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[p. 201] Das feierliche Präzept der langobardischen Fürsten von Capua und Benevent

Der konservative Grundcharakter des abendländischen Urkundenwesens bringt es mit sich, daß abrupte Änderungen in den äußeren und inneren Merkmalen einzelner Urkundengruppen selten sind; wenn sie vorkommen, dürfen sie mit Recht das besondere Interesse der gelehrten Forschung beanspruchen. Um einen solchen Fall soll es im folgenden gehen.

Das plötzliche Aufkommen des neuen feierlichen Präzeptes der langobardischen Fürsten von Capua und Benevent ist nur vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung in der Südlangobardia an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert zu verstehen1. Mir ist kein anderer Fall bekannt, in dem eine innenpolitische Umwälzung, verbunden mit einem Dynastiewechsel, mit solch einschneidenden Veränderungen im Urkundenwesen der betroffenen Dynasten einhergegangen wäre. Worum geht es im Einzelnen ?

Das schon zu Zeiten des langobardischen Königreichs weitgehend selbständige langobardische Herzogtum Benevent, das im 7. und 8. Jahrhundert bis auf kleine byzantinische Restgebiete zeitweilig fast ganz Süditalien vereinigte, hatte auch nach der Einnahme Pavias durch Karl d. Gr. 774 fränkischen Eroberungsversuchen im wesentlichen erfolgreich getrotzt. Herzog Arichis II., ein Schwager des letzten Langobardenkönigs Desiderius, hatte nach 774 seine neue quasikönigliche Stellung als Herrscher (dominus) der nicht unter die fränkische Herrschaft gefallenen langobardischen Teilgens durch die Rangerhöhung zum Princeps und durch den neuen Princeps – Titel in seinen Urkunden Ausdruck verliehen. Unter seinen Nachfolgern kam es zur Teilung des Principats; neue Teilresidenz wurde in den 840er Jahren Salerno.

Mit Kaiser Ludwig II., dem ältesten Sohn Kaiser Lothars I., der schon 840 in dessen Vertretung in Pavia zurückgeblieben war, setzte in Rivalität zu Byzanz eine neue Phase fränkischer Eroberungsversuche in Süditalien ein – zusätzlich stimuliert durch das dreiste Auftreten sarazenischer Freibeuter, die 844 sogar St. Peter in Rom geplündert hatten. Ludwig II., der imperator Italiae wie er von Hinkmar von Reims etwas geringschätzig genannt wird, verlegte Ende 866 seine Residenz nach Benevent, nachdem er zuvor Capua und Salerno unterworfen bzw. zur Anerkennung seiner Oberhoheit gezwungen hatte, und entriß 871 nach langer Belagerung mit byzantinischer Flottenunterstützung Bari wieder den Sarazenen. Nach dem Aufstand des Fürsten Adelchis II. von Benevent gegen ihn noch im selben Jahr wich er 872 für über ein Jahr nach Capua aus. Das unter dem Grafen und Bischof Landulf II. (863–879) aufstrebende „neue“ Capua wurde damals – neben den schon traditionell den Frankenherrschern nahestehenden großen Benediktinerabteien Montecassino [p. 202] und S. Vincenzo al Volturno – zum neuen Zentrum der fränkischen Herrschaft in Süditalien2.

Nach dem Tod des politisch letztlich gescheiterten Kaisers 875 gerieten die südlangobardischen Fürsten wieder stärker unter byzantinischen Einfluß. Während die fränkischen Nachfolgekämpfe um das Erbe Ludwigs II. ganz Oberitalien jahrzehntelang nicht zur Ruhe kommen ließen, setzte sich Byzanz unter Kaiser Basileios I. dauerhaft in Bari fest. Schon Fürst Aio II. von Benevent (884–890) unterstellte sich wahrscheinlich 887 für kurze Zeit formal dem byzantinischen Kaiser. Nach seinem Tode (890), als in Benevent Aios unmündiger Sohn Ursus residierte, nutzten byzantinische Truppen die Gunst der Stunde und eroberten (891) nach mehrmonatiger Belagerung die Stadt, in der jetzt der byzantinische Stratege Symbatikios seinen Sitz nahm3. Das byzantinische Tema Langobardia wurde damals als neue Verwaltungseinheit für die eroberten Gebiete eingerichtet.

