[p. 365] Der Einfluß der päpstlichen Justizbriefe auf die Justizbriefe der französischen Königskanzlei um 1300
I. Begriff, Form und Funktion der Lettres de justice – II. Königlicher Justizbrief und päpstliches Delegationsreskript: Formularparallelen – III. Anmerkungen zur Rezeption kurialer Verwaltungs- und Formularvorbilder
I
Der Begriff der Lettre de justice, des Justizbriefes der französischen Königskanzlei, wird in der historischen Forschung nicht immer klar umrissen gebraucht, da mitunter inhaltliche und diplomatisch-formale Kriterien, mittelalterliche und moderne Terminologie miteinander vermengt werden. Eine breitere Definition nimmt eine grobe inhaltliche Eingrenzung vor, die generell alle Urkunden, die als Mittel der Steuerung von Prozessen im Namen des Königs ausgestellt wurden, zu den Justizbriefen rechnet – im Unterschied zu Gnaden- und Finanzsachen, wobei in der Praxis jedoch die Grenzen nur allzu oft fließend waren.1 In diesem allgemeinen Sinne begegnet der Terminus Lettre de justice etwa in der Parlamentsordonnanz von 1310; meist jedoch sprechen mittelalterliche Texte nur unspezifisch von littere.2 In den mittelalterlichen Formularbüchern aus dem Umfeld der französischen Königskanzlei steht dagegen die littera iusticie nur für [p. 366] spezielle Prozeßdelegationen bzw. Aufforderungen zur Prozeßeinleitung durch nachgeordnete Richter in einem Zivilprozeß.3
Als praktikabler Kompromiß zwischen der weiten, doch unscharfen Begrifflichkeit der Ordonnanzen und der engen Terminologie der Formularbücher werden mit Tessier jedoch gewöhnlich in der Diplomatik jene königlichen Urkunden als Justizbriefe bezeichnet, die in Mandatform die Aufnahme eines Prozesses, einer Untersuchung oder eine sonst prozeßrechtlich relevante Handlung, in der Regel durch einen königlichen Bailli oder Seneschall, der gemäß ratio und consuetudo vorzugehen habe, anordneten.4 Dazu sind neben der zivilrechtlich motivierten Lettre de justice ihr strafrechtliches Pendant, die Lettre de sang, das Ajournement (Vorladungsbefehl zur Verhandlung vor dem Parlament), die Lettre de déception (Eingreifen zur Annullierung bzw. Nachbesserung eines Vertrages, bei dem der Verkäufer um mehr als die Hälfte des gerechten Preises geschädigt wurde)5, die Lettre de usuris (Intervention gegen Wucherverträge)6 und die Lettre de debitis (Intervention zwecks Schuldenregelung) zu zählen.7
[p. 367] Der Justizbrief der französischen Königskanzlei ist ein kleinformatiges Alltagsschriftstück in Mandatform. In festen äußeren Formen tritt er ab ca. 1250 auf. Er ist nach französischem Kanzleibrauch in der Regel abhangend (sur simple queue) mit ungefärbt-gelbem Wachs gesiegelt. Das Formular ist schlicht und relativ starr; es besteht aus kaum mehr als aus einer Adresse, einer knappen Fallschilderung (narratio) und einer an den Adressaten gerichteten Mandatsformel (conclusio), die evtl. durch verschiedene clausule präzisiert und modifiziert sein kann. Grammatikalisch besteht es nur aus einem komplexen Satz, der in zwei Teile zerfällt. Das Mandat ist gewiß kein Schriftstück, bei dem ein Schreiber große rhetorische Kapriolen im Auge hatte, sondern ein Massenprodukt, das den Bedürfnissen eines bestimmten jurisdiktionellen Instanzenweges entsprach.8
[p. 368] Justizbriefe sind normalerweise littere communes, d.h. Urkunden mit festem, standardisierten Formular.9 Sie können insofern auch als Reskripte10 bezeichnet werden, als sie gewöhnlich aufgrund einer Requête bzw. Supplik an den König, d.h. in der Praxis meist an die Maîtres des requêtes des Parlement de Paris oder an die Poursuivanz, die Maîtres des requêtes de l’Hôtel, ergingen. Dennoch konnten Justizbriefe, wenn auch selten, vom üblichen Formularschema abweichen und ohne vorherige Eingabe direkt vom König und von ihm Bevollmächtigten oder von der Grand’Chambre des Parlaments ausgehen.11
[p. 369] Justizbriefe waren gewöhnlich ohne größere Probleme bei den Parlaments-Requêtes zu erwirken, wo nur dann eine summarische Prüfung des Falls erfolgen konnte, wenn auch die Gegenpartei des Petenten anwesend war und gegen die Ausstellung des Briefes Einspruch erhob.12 Ansonsten wurde der Justizbrief quasi mechanisch ausgestellt, indem die Darstellung des Petenten als narratio übernommen (Conquestus est nobis…) und der Fall an untergeordnete Richter zur Prüfung übergeben wurde (quare tibi mandamus…). War der Adressat Ritter, wurde er im Mandat mit vos, sonst mit tu angesprochen.13 Wurde neuerlich die Ausstellung eines Justizbriefes im selben Fall notwendig, wurde die narratio meist wortwörtlich kopiert und nur mit präzisierenden, einschärfenden oder modifizierenden Passagen versehen.14
Mit einer Vielzahl einschränkender Textklauseln versuchten sich die Maîtres des requêtes dagegen abzusichern, daß ein unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erwirkter Justizbrief als Präjudiz mißbraucht werden konnte (subreptio). Dem durch den Justizbrief delegierten Richter blieb damit ein großer Entscheidungsspielraum (prout noveris ad te pertinere): nur wenn die Darstellung des Klägers der Wahrheit entsprach (si premissa veritate nitantur, si ita est, si tibi constiterit ita esse), war in seinem Sinne vorzugehen; nur wenn eine Anhörung der Parteien (vocatis evocandis) durch den Richter Handlungsbedarf erkennen ließ, sollte er ermitteln (inquirere veritatem)15 und den rechtmäßigen Zustand wiederherstellen (fine debito terminare; super inquisitis facere iustitie complementum bzw. facere, quod fuerit racionis).16 Zur Aufnahme eines förmlichen Verfahrens (cause cognitio) im engeren Sinne kam es erst, wenn sich die beklagte Partei (oder der Procureur du roi als Vertreter der Interessen des Königs in der Provinz) der Vollstreckung [p. 370] des Justizbriefes im Sinne des Begünstigten widersetzte.17 Die Kehrseite war, daß die im Justizbrief gegebenen Befehle nicht präzise genug waren, um den Adressaten auch auf ein bestimmtes Vorgehen zu verpflichten. Ein Bailli konnte deshalb seine Renitenz auch bequem hinter vielen Ausflüchten verstecken, etwa hinter dem Vorwand, er brauche ein ausdrückliches zusätzliches Mandat, um notwendige Aktionen vorzunehmen.18
