls bei Urkunden mit sehr starkem Einfluß des Papsturkundenwesens mit unmittelbaren Vorbildern und zumindest in einem Fall (1179) mit einer päpstlichen Vorurkunde zu rechnen ist.
Was über die zeitliche Verteilung der äußeren Merkmale und über deren Vorkommen in echten und unechten Urkunden gesagt worden ist, gilt in geradezu frappierender Weise auch für das in perpetuum13 und für die Pflicht- bzw. Amtsarengen, insbesondere jener mit Hervorhebung bestimmter Institutionen, denen gegenüber der Amtsträger eine ganz spezielle Sorgepflicht zu beobachten hat, sowie aus jenen Arengen, die von Erfüllung gerechter Bitten handeln.14 Ablaß-Urkunden des 13. Jahrhunderts haben sozusagen weisungsgemäß die Arenga Quoniam ut ait apostolus, entsprechend der Weisung des vierten Laterankonzils von 1215. Abermals [p. 67] dasselbe Bild ergibt sich aus der Überleitung zur Dispositio (Eapropter, precibus … annuentes usw.), für den ausdrücklichen Hinweis auf die Autorität der vom Aussteller geleiteten Kirche, in wesentlich geringerem Ausmaß auch aus der Feststellung, daß alles dem Empfänger Gewährte auch für dessen Amtsnachfolger gelte. Demgegenüber tritt die salva-Formel auffallend selten auf.
Gerade einige der in den Patriarchenurkunden nur selten angewandten Formeln jedoch verdienen unser besonderes Interesse. Sie können freilich nicht viel zu einer „Statistik“ des Einflusses des päpstlichen Urkundenwesens beitragen, aber das ist nicht mehr nötig. Aber es ergibt sich Auffallendes aus der Beobachtung, für welche Empfänger solche Urkunden ausgestellt worden sind.
Im Fall einer Gesamtbestätigung des Besitzes einer kirchlichen Institution wird fallweise der ganze einschlägige Passus päpstlicher Privilegien über die largitione principum, oblatione fidelium usw. vollständig eingefügt oder zumindest der gegenwärtige vorhandene und der künftig in rechtmäßiger Weise mit Gottes Hilfe erworbene Besitz angesprochen (quascumque possessiones quecumque bona usw.). Geradezu erwartungs-gemäß stammen drei der fünf so gestalteten Urkunden aus den späten siebziger und aus den achtziger Jahren des 12., die beiden übrigen aus dem frühen 13. Jahrhundert. Die Empfänger sind das Stift Au bei Bozen, die Kathedralkirche zu Padua, das Kloster San Zeno zu Verona, die Propstei Santo Stefano zu Aquileia und ein weiteres Kloster in der Diözese Verona.
Die Konzentration auf Empfänger außerhalb der eigenen Diözese des Patriarchen ist auffällig und wird noch auffälliger dadurch, daß der Schreiber der beiden ältesten Urkunden (für Au und Padua) einer der Ein-Mann-Kanzlisten des Patriarchen war, mit Namen Konrad, von dem ansonsten noch etliche andere Urkunden überliefert sind, in denen das päpstliche Muster aber keine Rolle spielt. Es fällt auf, daß es gerade diese Urkunden sind, also für Empfänger, die den Patriarchen nicht unmittelbar zum Vorgesetzten haben, die insgesamt und überhaupt in weitestem Maß dem Vorbild der Papsturkunde folgen, graphisch wie textlich – wo nicht, kann es sich wieder um eine Fälschung oder um die Übernahme aus einer solchen handeln.15
[p. 68] Die Sanctio bietet dann wieder alle Charakteristika des Vorkommens der häufig angewandten Formeln.16 Es soll hier keine ermüdende Aufzählung geboten werden; es genügt zu sagen, daß auch in der Folgezeit die außer-diözesanen Empfänger (innerhalb des Metropolitansprengels) einen deutlich überproportionalen Anteil ausmachen.17 Die inzwischen schon wohlbekannte zeitliche Verteilung gilt auch für das typische amen.18