Die direkte byzantinische Herrschaft währte bis 895, als der fränkische Markgraf Wido IV. von Spoleto, wahrscheinlich ein Neffe des ein Jahr zuvor gestorbenen Kaisers Wido, mit Unterstützung des mit ihm verwandten Fürsten Waimar I. von Salerno die Stadt besetzte. Zusammen mit der Kaiserin Ageltrude, einer Tochter des Fürsten Adelchis II. von Benevent, übergab er die Stadt kurz vor seinem Tode (897) mit dem Einverständnis des Widonenkaisers Lambert wieder dem Fürsten Radelchis II., einem Bruder der Ageltrude, der schon zu Beginn der 80er Jahre in Benevent regiert hatte. Nach dem plötzlichen Tode Lamberts am 15. Oktober 898, mit dem die widonischen Hoffnungen auf die Renovatio regni Francorum endgültig zerrannen, konnte sich Radelchis II. nur noch für kurze Zeit in Benevent halten. Im Januar 900 wurde die Stadt mit Unterstützung oppositioneller beneventanischer Kreise von Graf Atenolf von Capua (887–910), dem Neffen Landulfs II., der 887 die Alleinherrschaft über Capua erlangt hatte, erobert. In der von Arichis II. gegründeten vornehmsten Kirche der Stadt, der „Staatskirche“ S. Sophia, ließ er sich anschließend feierlich zum neuen Princeps proklamieren.

Mit der ersten Urkunde des neuen Fürsten von Benevent und Capua beginnt ein völlig neuer Abschnitt im Urkundenwesen der beneventanischen Fürsten, das bis zu diesem Zeitpunkt ausgesprochen konservativ gewesen war. Während Arichis II. nach 774 parallel zu seiner Rang- und Titelerhöhung ein weitgespanntes herrscherliches Repräsentationsprogramm entwickelt hatte, das – um nur die wichtigsten Stichworte zu nennen – durch Reichskirchenbau und Münzprägung, Gesetzestätigkeit und Bildnisrecht, Hofzeremoniell und Mitherrschertum charakterisiert war, lassen sich vergleichbare Aufwertungstendenzen in seinen Urkunden nicht nachweisen. Das beneventanische Herzogspräzept des ausgehenden 8. und 9. Jahrhunderts war und blieb – ähnlich wie die langobardische Königsurkunde – von wenig feierlichem Äußeren (Abb. 1). Es ähnelt auf den ersten Blick eher einer gewöhnlichen Charta als einer fränkischen Königsurkunde. Lediglich das vor dem Actum in der Mitte des unteren Viertels eingedrückte Wachssiegel, der Fortfall der Zeugenunterschriften sowie die in vergrößerter Schrift gehaltene Schlußdatierung zeichneten das beneventanische Präzept vor der gewöhnlichen Charta aus. Ob es tatsächlich [p. 203] Arichis war, der diese Auszeichnungsschrift, die übrigens keineswegs mit der fränkischen Elongata gleichgesetzt werden darf, eingeführt hätte, wie dies einmal beiläufig vermutet wurde4, ist keineswegs erwiesen.