Bei Erschleichung eines königlichen Briefes zur Manipulation eines bereits bei einem anderen Richter, z.B. dem ordinarius, anhängigen Verfahrens behielt sich das Parlament vor, bei Aufdeckung solcher Machenschaften einen Prozeß wegen Täuschung der curia des Königs gegen den Manipulator anzustrengen. Der vom Parlament dann mit dem Fall betraute Kommissar hatte die Pflicht, den Fall unverzüglich an den zuständigen Richter zurückzugeben. Allgemein galt ein Mandat, ob mündlich oder schriftlich, als nichtig, wenn sein Inhalt „unerlaubt“ oder unmoralisch war; es war widerrufbar, und nach seiner Ausführung war für die Kosten seiner Abwicklung eine Quittung zu geben.19 Dennoch hatte eine königliche Urkunde immer eine besondere Autorität, die ungeachtet aller Reservationsklauseln ihrem Inhaber in der Praxis einen Vorteil verschaffen konnte; und trotz aller königlichen Anordnungen, die immer neue bürokratische Sicherungen einzubauen versuchten, etwa daß alle Briefe nur unbeschadet anderslautender Ordonnanzen ergehen durften,20 blieb grundsätzlich das Dilemma bestehen, daß strukturell die Requêtes bzw. die Kanzlei praktisch nur auf Treu und Glauben Justizbriefe ausstellen konnten. Der Style des commissaires des Parlaments bezeichnete erschlichene Briefe explizit als häufig. Die importunité de requerans war ein häufiges Thema königlicher Ordonnanzen.21 Insofern konnten Justizbriefe auch ein prozeßrechtliches Problem darstellen: sie verzögerten potentiell die Erledigung [p. 371] der Fälle,22 komplizierten die Materie und konnten bewußt zur Irreführung der sowieso schon überlasteten Gerichte mißbraucht werden.23
Eine exakte, erschöpfende rechtstheoretische Beschreibung des Justizbriefes fehlt erstaunlicherweise in den zeitgenössischen Quellen. Eine skizzenhafte Regelung des Prozederes versuchte erst eine königliche Ordonnanz von 1344.24 Der sonst so umfassende Coutumier des Philippe de Beaumanoir schweigt sich weitgehend über die Rolle und Bedeutung königlicher Justizbriefe aus, obwohl Beaumanoir selbst in seiner Funktion als Bailli Justizbriefe erhielt und ausführte.25 Der Coutumier d’Artois und die Etablissements de Saint Louis geben keine ganz schlüssige Gesamtdarstellung des Vorgangs.26 Der Grund mag darin liegen, daß Justizbriefe eine [p. 372] rein prozedurale, keine dem Urteil vorausgreifende Funktion hatten. Sie leiteten ein Verfahren ein, das an den angeschriebenen Richter delegiert wurde. Sie gaben aber nur sehr allgemeine Anweisungen und dem Adressaten keine besonderen Verfahrensregeln an die Hand, die über die Coutume und das übliche Prozeßrecht hinausgingen (prout ratio et consuetudo suadebunt); da der Streitgegenstand nicht eindeutig und erst durch Enquête zu klären war, wurde selbst die Klage oft nur mit allgemeinen Angaben geschildert (super certis criminibus etc.). Im Unterschied zum heutigen Juristenvokabular gab es auch noch keine exakt definierten Fallmuster: der einzelne Fall stand im Vordergrund, der festzustellen und zu diskutieren war, nicht eine genaue Fallkategorie.27
Von der Seite des Königs aus betrachtet, hatte der Justizbrief aber seinen Sinn in der Betonung seiner oberrichterlichen Stellung als Souverän, an den sich seine Untertanen grundsätzlich immer wenden konnten und dem eine Oberaufsicht in ganz Frankreich als Garant der Gerechtigkeit schlechthin zukam.28 Zugleich entlastete das Prinzip der Prozeßdelegation die Pariser Zentrale. Je nach den örtlichen Machtverhältnissen und den politischen Rahmenbedingungen war zwar das Ausmaß der konkreten königlichen Interventionsmöglichkeiten unterschiedlich, doch konnte prinzipiell über das Mittel des Justizbriefes in jedem Stadium auf Prozesse Einfluß genommen und Präsenz demonstriert werden.29 Dem Petenten verschaffte der Justizbrief die Möglichkeit, in gewissen Grenzen durch den Umweg über den König Einfluß auf die Wahl seines Richters und die Formen seines Prozesses zu nehmen, wobei ihm auch nach vollzogener Prozeßdelegation darüberhinaus die Möglichkeit der Appellation erhalten blieb:30
1. Der Justizbrief des Königs konnte ein außerordentliches Gerichtsverfahren jenseits der üblichen Instanzen und Kompetenzen einleiten. Durch die normalerweise erfolgende Delegation des Falles an einen Bailli oder Seneschall konnte z.B. die unterste Rechtssprechungsinstanz des Prévôt/Châtelain [p. 373] etc. umgangen werden. In jedem Falle wurde die Krone durch die Supplik mit in den Prozeß gezogen, etwa zu Lasten seigneurialer Richter; auch wenn der seigneuriale Richter tatsächlich auf die Gerichtsrechte seines Herrn und auf die Coutume pochte und damit letztlich doch wieder die Herausgabe des Falles an sein Gericht erzwang: der Bailli/Seneschall des Königs, oder wer sonst als kommissarischer Richter vom König beauftragt worden war, hatte bereits die Parteien vernommen und sich mit der Sache beschäftigt. Eine gewisse Vorentscheidung war damit bereits gefallen. Ein der Einschätzung des königlichen Richters vollkommen widersprechendes Urteil des seigneurialen Richters war ein Affront und konnte erneut die königliche Justiz, etwa in Form einer Appellation, auf den Plan rufen.