Bei der Datierung können wir dasselbe feststellen wie schon bei der Ankündigung der Besitzbestätigung (largitione regum usw.): Ein und derselbe „Urkundsbeamte“ des Patriarchen konnte soundsooft unterfertigen wie andere geistliche Urkundenschreiber oder Notare auch, bisweilen aber auch eine Ausnahme machen und Datum per manus schreiben. Es handelt sich bezeichnenderweise wieder einmal um die Urkunde von 1179 für das Kloster Au bei Bozen. Der ältere Nachweis von 1140 ist – erwartungs-gemäß, darf man schon dazusagen – unecht, die jüngeren sind weitere Zeugnisse für die bevorzugt selektive Anwendung päpstlicher Vorbilder gegenüber geistlichen Empfängern im Metropolitansprengel außerhalb der eigenen Diözese: 1180 für Padua, 1187 für Verona, 1206 für Triest.19 Nach längerer Pause folgen in den Jahren 1241 bis 1243 gleich sechs weitere Urkunden mit einer Datum per manus-Formel. Sie gelten allerdings sämtlich Empfängern innerhalb der Diözese Aquileia selbst und stammen allesamt von demselben Schreiber der curia des Patriarchen mit Namen Bonencontrus, der auch für das Comeback des monogrammatisch und prächtig ausgeführten in perpetuum verantwortlich gewesen ist. 1248 folgte dem noch [p. 69] die gleichartige Formel eines Paulus, der sich gleichfalls als Notar der curia des Patriarchen bezeichnete.
Die Angabe der Pontifikatsjahre in der Datierung ist angesichts ihrer Regelmäßigkeit im päpstlichen Urkundenwesen wohl auch noch ins Kalkül zu ziehen. Wir können es kurz machen: Fast alle mit Pontifikatsjahr versehenen Patriarchenurkunden sind entweder eindeutig unecht oder sehr verdächtig.20
Die Vorstellung der Übernahme äußerer und innerer Charakteristika des Papsturkundenwesens hat bereits Gelegenheit geboten, mehrere jener schon avisierten allgemeineren Probleme anzusprechen, zu denen das Urkundenwesen der Patriarchen von Aquileia möglicherweise einen Lösungsbeitrag leisten kann. Diese Fragen sollen nun abschließend jeweils eine kurze Erörterung erfahren.
Wie anderswo stellt sich auch im Patriarchat die grundsätzliche Frage, inwieweit die päpstlichen Vorbilder lediglich als „Steinbruch“ gedient haben, aus dem für die eigene Urkundenproduktion brauchbare Versatzstücke entnommen worden sind, und inwieweit dieses elementare Niveau in Richtung einer freien Weiterentwicklung verlassen werden konnte. Die wenig ausgeprägte Kontinuität des Urkundenwesens der Patriarchen im allgemeinen und die dadurch noch forcierte Sprunghaftigkeit in der Verwendung päpstlicher Muster hatte freilich zur Folge, daß es zur Entwicklung eines eigenen Stils, in dem konstante Elemente päpstlicher Provenienz sichtbar sind, gar nicht kommen konnte.
Im Patriarchat scheint der Einfluß unmittelbarer päpstlicher Vorbilder demnach verhältnismäßig hoch und der sekundär-mittelbare Einfluß über (eigene) Schultraditionen und Kanzleigebräuche zumindest nicht allzu bedeutend gewesen zu sein. Am stärksten scheint sich dies bei den Fälschungen zu zeigen. Nur in einer solchen findet sich das charakteristische amen mit Gegenbogen-m der päpstlichen Privilegien. Angesichts des Fehlens dieser Form in allen bekannten echten Urkunden kann es sich nur um die Nachzeichnung aufgrund einer päpstlichen Vorlage handeln. Selbstverständlich kann es hier nur um eine geschätzte Tendenz gegenüber der allgemeinen Erwartung gehen, der gemäß man damit rechnen muß, daß der päpstliche Einfluß nur in einem verhältnismäßig kleinen Teil unmittelbar nachzuweisen sein wird. Das stimmt nun gewiß auch für das Patriarchat, aber wohl in geringerer Schärfe als anderswo. Die tieferen Zusammenhänge [p. 70] des Einflusses im jeweiligen Einzelfall bleiben uns allerdings auch hier im allgemeinen verborgen.21
Und auch dort, wo bei der Gegenüberstellung von Einfluß des päpstlichen Urkundenwesens, Schreibern und Empfängern sich Deutungen anbieten, auch dort bleibt in den meisten Fällen mindestens eine andere Deutungsmöglichkeit offen, zwar eine weniger wahrscheinliche, aber immerhin eine, welche die vorzuziehende Lösung nicht als die allein in Frage kommende erscheinen läßt. Wir werden das noch im Konkreten vorzuführen haben.