Ganz anders als das alte langobardische Präzept präsentiert sich dagegen die neue Urkunde Atenolfs von Capua und Benevent, von VOIGT nicht zu Unrecht als „feierliches Privileg“ bezeichnet5. Von April 901 datiert die erste im Original überlieferte Urkunde des neuen Fürsten (Abb. 2). Sie ist durch und durch Herrscherurkunde, „mächtige“ Urkunde, erkennbar an der ausgeprägten Elongata in Protokoll und Eschatokoll, dem neuen, fast quadratischen Format, der ausgeprägten Urkundenminuskel des Kontextes mit ihren markant verzierten Oberlängen, der klaren Gliederung in Eingangszeile, Hauptkörper und Schlußteil, überhaupt dem Layout, also der Verteilung der Schrift und der graphischen Symbole im Pergamentraum, das wie bei jeder herrscherlichen Urkunde durch die Verschiebung der optischen Mitte in die untere Bildhälfte und den großzügigen Umgang mit dem Schreibraum charakterisiert ist6.

Hinzu kommen mehrere auffällige graphische Symbole und Zeichen, die der neuen Urkunde von vornherein den Charakter des Unverwechselbaren, des nur für die Fürsten von Capua und Benevent Typischen verleihen: das große, bis auf die zweite Zeile herabreichende Zierkreuz, das das kleine einfache Kreuz des Präzeptes ersetzt hat, und, noch auffälliger, das große, in Rot gezeichnete, kreuzförmige Monogramm des Fürsten. Es versteht sich von selbst, daß auch das relativ gut erhaltene Wachssiegel mit dem Brustbild des Fürsten inmitten des unteren Drittels der Urkunde am Ende der Signumzeile zu den typischen Merkmalen der Herrscherurkunde zählt.

Der optische Gesamteindruck des neuen feierlichen Präzeptes läßt unschwer den Einfluß und das Vorbild der fränkischen Königsurkunde erkennen, wie sie den südlangobardischen Fürsten, nicht zuletzt auch den Gastalden und Grafen von Capua, durch das Wirken Kaiser Ludwigs II. und der Widonenkaiser Wido und Lambert in Süditalien vermittelt worden ist. Von einer pauschalen Übernahme oder gar Kopie der äußeren Merkmale der fränkischen Königsurkunde kann man aber auf keinen Fall sprechen.

Im Unterschied zur fränkischen Königsurkunde fehlt in der Urkunde Atenolfs vor allem die Rekognitionszeile mit dem charakteristischen Rekognitionszeichen, dem sogen. Bienenkorb. An ihrer Stelle findet sich auf neuer Zeile eine in Kontextschrift ausgeführte einfache Schreiberformel, die keinerlei hierarchisch gegliederte Kanzlei erkennen läßt. Auch die Signumzeile Atenolfs entspricht nicht völlig dem fränkischen Vorbild, ist sie doch vor allem durch die ansonsten im abendländischen Urkundenwesen unbekannte und schon daher byzantinischen Einfluß verratende rote Tintenfarbe des großen Namensmonogramms charakterisiert. Auch die graphische Form des kreuzförmigen, um das kleine o gruppierten Monogramms entspricht keineswegs dem seit Ludwig d. Fr. üblichen fränkischen Kastenmonogramm, sondern ist älteren langobardischen Ursprungs.

Das für die fränkische Königsurkunde so überaus charakteristische Chrismon ist [p. 204] von den Schreibern des neuen feierlichen Präzeptes der Fürsten von Capua und Benevent nicht aufgegriffen worden. Das an seiner Stelle am Urkundenanfang kunstvoll gezeichnete große Zierkreuz ist eigenständig entwickelt worden. Das Kreuz hat im Herrscherzeremoniell der Langobarden von altersher eine große Rolle gespielt. Auffallend große Kreuze finden sich wieder auf südlangobardischen Münzen. Das Motiv des ein Kreuz in seiner rechten Hand wie ein Szepter emporhaltenden Fürsten treffen wir auch auf dem Vordersiegel der gezeigten Urkunde Atenolfs an.

Schließlich findet auch die Eigenart der Schreiber, die erste, in Elongata gezeichnete Zeile genau mit einer kurzen Standardarenga abschließen zu lassen, in der fränkischen Königsurkunde keine Parallele. Man wird sogar vermuten dürfen, daß der ausschließliche Gebrauch dieser kurzen Standardarenga, die wegen ihrer eliptischen Fassung aus einer längeren Version abgeleitet sein muß, gerade aus den Bestrebungen der Schreiber resultiert, die Eingangszeile genau mit der Arenga enden zu lassen.