2. Mit einem Justizbrief konnte man auch einfach nur dem örtlich zuständigen Richter „Beine machen“, ihn mit dem besonderem Nachdruck einer königlichen Urkunde auffordern, seines Amtes zu walten (sog. „exzitative Kommission“), etwa mit besonderer Sorgfalt (cum diligentia), ohne Prozeßverschleppung (sine morosa dilatione), korrekt und ohne daß weiterer Rekurs an den König bzw. das Parlament notwendig wird (ne ob tui defectum ad nos sit ulterius recurrendum), oder in einem formlosen Schnellverfahren (summarie et de plano).31
Die Formeln ex certa scientia und de causa speciali wurden dabei in Justizbriefen, die mit Ausnahmeregelungen in ein normales Verfahren vor dem Ordinarius eingriffen, nur vom König selbst gebraucht; das Parlament, genauer gesagt die Grand’Chambre, benutzte statt dessen die Formel ex causa.32 Während ein allein mit mandamus formuliertes Mandat nur exzitativen Charakter hatte, d.h. einen Ordinarius aufforderte, tätig zu werden, übertrug ein mit mandamus et committimus formuliertes Mandat eine außerordentliche Jurisdiktionskompetenz. Dann war auch der Stilus curie Parlamenti dem Verfahren zugrunde zu legen, während der Ordinarius gemäß örtlicher Coutume vorzugehen hatte.33
[p. 374] 3. Ein Justizbrief konnte eine Art „Notbremse“ in einem laufenden Verfahren sein, um konkrete Probleme abzustellen, z.B. bei Manipulationen des Prozeßgegners durch erschlichene Urkunden, unlautere Tricks, bei Voreingenommenheit oder Nachlässigkeit des Richters, auch bei seigneurialen Richtern.34 Auch der Erlaß von Interimsverfügungen, z.B. über zwischen den Parteien umstrittene Güter, war auf diesem Wege möglich.35 So konnte einerseits auf die Beachtung der Coutume (consuetudine patrie observata), der Kompetenzen, der Verfahrensregeln hingewiesen oder aber, andererseits, besondere Ausnahmen davon im Einzelfall angeordnet oder Lücken der Coutume überbrückt bzw. umstrittene Rechtsregeln geklärt werden. Mit besonderen Schlußklauseln konnte darauf bestanden werden, daß der so angeschriebene Richter spezielle Gründe, die sein Abweichen von den bisherigen rechtlichen Gepflogenheiten rechtfertigten, der Zentrale mitteilte. Damit könnte man den Erwerb eines Justizbriefes in gewisser Weise als eine Art informelle Appellation an den König bei laufendem Verfahren interpretieren.36
4. Ebenso ergingen Justizbriefe, um dem Adressaten reine Polizei- und Verwaltungsaufgaben ohne eigene richterliche Funktion zu übertragen, etwa als Exekutor von Entscheidungen des Parlaments: so, wenn Urteilen vor Ort Geltung verschafft,37 Vorladungen zu Gerichtsverhandlungen zugestellt oder Beschlagnahmungen durchgeführt werden sollten. Meist wurde dann auch im Justizbrief eine Vollzugsmeldung an die Zentrale verlangt.38
5. Gemäß der Parlamentsordonnanz von 1278 wurden grundsätzlich immer durch Justizbrief Fälle der Gewereverletzung (summarischer Besitzstörungsprozeß; Complainte en cas de saisine et de nouvelleté) an den zuständigen Bailli bzw. Seneschall delegiert; der Gebrauch der Formel indebite et de novo war in diesem Zusammenhang bei der Fallschilderung obligatorisch.39
Justizbriefe waren in Frankreich hauptsächlich vom späten 13. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts ein häufig gebrauchtes Mittel der königlichen [p. 375] Gerichtsbarkeit.40 Sie waren in erster Linie ein Übergangsphänomen in der Aufbauperiode des flächendeckenden Kronverwaltungs- und Justizsystems. Sie waren ein „Notnagel“ in einer Zeit, in der das Recht noch nicht offiziell schriftlich fixiert, oft lückenhaft und erst teilweise rational durchgestaltet war. Die Traditionen des Lehensstaates stießen sich dabei an den neuen hierarchischen Regierungs- und Justizinstitutionen wie Parlament und Baillis. Der per Requête angerufene König konnte praktisch gar nicht anders als auf die Klagen und Bitten seiner Untertanen zu reagieren: das gehörte zu seinem Selbstverständnis; das forderte die vom Königtum selbst immer wieder propagierte Ideologie vom König als dem allwissenden, jedem allezeit zu seinem Recht verhelfenden, gerechten und zugleich gnadenreichen Salomon auf dem Thron, ganz auf den Spuren des idealisierten Hl. Ludwig IX.;41 das erwartete das Publikum. Für den sich entwickelnden modernen Staat bedeuteten solche „feudalen Relikte“ zunächst aber auch eine schwere Hypothek. „Ideologie“ und „Staatsräson“ waren nicht deckungsgleich. Die vielen auf direktem, außerordentlichen Weg und über Patronage und persönliche Beziehungen vom König erwirkten Ausnahmen machten eine rationale Administration praktisch unmöglich und durchlöcherten erste Ansätze zur Vereinheitlichung von Verwaltung und Rechtssprechung.42
Mit der fortschreitenden Kodifizierung der Coutumes, der Klärung jurisdiktioneller Kompetenzen und der Verfestigung eines hierarchischen Instanzenzuges trat auch der prozedurale Sonderweg der Prozeßdelegation und der Exzitation lokaler Richter durch die Zentrale zurück. Es gab [p. 376] zwar weiterhin Justizbriefe, die zur Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung ausgestellt wurden (z.B. Lettres de réscision), sie waren aber nur noch eine sinnentleerte Formalität, die als Geldquelle der Kronverwaltung (Kanzleigebühren) diente. Obwohl der König durch das perfektionierte Regional- und Lokalverwaltungssystem schließlich überall in Frankreich repräsentiert war, wurde er paradoxerweise als Person für seine Untertanen wieder unnahbarer.43 Zwar wurde in seinem Namen Recht gesprochen, der direkte Zugang zum Souverän wurde aber zunehmend durch ein Bollwerk vorgeschalteter institutioneller Filter erschwert, und der König selbst nahm kaum noch richterliche Funktionen wahr. Überspitzt ausgedrückt wurde damit aber auch der König zum Gefangenen seines eigenen Apparates.