Was die Gründe der Imitation päpstlicher Muster anbetrifft, so kann von irgendwelchen diesbezüglichen Normen oder gar von der Beobachtung solcher Normen nicht die Rede sein – abgesehen von den Ablaßurkunden mit der Arenga Quoniam ut ait apostolus. Daß man sich in erster Linie im Interesse der Rechtssicherheit an das diesbezüglich sicher vorzügliche päpstliche Modell gehalten habe, erscheint angesichts der Zufälligkeit und Sprunghaftigkeit der Übernahmen auch seitens bestimmter einzelner „Urkundsbeamter“ des Patriarchen mehr als zweifelhaft; ästhetische Gründe ihrerseits können nur für die Übernahme äußerer Merkmale maßgeblich gewesen sein.
Nach weitgehender Ausscheidung der genannten Motive bleiben noch zwei weitere als möglicherweise hauptverantwortlich über: zum einen das Bestreben, an der päpstlichen Autorität zu partizipieren, zum andern eine besondere Devotion dem Papsttum gegenüber. Die beiden Deutungsmöglichkeiten scheinen recht entgegengesetzter Natur zu sein, aber sie sind alle beide gleichermaßen ernst zu nehmen.
Es ist wohl mehr als Zufall, wenn gerade Patriarch Gottfried (1182-1194), in dessen Regierungszeit der massivste Einfluß des päpstlichen Urkundenwesens auf jenes der Patriarchen festzustellen ist, der einzige Aquileier Oberhirte ist, der sich – in der erhaltenen Überlieferung wohlgemerkt – als Patriarch nicht nur dei gratia, sondern zusätzlich auch noch apostolice sedis gratia bezeichnet. Das geschieht anläßlich der Anerkennung eines Urteils päpstlich delegierter Richter in einer Streitsache, in der Gottfried den kürzeren gezogen hatte. Soviel zur Devotion. Wesentlich mehr läßt sich zur Frage der Partizipation beibringen, sowohl Für als auch Wider. Diese Frage ist mit jener nach den Schreibern, Ausstellungsorten und Empfängern eng verflochten.
Was die Schreiber angeht, so hat schon vor 60 Jahren Reiner Puschnig darauf aufmerksam gemacht, daß die patriarchalische Ein-Mann-Kanzlei [p. 71] namens Konrad Ende der siebziger Jahre des 12. Jahrhunderts die starke Anlehnung insbesondere an die Papsturkunde ins Urkundenwesen der Patriarchen eingeführt hat.22 Das ist richtig und doch insofern unzutreffend, als derselbe Konrad in etlichen anderen – auch späteren – Urkunden vom päpstlichen Modell keinen Gebrauch gemacht hat. Für Konrads Nachfolger in der Patriarchenkanzlei, einen gewissen Aldericus, gilt dasselbe. Die von ihm ausgefertigten Urkunden aus den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts stellen im allgemeinen den Höhepunkt des päpstlichen Einflusses auf das Urkundenwesen der Patriarchen dar. Stammt eine Patriarchen-Urkunde dieser Zeit einmal nicht von diesem Aldericus, so läßt der päpstliche Einfluß gleich und in auffallender Weise nach. Eigentümlicherweise gilt auffallend schwacher päpstlicher Einfluß aber auch für mehrere Urkunden des sonst so päpstlich orientierten Aldericus selbst. Zur Zeit des Patriarchen Wolfger wechselt auch ein Notar Ulrich zwischen papstnahen und papstfernen Formen. Angesichts seines häufigen Namens kann man freilich nicht ganz sicher sein, ob es sich stets um ein und denselben Ulrich handelt. Eher gewiß dürfte das bei dem patriarchalischen Schreiber Gernot sein, der um dieselbe Zeit einmal dem päpstlichen Modell folgte und dann wieder nicht.23 Nur der Notar Bonencontrus in den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts zeigt eine bemerkenswerte Konstanz in der Applikation päpstlicher Elemente, doch ist einzuräumen, daß die von ihm bekannten Urkunden sich auf einen sehr kurzen Zeitraum konzentrieren und zudem auch sachlich in ganz besonderem Maß untereinander ähnlich sind.