Zuguterletzt entbehren auch einige graphische Eigentümlichkeiten, die teilweise schon in den ersten Urkunden Atenolfs begegnen, teilweise aber auch erst später auftauchen, jeglichen fränkischen Vorbilds, sind vielmehr genuin langobardische Entwicklungen, vielleicht durch byzantinische Vorbilder angeregt7. Während die in Capua von dortigen Schreibern ausgestellten Urkunden das Datum im Eschatokoll (Data nebst Tagesangabe) in vergrößerter Kontextschrift auszeichnen, sind die in Benevent ausgestellten Urkunden seit der Mitte des 10. Jahrhunderts durch ein auffällig großes Majuskel – A im Wort Actum gekennzeichnet. Dieses hängt seinerseits vielleicht mit der gleichermaßen auffälligen Betonung des Actum-A in einigen älteren Präzepten zusammen – dort allerdings in Form eines in Schlangenlinie nach oben verlängerten kursiven offenen a. Denselben Tendenzen zur Standardisierung und graphischen Betonung stereotyper Urkundenformeln entspringt die auffällig große P (er) – Kürzung, mit der schon in den ersten neuen Privilegien die Dispositio eingeleitet wird: p (er) quos omnino sancimus

Alle diese graphischen Eigentümlichkeiten erlauben dem Betrachter der Urkunde nicht nur eine rasche Textorientierung, sie verleihen der Urkunde auch optisch den Charakter des Besonderen, Feierlichen, Typischen, machen sie von vornherein kenntlich als in Capua oder Benevent ausgestellte Fürstenurkunde. Vergleichbare Motive sind etwa auch bei der Verwendung der Reservatbuchstaben in der byzantinischen Kaiserurkunde zu unterstellen. Möglicherweise hat die byzantinische Kaiserurkunde nicht nur durch die rote Farbe des Monogramms, sondern auch durch solche Eigentümlichkeiten auf die südlangobardische Fürstenurkunde eingewirkt.

Das Vorbild der fränkischen Königsurkunde ist im Formular der neuen südlangobardischen Fürstenurkunde in einem sehr viel stärkeren Maße als in den äußeren Merkmalen nachweisbar. Während das ältere langobardische Präzept die im fränkischen Diplom übliche Dreigliederung in Protokoll, Kontext und Eschatokoll vermeidet und sogar so typische Formeln wie Arenga und Promulgatio, Corroboratio und Signumzeile (bis auf wenige Ausnahmen) völlig vermissen läßt, treffen wir in [p. 205] der Urkunde Atenolfs von Capua die genannten Formeln ohne Ausnahme und genau in der Reihenfolge an, die uns aus der fränkischen Königsurkunde so vertraut ist. Bemerkenswert ist dabei wieder die schon in den äußeren Merkmalen festgestellte Tendenz zur weitgehenden Standardisierung und Harmonisierung. Die fränkische Königsurkunde hat bekanntlich trotz einer gleichbleibenden Grundstruktur vielfältig regional und historisch – kanzleigeschichtlich differenzierte Urkunden hervorgebracht, die überhaupt erst die Voraussetzung für die Diktatuntersuchungen der diplomatischen Forschung darstellen. Nicht so die neue südlangobardische Fürstenurkunde. Aus dem offensichtlich den Kanzelisten Atenolfs zur Verfügung stehenden Fonds fränkischer Diplome schaffen sie ein relativ knappes, vielfältig verwendbares Standardmuster, das in der Folgezeit im wesentlichen unverändert tradiert wird.