II
Erinnerten bereits sowohl das Prinzip delegierter Gerichtsbarkeit samt der damit zusammenhängenden organisatorischen Probleme als auch viele termini technici an die kuriale Praxis,44 zeigt ein Blick auf Morphologie und Syntax des Urkundenformulars darüber hinaus auch eine Vielzahl an Parallelen bei den inneren Merkmalen der Justizbriefe. Das Formular päpstlicher Justizbriefe ist anhand der seit der Zeit Gregors IX. (1227–41) vorliegenden Formelbücher der Papstkanzlei bequem greifbar.45 Das einzige Beispiel eines Musterformulars für einen Justizbrief des Parlement de Paris in einer quasi amtlichen mittelalterlichen Quelle findet sich im Stilus curie Parlamenti (ca. 1331) im Zusammenhang mit dem in der Praxis häufigen summarischen Besitzstörungsprozeß (Cas de saisine et nouvelleté).46 [p. 377] Das breitere Spektrum des Formularbuchs Paris, BNF ms. lat. 4763 aus der Zeit König Philipps V. (1316–22) bestätigt die Repräsentativität dieser forma und gestattet einen systematischen Überblick über Diktatverwandtschaften zwischen französischem Königsmandat und päpstlichem Delegationsreskript.
Der Grundbauplan des Formulars mit Adresse – narratio – conclusio ist identisch. Aber das ist z.B. im englischen writ schon im 10. Jh.,47 ja selbst in manchen Formularen der merowingischen Formulae Marculfi,48 nicht anders. Die Funktion der Urkunde und das Mitteilungsbedürfnis diktieren diese dreiteilige Form bis zu einem gewissen Maß. Ein Vergleich der einzelnen Formeln zeigt aber ein Maß an Übereinstimmung mit päpstlichen Vorbildern auf, das man kaum als bloßen Zufall abtun kann. Schon in der Syntax gibt es viele übereinstimmende Charakteristika, z.B. die mehrfache Hintereinanderschaltung von Nebensätzen (etwa nach dem Muster …, quod, cum… oder auch …, quod, licet…), die „logische Wende“ in der Narratio, wenn nach der Darstellung der Rechtsposition des Petenten mit der Konjunktion nichilominus die Schilderung des Vergehens des Beklagten angeschlossen wird, oder partizipiale Anschlußkonstruktionen bei den Schlußklauseln (wie … asserens…; scituri pro certo… usw.). Der Detailvergleich einzelner Formeln aus dem Formularbuch BNF ms. lat. 4763 mit entsprechenden [p. 378] Passagen der von Peter Herde edierten formae aus dem Formularium audientie der Papstkanzlei liefert weitere Belege:49
Für die Adresse gab es in der Papstkanzlei wie in der französischen Königskanzlei50 je nach Adressat eine Vielzahl detaillierter Formulierungsvorschriften; die einfache Grundstruktur ist aber gleich: Urbanus etc. Officiali tali salutem etc. (K 46 ca) begegnet im französischen Mandat logischerweise als Ph(ilippus) oder Lud(ovicus) etc. Ballivo tali salutem (Nr. 481).
Soweit ist das natürlich nichts besonderes; wie sollte wohl sonst eine Adresse aussehen? Aber schon in der Einleitung der Narratio, der „Klageformel“, wird das Bild eindeutiger: die ganze Palette der in der Papstkanzlei gebrauchten Formeln begegnet in den Justizbriefen der französischen Königskanzlei wieder: Conquestus est nobis talis civis/miles/etc. clericus talis diocesis, quod,… (π 6 / Nr. 1) – die Standardeinleitung des päpstlichen Delegationsreskripts, wie sie bereits die Pariser Durrieu-Handschrift, die wohl älteste erhaltene Audientia-Handschrift, verzeichnet;51 aber ebenso finden sich hier wie dort, manchmal mit minimalen Varianten: Exposuit nobis talis, quod,… (K 15c / Nr. 22), Significavit nobis talis, quod… (K 99h / Nr. 11), Sua nobis petitione oder conquestione monstravit talis, quod… (δ 11, K 46a / Nr. 14), Talis nobis conquerendo monstravit, quod… / Significavit nobis conquerendo talis, quod… / Talis conquerendo fecit exponi, quod… (K 19f / Nr. 4), Ex parte talis nobis est oblata querela, quod… / Ex parte talis nobis fuit conquerendo monstratum (K 99g / Nr. 10), Ad audientiam nostram noveris pervenisse, quod… (K 19g) bzw. Ad audientiam nostram pervenit, quod… (K 28), in der französischen Variante meist als Ad nostram pervenit auditum… (Nr. 464), schließlich: Querelam/Querimoniam talis accepimus continentem, quod… (K 164b / Nr. 494) – quasi das volle Einleitungsprogramm der Papstkanzlei für Justizbriefe!52
Im folgenden gebrauchen beide Kanzleien mehrere identische oder nur leicht modifizierte Formeln in der Narratio. Nach der Klageformel Conquestus est/Conquesti sunt talis/tales etc. wird z.B. fortgesetzt mit: … cum inter talem ex parte una et talem ex altera coram tali officiali (im Mandat [p. 379] des französischen Königs logischerweise … coram tali ballivo oder senescallo) … super tali causa questio verteretur (Q 14, 7 / Nr. 498), wobei bei den Personennamen durch eine nachgestellte Angabe ihr Stand präzisiert wird (also civis, armiger, miles, clericus etc.); die Titulaturen für Geistliche in französischen Justizbriefen sind dabei analog den Notule aus dem Formularium Audientiae gestaltet (N 22–31). Ein Hinweis auf ein bereits dem Justizbrief vorausgegangenes Urteil (diffinitiva sentencia, vgl. Q 15, 27 / Nr. 244) wird ggf. angeschlossen und weitergeführt mit que contra ipsum lata extitit o.ä. (Q 15, 31 / Nr. 321, 450, 573). Die abkürzende Formulierung … quidam alii/cum quibusdam aliis findet auch in der französischen Urkunde bei der Aufzählung mehrerer Personen Anwendung, allerdings wohl kaum mit der kanonistischen Strenge, die festsetzt, daß damit höchstens vier Personen gemeint sein dürfen.53 Dann, bei Pfand- und Schuldensachen,54 Formeln wie venditio usuraria / … in fraudem usurariam (K 46a / Nr. 34, 199) per usurariam pravitatem (K 18, K 19 / Nr. 89, 175), confectis exinde publicis instrumentis ac litteris obligatoriis nec non fideiussoribus aliisque cautionibus datis (K 28, im königlichen Justizbrief meist nur verkürzt litteris obligatoriis inde confectis – Nr. 87) oder als in den Hauptsatz eingeschobene Phrase: …, prout in litteris super hoc confectis plenius dicitur contineri (Q 14, 2 / Nr. 122), prout in patentibus litteris inde confectis ipsius episcopi sigillo munitis plenius dicitur contineri (Q 11, 3; im französischen Fall analog auch prout in cirograffis und … dicte ballivie sigillo – Nr. 351, 233). Ferner die Passagen vendiderunt pro certa pecunie quantitate, in qua quidem venditor ultra dimidiam iusti pretii, sicut asserit, est deceptus (K 45, K 46b / Nr. 179, 237), tales… solvere/reddere indebite contradicunt ab eo (d.h. dem Gläubiger) pluries requisiti (K 15c / Nr. 126, 201) oder eine Formel wie restituere et reddere seu sibi de ipsis satisfacere indebite contradicit (K 15b / Nr. 204): alles bekanntes Formelgut für päpstliche Justizbriefe zur Überprüfung von Kauf- und Kreditverträgen.
