[p. 77] Einflüsse des päpstlichen Urkundenwesens auf die Bischofsurkunden von Passau und Würzburg (13.–15. Jahrhundert)
Die beiden als Beispiel ausgewählten Bistümer spielten eine wichtige Rolle im Rahmen des mittelalterlichen deutschen Reiches. Würzburg1 war das bedeutendste Bistum Frankens. Neben einer großen Diözese verfügte der Würzburger Bischof auch über ein ansehnliches weltliches Herrschaftsgebiet.2 Außerdem erhielt er 1168 die Herzogswürde für seine Diözese, führte später den Titel eines „Herzogs von Franken“ und war als solcher Gerichtsherr des kaiserlichen Landgerichts in Würzburg.3 Passau4 war die bedeutendste Diözese in Bayern und flächenmäßig die größte Diözese des Alten Reiches überhaupt; sie erstreckte sich von der Bischofsstadt die Donau entlang bis nach Wien. Die politische Stellung des Passauer Bischofs war aber viel schwächer als diejenige seines Würzburger Kollegen. Sein Hochstift war gemessen an der Größe des Bistums lächerlich klein,5 und der größte Teil seiner Diözese lag im Herzogtum Österreich; die österreichischen Herzöge ertrugen es aber nur ungern, daß ein auswärtiger Reichsfürst in ihrem Herrschaftsgebiet Macht ausübte, und versuchten von Anfang an, ein eigenes Landesbistum einrichten zu lassen – wenn auch im [p. 78] Mittelalter ohne Erfolg.6 Direkt hatten die zwei Diözesen allerdings nichts miteinander zu tun: sie liegen politisch, kirchlich und auch sprachlich in verschiedenen Regionen;7 daß die Bischofsstädte heute beide zum Freistaat Bayern gehören, ist Folge der Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts und für die spätmittelalterlichen Verhältnisse ohne Bedeutung.
Zunächst sei ein kurzer Blick auf die Forschungslage geworfen. Im frühen und hohen Mittelalter ist sie für beide Diözesen recht gut, im späten Mittelalter dagegen weniger erfreulich – von der Neuzeit ganz zu schweigen. Für Würzburg gibt es die Dissertation von Johanek aus dem Jahre 1969,8 auf welcher sein Referat von 1993 auf dem Innsbrucker Kongreß9 beruht; sie reicht bis 1223. Für die spätere Zeit sind nur die Würzburger Bischofsregesten von 1401 an einschlägig, die Herde initiiert, aber noch nicht publiziert hat, und mein eigenes Kurzreferat auf dem Münchner Kongreß von 1983.10
Für Passau liegt der erste Band der Passauer Bischofsregesten von Boshof und Mitarbeitern vor, der bis 1206 reicht,11 der zweite Band bis 1254 ist so gut wie abgeschlossen, eine weitere Fortsetzung bis 1280 ist geplant. Außerdem habe ich mich 1991 auf dem Passauer Kongreß über Bischof Wolfger eingehend mit dessen Urkunden befaßt.12 Sodann reicht die etwas ältere Untersuchung von Lothar Groß13 noch bis ins Jahr 1279. Daran [p. 79] schließt sich die Magisterarbeit für Bischof Bernhard 1285–1313 von Epping14 an. Für das 14. und 15. Jahrhundert gibt es aber auch für Passau kaum einschlägige Publikationen.
Die folgenden Ausführungen stützen sich also überwiegend auf direkte Archivstudien in Würzburg und München. Die Basis bilden für beide Diözesen zusammen knapp 700 Urkunden,15 davon 540 Originale, der Rest aus der Kopialüberlieferung; das sind zwar nur etwa 3–5 % des zu erschließenden Gesamtbestandes, aber immerhin genug, um auch statistische Aussagen zu erlauben. Aus der Forschungslage folgt aber auch, daß noch keine endgültig feststehenden Ergebnisse, sondern gewissermaßen Untersuchungen „in statu nascendi“ vorgetragen werden, die weiterer Präzisierung und Absicherung auf größerer (und möglicherweise repräsentativerer) Materialbasis bedürfen.16
Grundsätzlich stellen sich der Betrachtung drei Schwierigkeiten entgegen:
- 1. wurde eingangs auf die Doppelnatur der deutschen Bischöfe als geistliche Oberhirten und weltliche Landesherrn hingewiesen. Auch für die Urkunden steht ihnen deshalb ein doppeltes Vorbild zur Verfügung, das päpstliche und das kaiserliche. Dabei überwiegt eindeutig das weltliche Vorbild. Das Thema dieses Referates lautet also im Grunde: wo lassen sich trotzdem Einflüsse des päpstlichen Urkundenwesens nachweisen?
- 2. ist methodische Vorsicht geboten. Die Urkunden des Spätmittelalters stehen ja in einer jahrhundertelangen Tradition der Urkundenausstellung mit intensiver gegenseitiger Beeinflussung der Kanzleien. Um die Dominanz einer bestimmten Kanzlei festzustellen, bedarf es also schon recht handfester Beweise; bloße Ähnlichkeiten oder Anklänge reichen, anders als im Frühmittelalter, nicht mehr aus.