Die einmal ausgewählte Invocatio In nomine domini Salvatoris nostri Iesu Christi Dei eterni wird stets beibehalten, die kurze Arenga Cum principalis excellentia petitione dilecti sui iuste petentis clementer favet kaum variiert. Die Intitulatio lautet bis auf wenige Ausnahmen Atentolfus divina ordinante providentia Langobardorum gentis princeps. Auch die Promulgatio Quapropter noverit omnium fidelium nostrorum presentium scilicet ac futurorum sollertia wird kaum abgewandelt. Selbst die einleitenden Worte der Dispositio mit dem überaus charakteristischen per quos omnino sancimus sind weitgehend standardisiert. Gleiches gilt für die Corroboratio (Ut autem hec nostra concessio verius observetur, manu propria scripsimus et ex anulo nostro subter iussimus sigillari) und das gesamte Eschatokoll (Signum [M] domni Atentolfi serenissimi principis [SI]. / Petrus clericus et scriba ex iussione supradicte potestatis / Dat. IIII. Id. Aprelis anno secundo principatus domni Atentolfi excellentissimi principis, indictione quarta. Actum in civitate Capuana).

Obwohl man für jede Formel und fast jede Wendung Parallelen in der fränkischen Königsurkunde aufzeigen kann8, hat es ein bestimmtes fränkisches Diplom oder eine bestimmte Diktatgruppe, die den Kanzlisten Atenolfs als Vorbild gedient hätte, offensichtlich nicht gegeben. Selbst jene fränkisch-italische Spät- und Sonderform, wie sie in der Spätzeit Ludwigs II., etwa zeitgleich mit seinem Eingreifen in Süditalien in der Mitte der 60er Jahre, entstanden ist – auf diesen Urkunden, die ich in anderem Zusammenhang schon einmal näher untersucht habe9, basieren auch die fränkisch-italischen Diplome eines Berengar und vor allem der Widonen, mit denen die südlangobardischen Fürsten nicht nur politisch konfrontiert wurden, sondern mit denen sie auch verwandtschaftlich verbunden waren – hat keinen dominierenden Einfluß ausgeübt.

Wie bei einer Collage üblich haben die ersten Kanzlisten Atenolfs die ihnen passend erscheinenden Formeln aus dem ihnen zur Verfügung stehenden fränkischen Urkundenfonds gewissermaßen herausgelöst und neu zusammengesetzt. So entstand eine für fast alle gewöhnlichen Rechtsinhalte zutreffende Standardform, die in der Folgezeit kaum noch weiterentwickelt, jedenfalls nicht durch weitere Vorbilder aus dem reichen fränkischen Urkundenschatz angereichert und erweitert wurde.

[p. 206] Dieser auf weitgehende Effizienz ausgerichteten Arbeitsweise entspricht es auch, daß die Kanzlisten Atenolfs gerade jene äußeren Merkmale der fränkischen Königsurkunde haben fallen lassen, deren Bedeutung den Zeitgenossen nicht oder kaum noch verständlich war, nämlich das seinen ursprünglichen Sinn kaum noch offenbarende Chrismon und das völlig sinnentleerte Rekognitionszeichen – beides übrigens Merkmale, die die jüngeren abendländischen Urkunden bald ebenfalls abstoßen sollten.

Wer aber hat die neue Fürstenurkunde Atenolfs konzipiert ? Hat Atenolf schon als Graf von Capua Urkunden ausgestellt, die sich stärker an fränkischen Vorbildern als an der gewöhnlichen langobardischen Charta orientiert haben ? Oder haben seine Kanzlisten – sei es nun der sich schon in der ersten überlieferten Urkunde als Schreiber nennende und noch bis 928 bezeugte Petrus clericus ac scriba oder ein dahinterstehender ungenannter Diktator und Kanzleileiter – die neue Urkunde nach der Rangerhöhung des Grafen ad hoc entwickelt, wofür allein schon die chronologische Abfolge, d. h. die dichte zeitliche Aufeinanderfolge von alter und neuer Urkunde, spricht ?