Nicht viel anders die Formeln im Zusammenhang mit dem Bruch der Gewere (saisina): der Streitgegenstand wird präzisiert mit Wendungen wie que de antiqua et approbata et hactenus pacifice observata consuetudine ad ipsos pertinet (K 172 / Nr. 48, 361: hier erweitert zu consuetudine, de qua contraria memoria hominum non existit [vgl. auch Nr. 206, 213], so ähnlich auch im Papstreskript als tales consueverint ab eo tempore, cuius contrarii memoria non existit, … iura percipere [δ 10]) oder, in Bezug auf Jurisdiktionsrechte: talis, ad quem huiusmodi causarum cognitio… de antiqua et approbata [p. 380] et hactenus observata consuetudine pertinet (Q 15, 46 / Nr. 217, 426, 558) oder, bei anderer Gedankenführung der narratio, wenn es vom Beklagten heißt, daß er etwas … contra iustitiam detinet et exhibere bzw. tradere indebite contradicit (K 49 / Nr. 417, 475) … per vim et potenciam / bzw. metum (K 63 / Nr. 32, 404).55
Einige Beispiele mehr – die Schilderung von schwerem Raub: … tales manu accedentes armata,… portas… frangere ipsosque… capere et carceri mancipare et detinere… temeritate propria presumpserunt (K 62 ka / vereinfacht in Nr. 374) oder tales… devastarunt incendio… et… diruerunt quadam quantitate bladi et rebus aliis exinde asportatis et abductis animalibus… (K 134, abermals leicht vereinfacht in Nr. 551); bei Freiheitsberaubung: … (temere et malitiose) capi fecerunt et carceri mancipari (K 78a / Nr. 494); oder bei Gewereverletzung: … occupavit indebite, ut asserunt, et de novo et adhuc detinet occupata in ipsorum religiosorum preiudicium non modicum et gravamen (Nr. 417) – hier am Ende der Fallschilderung eine Formel, die man praktisch in identischer Form in der Briefgruppe Super rapinis, violentiis, spoliationibus… et aliis diversiis iniuriis des Formularium audientie finden kann und die zu den abschließenden Formeln der narratio überleitet, wie … in eorundem preiudicium et non modicum detrimentum (δ 8 / Nr. 298), … in ipsius iniuriam, preiudicium, dampnum non modicum et gravamen (K 71 h / Nr. 200) und was es an anderen kleineren Varianten noch gibt (vgl. δ 9, K 74, K 78 a / Nr. 121, 159, 99), ggf. mit angehängten erweiternden Formeln verstärkt wie … eisdem… dampna gravia et iniurias inferendo (K 62 ka / Nr. 509), … contra iuramentum bzw. concessionem huiusmodi temere veniendo (K 15c, Nr. 262), manchmal zusätzlich mit einem eingefügten … pro sue libito voluntatis (Q 15, 58 / Nr. 61, 121) oder ausu temerario (K 76 / Nr. 209).
Ebenso zeigt sich paralleler Formelgebrauch in französischer Königskanzlei und Papstkanzlei bei der Einleitung zur Mandatsformel in typischen Wendungen wie: Nos igitur/tamen super hiis de oportuno remedio… providere volentes, Quia vero nostra interest, super hiis de remedio oportuno providere… mandamus, quatinus…, Cum igitur nostra intersit, super hoc tali de oportuno remedio providere (K 30 xc, K 43, Q 14, 4 / Nr. 76, 161, 201; leicht umgestaltet in der conclusio in Nr. 90, 501) oder auch als Mandatsbegründung nolentes, quod occasione prefata aliquod preiudicium generetur.… Sodann in den Mandatsformeln, die Vorladung, Untersuchung, Urteil und ggf. Bestrafung anordnen, wie: Ideoque… mandamus, quatinus… (π 6, δ 8; in kgl. Urkunden häufiger Unde tibi mandamus, quatinus [p. 381] …, vgl. Nr. 417) oder Quocirca… mandamus, quatinus… (K 46 ca / Nr. 53), wobei die Möglichkeit der Subdelegation ebenso durch vobis/vos vel alter vestrum ausgedrückt wird wie im Papstbrief (N 32f.).56
Nicht anders ist das Bild bei den dispositiven Formeln: Identische Formulierungen des als ablativus absolutus formulierten Ladungsbefehls partibus convocatis (π 6, π 7, in der königlichen Urkunde häufiger vocatis evocandis, vgl. Nr. 71),57 vocatis, qui fuerint evocandi (Q 6, 7a / Nr. 148), etwa auch in der Form vocatis, qui fuerint evocandi, et auditis hinc inde propositis et aliis veritatem inquiras (Q 15, 57), was im königlichen Justizbrief gewöhnlich nur leicht modifiziert als vocatis partibus et aliis evocandis auditisque rationibus et deffencionibus hinc et inde propositis erscheint (Nr. 498) und so schon in Guilelmus Durantis Kapitel zu den Reskripten (Speculum iudiciale, 2. Buch, erste Fassung ca. 1276; zweite ca. 1289/91) als kuriale Standardformel erwähnt wird.58 Auch den Befehl an den delegierten Richter zu Durchführung, Abschluß und Durchsetzung von Verfahren und Urteil aus der Papstkanzlei debito fine decidas, faciens, quod decreveris, … firmiter observari bzw. auctoritate nostra firmiter/inviolabiliter observari (π 6, 11, 16, Q 11, 4, N 37) gibt es fast genauso im königlichen Justizbrief (Nr. 81), nur entfällt das im Papstbrief übliche per censuram ecclesiasticam logischerweise im Mandat des französischen Königs oder wird durch auctoritate nostra (Nr. 76, 369) ersetzt, was von päpstlichen Prozeßdelegationen an Erzbischöfe und Bischöfe aber ebenso bekannt ist. An Varianten davon finden sich etwa fine debito terminare studeas/decidas59, … faciens/facias… inviolabiliter observari (N 49ff. / Nr. 108, 199, 331), … exhibeas ipsis… iustitie complementum (Q 6, 7a / Nr. 69, 89),60 … ex parte nostra moneas diligenter et inducas, ut tales super hiis non impediant indebite vel molestent, monitione premissa previa ratione oder iusticia mediante [p. 382] compellas (δ 8, 9, Q 2, 1 / z.T. leicht verändert: Nr. 276, 479), wobei evtl. Zusätze etwa mit … non permittens talis ab aliquibus molestari (Q 6, 1 / Nr. 483) oder ähnliches angeschlossen und z.B. ein iustitia mediante (Nr. 362) eingebaut werden konnte. Auch die revocatio in statum debitum aus dem Papstreskript ist in der französischen Königskanzlei gängig (Nr. 81, 373).