- 3. gibt es das Problem der Sprache der Urkunden. Vom 13. Jahrhundert an tauchen in Deutschland volkssprachliche Urkunden auf; die älteste [p. 80] deutsche Königsurkunde stammt bekanntlich von 1240.17 Die deutsche Urkundensprache emanzipiert sich dabei erstaunlich schnell vom lateinischen Vorbild, bildet aber ebenso schnell überregionale Gemeinsamkeiten aus.18 Es versteht sich von selbst, daß die päpstlichen Urkunden die deutschsprachigen Bischofsurkunden nur schwer direkt beeinflussen können und daß ein solcher Einfluß noch schwerer nachzuweisen ist. Die älteste deutsche Urkunde aus den beiden untersuchten Kanzleien stammt, soweit sich bisher feststellen ließ, für Würzburg von 1282,19 für Passau von 1283.20 Um die Mitte des 14. Jahrhunderts erreicht der deutsche Anteil die Hälfte und wird dann bei ca. 70 % stabil. Bei den Würzburger Urkunden ist er höher als in Passau; dies dürfte wohl auf die größere Aktivität des Würzburgers in weltlichen Angelegenheiten zurückzuführen sein.21 Gegenstand der Untersuchung sind also im folgenden überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, die lateinischen Urkunden.
Auf welchem Wege kann sich ein Einfluß der päpstlichen Urkunden geltend machen? Es gibt vor allem drei Möglichkeiten:
- 1. durch persönliche Kenntnis der Kurie seitens eines Ausstellers oder Kanzlisten. Klassisches Beispiel dafür ist der Passauer Domdekan Albert Behaim († 1260),22 der sich dreißig Jahre lang an der Kurie aufhielt und anschließend als Generalvikar Bischof Bertholds vier Jahre lang in Passau allmächtig war. Auch die Bischöfe selbst hatten Beziehungen zur kaiserlichen Kanzlei, so etwa der Würzburger Bischof Konrad von Querfurt (1198–1202) zu Beginn und die Passauer Bischöfe Georg Graf von Hohenlohe (1390–1423) und Ulrich von Nußdorf (1451–1479) gegen Ende unseres Zeitraums. Abgesehen von diesen Sonderfällen sind wir aber über das Kanzleipersonal aus Mangel an Quellen kaum unterrichtet. Die datum-per-manus-Formel, [p. 81] die ohnehin selten ist, hört nach 1243 ganz auf,23 ebenso die Nennung von Notaren in den Zeugenlisten und die Zeugenlisten überhaupt nach der Mitte des 14. Jahrhunderts.
- 2. können für den päpstlichen Einfluß konkret vorliegende Papsturkunden als Vorbild dienen, wobei vor allem jene Beispiele interessant sind, bei denen das Vorbild mißverstanden wird.24
- 3. kann der Schreiber auch in den vorhandenen Anleitungen nachlesen, sofern sie ihm zur Verfügung stehen. Als Beispiel sei diese Möglichkeit für das Formularium Audientiae überprüft: die von Würzburg aus nächste Handschrift stammt aus Frankfurt/Main, für Passau kommt Freising in Frage,25 also ein eher negatives Ergebnis, wenn es auch zwischen Passau und Freising personelle Verflechtungen gab.
Wie sieht das alles nun konkret aus? Als päpstliches Vorbild26 für die äußeren Merkmale kommen im 13.–15. Jahrhundert ausschließlich die litterae in Frage. (Privilegien werden kaum noch ausgestellt; sie sind zwar auch in den Archiven als Vorlage greifbar, spielen aber in der Praxis keine Rolle mehr. Ebensowenig ist im 15. Jahrhundert irgendein Einfluß der Breven zu beobachten; wenn die Bischöfe Urkunden in reduzierter Form27 ausstellen wollen, halten sie sich ausschließlich an das weltliche Muster.28) Als konkretes Vorbild kann die gesamte päpstliche Urkunde dienen, oder auch nur einzelne ihrer Merkmale. Das Vorbild einer ganzen Papsturkunde ist immer dann gegeben, wenn eine solche Urkunde einer bischöflichen Urkunde inseriert wird. Es ließ sich ein Beispiel auffinden, bei welchem sich die Bischofsurkunde deutlich in der äußeren Gestalt der Papsturkunde annähert,29 freilich gibt es auch das Gegenbeispiel, bei dem die Bischofsurkunde von dem Vorbild völlig unberührt bleibt.30
[p. 82] Im Folgenden wird ein Merkmal herausgegriffen, das sich gut untersuchen läßt, nämlich die Anordnung des Textes auf der Seite. Wie 1976 nachgewiesen,31 gilt in den päpstlichen Litterae die Regel, daß im Durchschnitt in einer Zeile immer ebensoviele Wörter stehen, wie die Urkunde Zeilen hat; anders ausgedrückt: der Quotient „Zeilenzahl/Wörter pro Zeile“ beträgt 1. Dieser Wert wird von der päpstlichen Kanzlei erstaunlich genau eingehalten; Abweichungen gibt es nur bei den Bullen ad perpetuam rei memoriam, bei denen die Länge der ersten Zeile vordefiniert ist. Wer diese Berechnung auch für die Würzburger und Passauer Bischofsurkunden durchführt, erlebt jedoch ein völliges Desaster: der Wert schwankt für Würzburg zwischen 0,25 und 3,33, für Passau zwischen 0,39 und 2,92, und selbst bei Durchschnittswerten über längere Zeiträume und gleitenden Durchschnitten ergeben sich wilde und nicht interpretierbare Schwankungen. Es bestehen auch keine Zusammenhänge mit dem Format der Urkunden.