Da keine Urkunden aus der gräflichen Epoche der neuen capuanischen Dynastie überliefert sind, weder Grafen- noch Bischofsurkunden, sind wir bei der Beantwortung dieser Frage weitgehend auf Hypothesen angewiesen. Zwar ist es richtig, daß, wie schon PRATESI erkannt hat10, die eliptisch verkürzte Arenga der Urkunde Atenolfs voraussetzt, daß den Schreibern schon um 900 die ungekürzte Fassung geläufig war11, doch muß diese vollständige Fassung nicht notwendigerweise bereits in Grafenurkunden Atenolfs vorgekommen sein. Bei der eigentümlichen Arbeitweise des Konzipienten kann sie genausogut in den ihm zur Verfügung stehenden fränkischen Königsurkunden vorgekommen sein. Ihr Gedankengut ist traditionell, und wenn sich auch ihr Wortlaut exakt in dieser Form nicht nachweisen läßt, sind die vielen Parallelen in den fränkischen Königsurkunden doch unübersehbar.

Eine wichtige, bislang wenig beachtete Voraussetzung für das Aufkommen der neuen Fürstenurkunde stellt der parallele tiefgreifende Wandel im Kreis der für die Anfertigung der Fürstenurkunden zuständigen Kanzlisten dar. Vor 900 wurden die Präzepte der Fürsten von Benevent durchweg von Laiennotaren verfaßt. Diese Notare standen zwar in einer engen Beziehung zum Fürsten, haben aber nie ausschließlich für diesen gearbeitet, sondern auch gewöhnliche Chartae vor allem für dem Hof nahestehende Privatleute geschrieben.

Nach 900 werden die Fürstenurkunden sowohl in Benevent als auch in Capua zunächst ausschließlich von Klerikern geschrieben, die sich schon durch ihren neuen Scriba – Titel von den älteren Notaren unterscheiden. Bei diesen Klerikern haben wir es wahrscheinlich mit Hofgeistlichen zu tun, die im Unterschied zu den älteren Notaren nunmehr ausschließlich für den Fürsten arbeiten.

Im Kreise dieser Hofgeistlichen, die Atenolf wohl schon vor 900 gedient haben und die unbeeinflußt von der Schultradition des älteren langobardischen Urkundenwesens waren, haben wir wahrscheinlich auch jenen führenden Geistlichen zu suchen, der die neuen feierlichen Präzepte konzipiert hat.

[p. 207] Woher nahm dieser Geistliche aber den fränkischen Urkundenfonds, den er baukastenartig bei seiner Tätigkeit herangezogen hat ? In diesem Zusammenhang verdient es Beachtung, daß sowohl der Konvent des Klosters Montecassino als auch der des Klosters S. Vincenzo al Volturno nach der Zerstörung ihrer Klöster durch die Sarazenen in den Jahren 881 bis 883 enge Kontakte zu Atenolf von Capua geknüpft und eine vorübergehende Bleibe in oder bei Capua gefunden hatten12. Klöster aber besaßen zahlreiche fränkische Herrscherurkunden. Die Hofgeistlichen Atenolfs, wo immer sie auch herstammten, werden fraglos schon vor der Rangerhöhung ihres Herrn mit diesen traditionellen Zentren fränkischer Kultur in Berührung gekommen sein13. Die Vermutung liegt daher nahe, daß der für die Konzipierung der neuen Fürstenurkunde verantwortliche Geistliche die Urkundenschätze der beiden genannten Klöster ausgeschlachtethat. Vielleicht läßt sich diese Hypothese durch detaillierte Diktatuntersuchungen noch erhärten. Jedenfalls steht fest, daß der Konvent von Montecassino um 900 nicht nur enge Kontakte zu Atenolf I. unterhalten, sondern daß auch der neue Fürst die Mönche ganz besonders gefördert hat14.