Abschließend ein Blick auf die zahlreichen einschränkenden oder präzisierenden Klauseln in der conclusio, etwa das päpstliche Non obstante indulgentia, … bzw. … non obstantibus instrumentis, litteris, cautionibus, renuntiationibus et penis predictis, was in der Königsurkunde als … non obstantibus supradictis / … non obstante inhibitione bzw. ordinatione oder gratia bzw. … non obstantibus aliquibus litteris nostris auftaucht (K 15e, K 28, K 43 / Nr. 159, 190, 252, 435); oder kleinere Wendungen wie das nachgestellte si est ita, prout oder sicut iustum fuerit/expedit, proviso tamen, quod bzw. ne (N 57ff. / Nr. 5, 194, 363, 495),61 si de huiusmodi usurarum extorsione tibi constiterit, dictos usurarios compellas… bei Wuchersachen (K 26 / Nr. 94, 170), auch de quibus sine morosa dilatione constiterit, si inveneris ita esse, si de huiusmodi arrestatione, carceris mancipatione et detentione etc. … tibi constiterit und was es an leicht modifizierten Varianten noch gibt (K 18, Q 14, 5, K 20b, K 27, K 71 h / Nr. 34, 476, 495, 501, 574). Schließlich die Verpflichtung zur Rückmeldung des delegierten Richters an die Zentrale: …, alioquin rescribas nobis causam rationabilem, si qua subsit, quare id fieri non debeat vel non possit, was im Königsmandat als …, nisi rationabilis causa subsit, que si sufuerit, nobis illam celeriter rescribere non postponas begegnet (K 201, Q 14, 20, QV 346 b / Nr. 42);62 und endlich, bei gewährten Zahlungsmoratorien, die zur Gültigkeitsbeschränkung angehängte Formel presentibus post triennium / post annum etc. minime valituris (Q 6, 1 / Nr. 174).
Die Beispiele könnten noch um ein Vielfaches ergänzt werden. Die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen des Diktats sind augenscheinlich. Sie sind nicht auf Justizbriefe beschränkt, die für kirchliche Einrichtungen ausgestellt wurden, sondern sind ein allgemeines Charakteristikum – d.h. sie sind nicht allein das Resultat einer Formelübernahme aus den Suppliken von Klerikern oder besonderen, adressatenbezogenen Diktatgewohnheiten erklärbar. Einschränkend muß bemerkt werden, daß diese formalen Ähnlichkeiten in der einzelnen Archivalie natürlich nicht so geballt auftreten, wie es eine zusammenfassende Auflistung suggeriert. Viele Feinheiten des Formulars päpstlicher Justizbriefe mitsamt ihren korrespondierenden [p. 383] rechtlichen Implikationen gibt es so beim französischen Gegenstück offenbar nicht, etwa die im Papstbrief notwendige Formel et rebus aliis ad eos communiter pertinentibus, die hinter die Bezeichnung des Streitobjektes gesetzt werden mußte, wenn zwei oder mehr Kläger gemeinsam ein Verfahren wegen Besitzstörung anstrengten, da sonst jeder Kläger einzeln einen Justizbrief erwerben mußte (N 40); oder die Konvention, daß, wenn bei der Aufzählung von Streitgegenständen von debita die Rede ist, im folgenden nicht mehr der Ausdruck pecunie summa verwendet werden darf und umgekehrt (N 45). Ebenso entfiel im französischen Justizbrief aufgrund unterschiedlicher rechtlicher Grundlagen die kuriale Testes-Klausel, die mit dem kanonischen Prinzip des Zeugenzwangs zusammenhing (N 62).63
Es gibt ferner einzelne Formeln, die nicht notgedrungen aus der päpstlichen Praxis entlehnt sein müssen und die auch anderswo auftauchen. Die Formel si preces veritate nituntur/nitantur, die im französischen Justizbrief meist als si premissa veritate nitantur (Nr. 584) erscheint, war beispielsweise schon die übliche Einschränkungsklausel in spätantiken römischen Kaiserreskripten und wurde wohl von hier aus auch in die Praxis der Papstkanzlei übernommen.64 Aber dies ist ein Einzelfall und ändert nichts am grundlegenden Befund des Formelvergleiches: Festzuhalten bleibt, daß in jedem königlichen Justizbrief etwa drei bis vier mit dem Formular päpstlicher Delegationsreskripte identische Formeln verwandt wurden, und dazu noch ein bis zwei, die sehr ähnlich klingen. Das ist in Anbetracht solch relativ knapp formulierter Urkunden, wie Mandaten, recht viel; und bei Streitgegenständen, die auch rechtlich auf kanonischer Linie liegen, Materien, aus denen der königliche Bailli den Offizial im 13./14. Jahrhundert langsam verdrängte, etwa Wucher (usura) bei Kreditgeschäften, Pfandgeschäften oder bei Kontroversen um den „gerechten Preis“ bei [p. 384] Kaufverträgen,65 ist der Grad der Übereinstimmung noch höher66 – ganz zu schweigen von einzelnen hier wie dort gebrauchten Termini und Wendungen wie etwa arbitri, arbitratores seu amicabiles compositores (Nr. 141, 572), contradictores et rebelles (Nr. 73), tacita veritate (Nr. 218), in rem iudicatam transire (Nr. 52) etc.67
III