Jedenfalls wird man soviel behaupten dürfen, daß die Anlehnung an das Modell der Papsturkunde nicht in erster Linie mit der Person des jeweiligen Schreibers zusammenhängt, sondern daß es eher andere Gründe waren, welche die Urkundenschreiber einmal zu dieser, dann zu jener Vorgangsweise veranlaßt haben. Zunächst kommt hierfür die Verfügbarkeit oder noch eher das allfällige Erfordernis päpstlicher Vorlagen in Frage. Im Einzelfall kann tatsächlich eine päpstliche Urkunde als Vorurkunde evident oder vorauszusetzen sein. Ferner wäre es denkbar, daß hier der Ausstellungsort eine Rolle spielte: Wenn der Patriarch auf Reise war, standen dem Urkundenschreiber, den er irgendwo auswärts mit der Ausfertigung einer Urkunde beauftragte, nicht unbedingt dieselben Behelfe zur Verfügung wie zu Hause in Aquileia oder in Cividale.
Da fällt nun freilich auf, daß unter den Urkunden mit starkem Einfluß päpstlicher Vorbilder jene überproportional vertreten sind, die einen vom [p. 72] Zentrum der Patriarchenmacht weit entlegenen Ausstellungsort aufweisen. Nun war aber die Regierungspraxis der Patriarchen im 12. und im frühen 13. Jahrhundert im wesentlichen die, im Kernbereich ihrer Macht Geschäfte aller Art zu erledigen, auf Reisen in entlegenere Teile der Kirchenprovinz aber vorzugsweise solche Akte zu beurkunden, die das soeben bereiste Gebiet betreffen.24 Daraus ergibt sich, daß die von Aquileia und Cividale weit entfernten Ausstellungsorte in hohem Maß jenen Urkunden entsprechen, deren Empfänger außerhalb der Diözese Aquileia gesessen sind, denen gegenüber der Patriarch Anlaß haben konnte, die ohnehin oft genug schon recht dünne und von den Suffraganen wiederholt glatt desavouierte Metropolitan-Autorität so nachdrücklich wie möglich zu betonen – ein Gedanke, der bereits im Zusammenhang mit der Vorstellung der äußeren und inneren Merkmale angedeutet worden ist.
Der Metropolit stellt sich gewissermaßen als Papst im kleinen dar, und es ist wohl alles andere als ein Zufall, daß Patriarch Gottfried 1187 – ein einzigartiger Fall – in der Arenga seiner ganz päpstlich orientierten Urkunde für das Kloster S. Zeno in Verona die heilige Aquileier Kirche gleich zu Anbeginn als die zweite Mutter all der vielen Kirchen Italiens vorstellt. In Ermangelung anderer Mittel mußte sich da die repräsentative Papsturkunde als Modell empfehlen. Historisch gesehen, handelte es sich um eine wirkungslose Demonstration, und vielleicht liegt es unter anderem auch daran, daß der Kopie päpstlicher Privilegien keine Zukunft beschieden war.25
Jedenfalls im Falle Aquileias ist weniger daran zu denken, daß bestimmte Empfängerkreise an der Vermittlung römischer Formen erheblichen Anteil hatten; es gab hier wohl eher Anlässe, bestimmten Empfängerkreisen gegenüber sich papstnah oder papstähnlich darzustellen. Daß der Metropolit das Mittel der päpstlichen Formen verhältnismäßig stark im Rahmen von allgemeinen Besitzbestätigungen einsetzte, braucht nicht unbedingt auf vermehrte Abhängigkeit von Vorlagen gerade in diesem Fall interpretiert zu werden: Hart ausgedrückt, ließ man den Metropoliten außerhalb seiner Diözese ja auch gar nicht mehr viel anderes tun als Kirchen zu weihen und Bestätigungen allgemeiner Natur auszustellen.