Die weitere Entwicklung der südlangobardischen Fürstenurkunden soll abschließend nur kurz skizziert werden15. Neben dem feierlichen Präzept Atenolfs haben dessen Kanzlisten von vornherein auch ein einfaches Präzept konzipiert, das vor allem die Signumzeile mit dem Monogramm sowie die Elongata der ersten Zeile fortläßt und überhaupt in seinem einfachen Aufbau eher dem älteren Präzept als der neuen feierlichen Urkunde ähnelt16.

Die in Benevent ausgestellten feierlichen Präzepte unterscheiden sich in unwesentlichen Einzelheiten von den aus Capua stammenden; auch wurden sie durchweg von anderen Schreibern mundiert, so daß wir von zwei unterschiedlichen Beurkundungsstellen auszugehen haben.

Nach dem Tode Landolfs IV. (982) zerfällt das Fürstentum wieder in die Teilfürstentümer Benevent und Capua. In Capua folgt dem letzten langobardischen Fürsten Landulf VI. 1062 der erste normannische Fürst Richard I., der die Stadt zuvor nach mehrjähriger Belagerung erobert hat. Die letzte Urkunde eines langobardischen Fürsten von Benevent datiert von 107717.

Im Unterschied zu den beneventanischen Fürstenurkunden setzen die Präzepte der Fürsten von Salerno die Tradition des älteren langobardischen Präzepts nach 900 ungerührt fort18. Erst zu Beginn des 11. Jahrhunderts, auch dort mit der Tätigkeit von Hofgeistlichen anstelle von Laiennotaren, entwickeln sie feierlichere äußere Formen, die sich allerdings nicht am Vorbild der Fürsten von Capua oder am Vorbild der ottonisch-salischen Kaiserurkunde orientieren. Auffälligstes äußeres Herrschaftszeichen der salernitanischen Fürstenurkunden des 11. Jahrhunderts ist das relativ große, eingedrückte Wachssiegel19. Fürst Waimar IV. von Salerno hat von 1038 bis 1047 auch über Capua geherrscht. Die in Capua von ihm ausgestellten Urkunden wurden nach dem Vorbild der dort üblichen Privilegien mundiert. Auch Salerno wurde 1077 von den Normannen erobert.

Die Edition der über 300 langobardischen Fürstenurkunden stellt ein dringendes [p. 208] Desiderat der diplomatischen Forschung dar. Ihre Aufnahme in ein Faksimile – Corpus der abendländischen Herrscherurkunden scheint mir unabdingbar.

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1. 810. Grimoald IV. von Benevent. Voigt, Nr. 34
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2. 925, 23. 2. Capua. Atentolf II von Capua. Voigt, Nr. 130

1 Auf Einzelnachweise wird im folgenden weitgehend verzichtet; vgl. H. ZIELINSKI, Die südlangobardische Fürstenurkunde zwischen Kaiserdiplom und Charta (Scrittura e produzione documentaria nel Mezzogiorno longobardo. Atti del Convegno internazionale di studio [Badia di Cava, 3–5 Ottobre 1990], a cura di G. VITOLO e F. MOTTOLA. Badia di Cava 1991, S. 191–222), mit zahlreichen Abbildungen im Text.

2 Vgl. N. CILENTO, Capua e Montecassino nel IX secolo (Montecassino. Dalla prima alla seconda distruzione. Momenti e aspetti di storia cassinese [Secc. VI-IX]. Atti del II Convegno di studi sul medioevo meridionale [Cassino – Montecassino, 27–31 maggio 1984], a cura di F. AVAGLIANO. Montecassino 1987, S. 347–362) S. 356.

3 Abt Ragemprand von Montecassino ließ sich 892 den Klosterbesitz von Symbatikios bestätigen: H. HOFFMANN, Die älteren Abtslisten von Montecassino (Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 47. 1967, S. 224–354) S. 265.

4 E. GARMS-CORNIDES, Die langobardischen Fürstentitel (774–1077) (Intitulatio II. Lateinische Herrscher- und Fürstentitel im neunten und zehnten Jahrhundert, hrsg. von H. WOLFRAM. Wien-Köln-Graz 1973 [Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband XXIV] S. 341–451) S. 348.