Welche Schlüsse sind aus diesem Befund zu ziehen und welche Erklärungen können gegeben werden – soweit man überhaupt weitgehende Schlüsse aus dem puren Vergleich von Formulierungsgewohnheiten ziehen kann? Mit einer Verzögerung von einem knappen halben Jahrhundert scheint die französische Krone bei der Entwicklung ihrer Justizbriefe große Teile päpstlicher Formularschemata rezipiert, in gewissen Grundideen kopiert, meist jedoch vereinfacht und für die eigenen Zwecke adaptiert zu haben. Diese parallele Kanzleipraxis mag dadurch gefördert worden sein, daß die Notare des französischen Königs selbst um 1300 noch nach wie vor zu über 50 % Kleriker waren,68 viele von ihnen universitär [p. 385] gebildet.69 Die königlichen Notare und Sekretäre kamen somit aus einem Milieu, dessen sprachliche, formale und rechtliche Kultur sie mit sich trugen und tagtäglich praktizierten. Vertrautheit mit Formulierungsgewohnheiten aus dem kirchlichen Bereich wird man somit grundsätzlich voraussetzen dürfen. Die Bibliotheken mancher Notare verweisen darüber hinaus auch auf tiefergehende Beschäftigung mit den rechtlichen und formalen Implikationen ihres Berufes: Im Testament des königlichen Notars Guillaume du Plessis werden als Bestände in seiner nachgelassenen Privat-bibliothek u.a. auch mehrere Bände des kanonischen Rechts (Dekret Gratians, Dekretalen, Liber sextus, Clementinen), Dekretalenkommentare (Summa Innocentii IV., Summa Hostiensis), ein Repertorium iuris (Bautier vermutet das des Bartholomeus Brixiensis) und zwei Artes dictaminis (Bernard de Meung und Pierre de Blois) erwähnt. Guillaume d’Ercuis kaufte 1300 sis livres de loy et unes decretales zum Preis von 32 Livres und besaß u.a. die Summe des Gottfried von Trani und den Dekretalenkommentar des Bernardus Parmensis.70
Die konkrete Rolle, die – angesichts der Vorbildung vieler königlicher Notare und der von ihnen für das Alltagsgeschäft angestellten Lohnschreiber (clercs) – möglicherweise die an Bedeutung gewinnenden Universitäten bei der Vermittlung von Formularvorlagen spielten, ist nicht mit [p. 386] letzter Sicherheit nachzuweisen. Die Universität Paris stand traditionell in einem Näheverhältnis zum französischen Königtum.71 Die Universität Orléans war bereits im 12. Jahrhundert eine Hochburg von dictamen und grammatica gewesen, ehe sie dann im 13. Jahrhundert Paris als juristische Bildungsstätte überflügelte.72 Grundsätzlich hatten Brief- und Urkundenstilistik, Ars dictaminis und Ars notaria, durchaus ihren Platz im Rahmen der Rhetorik an den Artistenfakultäten als Teil des Triviums.73 Wie man sich konkret aber dort die diesbezügliche Ausbildung vorzustellen hat, ist unklar. Ein Beleg etwa für Urkundenlehre und praktische Diktatübungen an der Universität Paris fehlt – im Gegensatz zu italienischen und englischen Universitäten, wo solche Kurse häufig in Kooperation mit in den Universitätsstädten ansässigen Korporationen öffentlicher Notare stattfanden.74 Die Pariser Statuten von 1215 verweisen für den Bereich Grammatik/Rhetorik nur lapidar auf die Kenntnis der Werke Donats und Priscians [p. 387] als Bildungsvoraussetzung für den Erwerb des Magistergrades.75 Die Zusammenstellung populär angelegter Praxishandbücher mit Musterformularen für die Tätigkeit von Offizialen und Notaren durch Autoren, die vermutlich in näherer Beziehung zu Universitäten standen, ist aber wohl Indiz für die Vermittlung auch praktischen Wissens zumindest im Umkreis der Universitäten. Die Summa Minorum des Pariser Kanonikers und Magisters Arnulphus, die ca. 1250–54 in Paris entstand, bietet eine Vielzahl von kommentierten Formularen für Justizbriefe wie Zitation, Prozeßdelegation, etc.76 Der in Nordwestfrankreich nach 1251 entstandene sogenannte Curialis enthält neben mehreren anderen Urkunden- und Prozeßaktenformularen auch Litterae papae ad iudices delegatos.77 Ob diese Werke aber im Rahmen des bzw. mit konkretem Bezug zum universitären Lehrbetriebs selbst entstanden oder ob sie eher als Reaktion auf dessen Defizite später von Praktikern zusammengestellt wurden, ist letztlich nicht entscheidbar.78 Daß sich unter den Lohnschreibern und Gehilfen der Notare des französischen Königs und der am Parlement de Paris arbeitenden Prokuratoren ehemalige Studenten der Pariser Artistenfakultät fanden, die hier sozusagen nach der Theorie der Universität als Lehrlinge die Praxis erlernten, ist anzunehmen und zumindest ab dem 15. Jahrhundert auch zu belegen.79
Für die Erklärung der Kenntnis päpstlicher Formulare in der französischen Königskanzlei müßte aber der Umweg über die Universität gar nicht bemüht werden. Papsturkunden im Original gehörten zum Alltag der Notare; sie bildeten eine eigene Archivabteilung im Trésor des [p. 388] chartes.80 Das älteste bekannte Formelbuch aus der französischen Königskanzlei, von dem nur noch ein Rubrikenverzeichnis vorhanden ist, das des Jean de Caux mit Material bis ca. 1286, hat offenbar in seinem vierten Teil eine größere Anzahl von Papstbriefen beinhaltet.81 Die Vertrautheit mit den Usancen der Papstkanzlei wird man somit voraussetzen können, was gut in das Bild des vermuteten Rezeptionsprozesses paßt.