Aber diese Wahrheit – und um eine solche handelt es sich wohl – ist noch nicht die ganze Wahrheit. Die Bemühung des Metropoliten, außerhalb seiner eigenen Diözese ganz besonders eindrucksvoll aufzutreten, geschieht [p. 73] ja nicht gleichmäßig, sondern sie setzt zu einem bestimmten Zeitpunkt ein und läßt zu einer bestimmten Zeit nach. Es ergibt sich daraus die Frage nach den „Transporteuren“ der päpstlichen Modelle und (bzw. oder) nach den politischen Rahmenbedingungen.
Der nachhaltige Einfluß päpstlicher Modelle setzt 1169 ein und erfährt ab dem Ende der siebziger Jahre noch eine gewaltige Steigerung.26 Was die Ursachen dieser zeitlichen Verteilung betrifft, so könnte man zunächst an politische Rahmenbedingungen denken, vor allem aufgrund der Analogie zu einer Beobachtung in späterer Zeit. Patriarch Berthold begann sich ab etwa 1245 von Kaiser Friedrich II. ab- und der päpstlichen Seite zuzuwenden, auch wenn er den offenen Bruch erst 1248 vollzog. Die erstaunliche Reihe von eindeutig päpstliche Muster imitierenden Urkunden im Jahre 1243 muß die Frage aufwerfen, ob oder inwieweit diplomatische Veränderungen wie ein Seismograph bevorstehende politische Wandlungen ankündigen könnten. Es handelte sich schließlich nicht um irgendeinen Urkundenschreiber, der für diesen Wandel verantwortlich war, sondern um einen Notar curie nostre, dem 1248 ein anderer Notar curie nostre mit gleichgerichteten Intentionen folgen sollte.27 Angesichts dieser Beobachtung mußte sich die Frage stellen, ob das Zurücktreten der Bezüge zum päpstlichen Urkundenwesen in den sechziger Jahren des 12. Jahrhunderts mit dem gleichzeitigen Schisma zu tun haben kann; in diesem Fall würde sich auch das Einsetzen oder Wiedereinsetzen der Imitation päpstlicher Muster 1169 mit der eben damals erfolgten eindeutigen Deklaration des Patriarchen Ulrich II. hervorragend zusammenfügen, der nach einer längeren Phase zweideutiger Schaukelpolitik nun offen auf die Seite Alexanders III. trat. 1171 erscheint auch zum ersten Mal in einer Patriarchenurkunde die Angabe, die Handlung sei zur Regierungszeit des Papstes … (in diesem Fall eben Alexanders) geschehen, freilich um des Proporzes willen mit nachfolgender Angabe des regierenden Kaisers. Der 1177 geschlossene Friede mit dem Kaisertum mußte dann auch die letzten Bedenken zu einer weitgehenden Übernahme päpstlicher Urkundenformen hinwegfegen, und das [p. 74] mochte die ab 1179 festzustellende Hochkonjunktur päpstlicher Elemente in den Urkunden der Patriarchen zur Folge gehabt haben.