Ebensowenig läßt sich – von einzelnen, nicht signifikanten Ausnahmen abgesehen – bei der Ausstattung der ersten Zeile ein päpstlicher Einfluß erkennen, d.h. wir finden für den Bischofsnamen keine stark hervorgehobenen Initialen in geschwärzter oder verzierter gotischer Majuskel, sondern lediglich dünnstrichige Buchstaben.32 Auch am Ende des Textes wird entgegen dem päpstlichen Gebrauch kein Zeilenschluß hergestellt.
Kommen wir nun zu den inneren Merkmalen. Auch hier gibt es eine charakteristische Situation, in der die ganze Papsturkunde ihren Einfluß ausübt, nämlich bei den bischöflichen Ablässen, die weitgehend nach päpstlichem Vorbild stilisiert sind, so allein acht Fälle mit dem Incipit Quoniam ut ait apostolus.33 Das ist nicht verwunderlich, denn der bischöfliche Ablaß ist meistens nur die Zugabe zu einem päpstlichen Ablaß, dessen Urkunde dem Bischof vorgelegt werden muß; der Bischof ergänzt ihn bei dieser Gelegenheit gewöhnlich durch einen eigenen Ablaß.
Wo ein solches konkretes Vorbild fehlt, lassen sich bei der Masse34 der Urkunden aber nur einzelne Beeinflussungen erkennen. Das Protokoll ist [p. 83] ganz unergiebig, denn die Mehrzahl der Urkunden weist eine Invocatio oder eine Einleitung durch Nos auf, beides Elemente, die der Papsturkunde fremd sind. Bei der Arenga sind einige komplette Übernahmen des päpstlichen Formulars zu beobachten, so etwa mehrfach Cum a nobis petitur,35 meistens handelt die Arenga aber von der menschlichen Vergeßlichkeit, die in den Papsturkunden nur ganz selten thematisiert wird – sofern eine Arenga nicht überhaupt fehlt wie in den meisten deutschen Urkunden.36 Der eigentliche Kontext beginnt gern mit einer Formel wie Eapropter oder Hinc est, quod: das erinnert an das päpstliche Formular, aber auf das Hinc est folgt nun nicht etwa der Rechtsinhalt der Urkunde, sondern eine ausführliche Publicatio, und zwar selbst dann, wenn im Protokoll bereits alle zukünftigen Generationen angesprochen sind; ein solches Verfahren ist der Papsturkunde fremd. Auch die Korroborationsformeln enthalten Wendungen, die mit Nulli ergo und Siquis autem beginnen, aber diese Formeln sind in weitaus umfänglichere Verfluchungen eingebettet, die nicht nur abstrakt den Zorn Gottes, sondern weitaus konkretere Strafen im Jenseits androhen.
Die Datierung schließlich weist keine Beziehungen zu päpstlichen Kanzleigebräuchen auf: Als Jahresangabe dient grundsätzlich das Inkarnationsjahr, das in den päpstlichen Litterae fehlt und erst 1431 wieder aufgenommen wird; das Pontifikatsjahr, das sich in allen päpstlichen Urkunden findet, verschwindet dagegen aus den Bischofsurkunden nach der Mitte des 13. Jahrhunderts. Ebenso verschwindet die römische Datierung in der Mitte des 14. Jahrhunderts zugunsten der Festdatierung, und zwar in deutschen und lateinischen Urkunden; und es kommt im späten 14. Jahrhundert bereits die moderne Form der Tagesangabe auf, die an der Kurie nur in den Breven verwendet wird, die aber, wie oben schon erwähnt, auf die Bischofsurkunden überhaupt keinen Einfluß ausüben.
[p. 84] Fassen wir zusammen: das Ergebnis ist überwiegend negativ. Sofern nicht ein konkretes Pergament als Vorbild vorliegt, verwenden die bischöflichen Kanzleien allenfalls einzelne Elemente der Papsturkunden, und auch diese oft nicht im ursprünglichen Sinne. Die Reste von Ähnlichkeiten, die kurz nach 1200 noch zu beobachten sind, werden im Laufe des 13. Jahrhunderts abgebaut. Eine freie Adaption des päpstlichen Vorbilds ist nicht zu beobachten, die Urkunden sind weitgehend nach weltlichen Vorbildern ausgerichtet, und zwar um so deutlicher, je weiter die Zeit fortschreitet. Aber auch ein negatives Ergebnis ist ein Ergebnis, und ein solches Ergebnis ist wichtig für die Bewertung derjenigen Kanzleien, die ihre Gebräuche nachweislich am päpstlichen Vorbild ausrichten.37
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