Leider bleibt diese vergleichende Studie weitgehend auf morpho-syntaktischer Ebene stecken und kann nur teilweise auch auf kanzleitechnische und prozeßrechtliche Parallelen verweisen. Für die genaue Rekonstruktion des Geschäftsganges der französischen Königskanzlei bei der Ausstellung von Justizbriefen fehlt für die Zeit um 1300 die Quellengrundlage. Die wenigen Hinweise, die man den Parlamentsordonnanzen, etwa jener von 1310,82 entnehmen kann, zeigen immerhin, daß das Prinzip der Kontradiktion von Justizbriefen auch im Parlament Praxis war, was vermuten läßt, daß die Aufgaben der Maîtres des requêtes ähnlich denen des Auditor litterarum contradictarum gewesen sind und das Verfahren zur Ausstellung von Justizbriefen durch das Parlement de Paris eine vereinfachte Version des Prozederes durch Data communis, Audientia publica und Audientia litterarum contradictarum gewesen sein könnte.83 Auch der die königliche Verwaltung entlastende Grundansatz, Initiative und einleitende Organisation des per Justizbrief eingeleiteten Verfahrens in der Regel dem Petenten selbst zuzumuten, d.h. konkret ihm nicht nur die Klageerhebung in Paris sondern auch die Sorge für Reinschrift und Besiegelung, den Transport des Justizbriefes zum jeweils delegierten Richter und [p. 389] das mitunter nicht unproblematische Unterfangen, den Delegaten dann auch wirklich zur Prozeßaufnahme zu bewegen, zu überlassen, ist aus dem Geschäftsgang der Papstkanzlei bzw. der kanonischen Prozeßdelegation bekannt.84
Die Rechtsgrundlage, auf der das Gerichtsverfahren dann nach der Prozeßdelegation im Detail ablief, war jedoch unterschiedlich: hier kanonisches Recht, dort Stilus curie Parlamenti bzw. Coutume. Die Rezeption85 einzelner kanonischer Elemente durch das französische Recht bzw. römisch-rechtlicher Rechtsinstitute, die durch das kanonische Recht neu vermittelt wurden, ist bereits in mehreren Detailstudien diskutiert worden und kann als gesichert gelten: die Zurückdrängung germanischer Prozeßprinzipien wie etwa Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Duell und Ordalbeweis zugunsten von Enquête, Zeugenbeweis, geheimer Urteilsfindung, Schriftlichkeit, Appellation seit dem 13. Jahrhundert ist evident.86 Gabriel Le Bras schrieb ferner u.a. schon 1956 über aus dem kanonischen Recht entlehnte Prinzipien des französischen Verwaltungsrechts,87 die Coutumes du Beauvaisis waren schon mehrmals das Objekt einer diesbezüglichen Exegese,88 [p. 390] ebenso das Prinzip der Enquête,89 und Olivier-Martin machte bereits 1929 auf Parallelen der königlichen Bestallungspraxis mit dem päpstlichen Kollationswesen aufmerksam.90
Festzuhalten bleibt in jedem Fall die Tatsache, daß Formelgut, das aus der Papstkanzlei bekannt ist, auch in französischen Justizbriefen auftaucht – trotz der Unmöglichkeit, den vermuteten Rezeptionsprozeß näher beschreiben zu können. Die Entstehung staatlicher Strukturen im Spätmittelalter läßt sich nicht allein durch die verschiedensten direkten oder indirekten „Einflüsse“ erklären, sondern hat tieferliegende soziale, demographische, wirtschaftliche, technische und kulturelle Gründe, die neue Bedürfnisse und Möglichkeiten in größer gewordenen Herrschafts- und Kommunikationsräumen entstehen ließen. Innerhalb dieses Gesamtrahmens aber spielten etablierte und prestigeträchtige Organisationsvorbilder wie das römische und das kanonische Recht oder die teilweise gut funktionierende, zentralistisch organisierte Verwaltung und Kanzlei der Kurie eine wichtige Rolle. Nirgendwo, und gewiß nicht im kapetingischen Frankreich, standen die mittelalterlichen Herrscher ganz mit leeren Händen da, so daß sie die z.B. im kanonischen Recht vorgefundenen Problemlösungen einfach komplett kopiert hätten. Eigene staatliche Grundlagen existierten ja bereits seit Jahrhunderten. Dort aber, wo römisches und kanonisches Recht funktional etwas anzubieten hatten, wo eigene Coutumes lückenhaft und unsystematisch waren oder für bestimmte Erfordernisse kein brauchbares Verfahren vorhanden war, bedienten sich die Monarchien offensichtlich ganz pragmatisch – bis hinein in die Urkundenformulare. Sie entlehnten, adaptierten, schmolzen alte Formen nach den Vorbildern um oder ließen sich nur von deren Prinzipien inspirieren, manchmal auch unter vollständigem Mißverstehen dessen, was ein Begriff ursprünglich bedeutet hatte, so etwa beim römisch-rechtlichen Terminus des Reskripts.91
[p. 391] Gleiche Bedürfnisse bringen oft gleiche oder zumindest ähnliche Lösungen hervor. Schon öfter wurde auf formale Parallelitäten zwischen Urkunden weltlicher Herrscher des Mittelalters und denen der Kurie aufmerksam gemacht, wobei man häufig – ob nun berechtigt oder unberechtigt – den Bischofsurkunden eine Vermittlerrolle zuwies.92 Gerade hier, im Fall von königlich-französischem Justizbrief und päpstlichem Delegationsreskript, einem Bereich alltäglicher Kanzleiroutine, der weniger mit propagandistischen Motiven als vielmehr praktischen Zwängen befrachtet war, wird man einen Schritt weiter gehen können: das Formular des französischen Justizbriefes scheint in ganz wesentlichen Teilen nach dem Vorbild seines päpstlichen Vorläufers und Gegenstücks gestaltet worden zu sein. Der rechtliche Hintergrund ist im Detail – gemäß den unterschiedlichen Rechtssystemen oft anders gelagert, das Formengrundgerüst aber ist offensichtlich aus dem „Baukasten“ der Papstkanzlei entlehnt – ein Beispiel für den Zusammenhang der abendländischen Rechtskultur des Spätmittelalters.