Diese Überlegungen sind allerdings wenn schon nicht zu ersetzen, dann doch zumindest zu ergänzen. Denn ungefähr gleichzeitig mit dem Übertritt zur alexandrinischen Partei (1169 bzw. unmittelbar davor) erhielt Patriarch Ulrich II. die Würde eines apostolice sedis legatus. Daß Ulrich von da an regelmäßig den Legatentitel führte, versteht sich von selbst; gelegentlich berief er sich auch bei seinen Handlungen ausdrücklich auf diese, so 1181 bei der Einführung der vita communis in seinem Domkapitel: auctoritate domini Alexandri pape III et legationis qua fungimur necnon et metropolitica qua vobis et sancte Aquilegensis ecclesie presidemus.28 Die (ständige) Legation mochte ein starkes Motiv zur Annäherung an die Papsturkunde zumindest in bedeutsameren Angelegenheiten gewesen sein.29
Und für die nochmalige Intensivierung des päpstlichen Einflusses auf das Urkundenwesen der Patriarchen, wie sie ab 1179 sichtbar wird, mag ebenfalls ein weiterer und wieder ganz anderer Grund in Frage kommen. Man hat schon bisher neben allem anderen in Rechnung gestellt, daß die Kenntnis des päpstlichen Vorbildes auch über die Boten, welche die zahllosen verschiedenen geistlichen Institutionen an die Kurie nach Rom gesandt haben, von dort aus, und gerade durch diese, in alle Welt verbreitet worden ist. Nun hatte sich der Papst eben 1177, bei Gelegenheit des Friedensschlusses mit Kaiser Friedrich I., längere Zeit in Venedig aufgehalten. Auch wenn Patriarch Ulrich II. von Aquileia wohl nicht der Chefvermittler zwischen den höchsten Autoritäten schlechthin war, als der er wiederholt hingestellt worden ist, so war er doch mit den beiden Autoritäten in engstem Kontakt. Seine Helfer, die er nach Venedig mitgebracht hatte, mochten aus Venedig ein Vielfaches von dem an Kenntnissen mitgebracht haben, als ihnen selbst eine Legation nach Rom ermöglicht hätte.
Wohin wir auch sehen, verfügen wir wohl über interessantes Material, aber es ist schwer, wenn nicht unmöglich, zu eindeutigen Schlüssen über die Hintergründe der Erscheinungen zu kommen. Wir stehen vor Gleichungen mit mehreren Unbekannten, und die erlauben nun einmal mehrere Lösungen.
[p. 75] Wenn wir nun noch einen Blick kurz über die Mitte des 13. Jahrhunderts hinaus werfen, so ergibt sich auf einem von uns bisher noch nicht berücksichtigten Feld allerdings auch ein Ergebnis von seltener Eindeutigkeit. Es betrifft allerdings nicht die Übernahme von Formen der päpstlichen Urkunde, es geht vielmehr um die Organisation der schriftlichen Verwaltung im Grundsätzlichen.
Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts regierten die Patriarchen gutenteils in der Art der Reiseherrschaft. Dann folgen knappe zwei Jahrzehnte, in denen nahezu sämtliche schriftlichen Willenserklärungen des Patriarchen aus einer einzigen Stadt kommen, aus Cividale, wohl Sitz eines Kapitels, aber ohne Kathedralkirche.30 Diese zwischenzeitliche stabilitas loci entspricht auf den Tag genau der Regierungszeit des Patriarchen Gregor von Montelongo, der zuvor lange und intensiv als Legat Innozenz’ IV. in der Lombardei tätig gewesen war. Es ist bestimmt kein Zufall, daß gerade der Legat jenes Papstes, der sich eine stabile Residenz in einem Ort ohne apostolische Tradition gewählt hatte, ebenfalls und im Gegensatz zu allen seinen Vorgängern eine solche feste Residenz in dem kirchlich traditionsarmen Cividale geschaffen hatte und von dort aus – schriftlich – die Geschäfte führte. Das Verhältnis zwischen Rom und Lyon scheint in gerade dieser Periode ein Spiegelbild in dem Verhältnis zwischen Aquileia und Cividale gefunden zu haben, freilich auf deutlich niedrigerer Ebene. Erstmals ist auch mit einiger Sicherheit eine Art Arbeitsteilung zwischen den Notaren im Dienst des Patriarchen zu erkennen.31
Der nächste Patriarch nach Gregor kehrte ebenso schlagartig zur Reiseherrschaft zurück, wie dieser sie aufgegeben hatte. Nichts könnte eindringlicher zeigen als dieser Umstand, in wie hohem Maß die Wirkung des päpstlichen Vorbilds auf das Aquileier Urkundenwesen von einzelnen Persönlichkeiten und besonderen aktuellen Umständen abhängig gewesen ist.