5 K. VOIGT, Beiträge zur Diplomatik der langobardischen Fürsten von Benevent, Capua und Salerno. Diss. Göttingen 1902, S. 17 u. ö.

6 Vgl. P. RÜCK, Die Urkunde als Kunstwerk (Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends, hrsg. von A. van EUW u. P. SCHREINER, Bd. II. Köln 1991, S. 311–333) S. 330.

7 Vgl. H. ZIELINSKI, Auszeichnungsschriften, graphische Zeichen und Symbole in den Urkunden der langobardischen Fürsten von Benevent, Salerno und Capua (774–1077) (Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden, hrsg. von Peter RÜCK [Historische Hilfswissenschaften 3] Sigmaringen 1996).

8 Vgl. etwa fieri decrevimus apices, per quos… firmamus et omnino sancimus (D Lo. I. 50, 840 Dez. 4); apices eis fieri ac dari decrevimus, per quos decernimus atque omnino sancimus (D Lo. I. 53, 841 Jan. 21).

9 H. ZIELINSKI, Regesta Karolorum. Zu einem neuen Projekt der Regesta Imperii. Mit Ausblicken auf Urkunden und Kanzlei Kaiser Ludwigs II. (Archiv für Diplomatik 29. 1983, S. 285–309).

10 A. PRATESI, Le cancellerie dei principi longobardi dell’Italia meridionale. Spunti per una revisione delle conoscenze attuali (Miscellanea in onore di RUGGERO MOSCATI. Napoli 1985, S. 47–59) S. 56.

11 VOIGT, Beiträge, Nr. 123 (Juni 902) ist sie ausnahmsweise zur Gänze überliefert: Cum principalis excellentia petitione dilectorum suorum iuste petenti clementer favet, non solum eos, quibus haec impendit, devotiores obsequiis reddit, verum etiam divinam maiestatem sibi propensius parare creditur adiutricem.

12 Über die damaligen Ereignisse werden wir vor allem durch die Chronik des Klosters Montecassino informiert. Vgl. CILENTO, Capua, bes. S. 358f. Der Konvent von Montecassino war nach 883 zunächst in das etwa 15 km nördlich von Capua gelegene Teano gegangen (in Teano war der Vater Atenolfs I., Landonolf, Gastalde gewesen; vgl. die Stammtafel bei N. CILENTO, Le origini della Signoria capuana nella Longobardia minore, Roma 1966, S. 83). Ihre neue Bleibe in Teano brannte aber 896 ab. 914 gingen die Mönche schließlich auf Bitten der Fürsten nach Capua. Vgl. auch HOFFMANN, Abtslisten, S. 266f.

13 Um nur ein Beispiel zu nennen: 887 ging eine Gesandtschaft Atenolfs I. zu Papst Stephan V. nach Rom, der u. a. der Abt des Klosters S. Vincenzo al Volturno, Maio, und der Diakon des Klosters Montecassino, Dauferius, angehörten: Erchempert, Historia Langobardorum Beneventanorum, c. 65, ed. G. WAITZ (MGH SS rer. Langob., 1878) S. 260; vgl. CILENTO, Capua, S. 358f.

14 Von 901 bis 950 sind 24 Urkunden der Fürsten von Capua / Benevent überliefert, von denen allein 16 an Montecassino gingen oder zumindest aus dortiger Überlieferung stammen. Zwei weitere waren für S. Vincenzo al Volturno bestimmt.

15 Schon VOIGT, Beiträge, hat zu Beginn unseres Jahrhunderts die wesentlichen Entwicklungslinien aufgezeigt.

16 Das erste einfache Präzept stammt von 902 Mai (VOIGT, Nr. 122).

17 Landulf VI. starb damals ohne Erben, die Stadt selbst fiel an die Römische Kirche, das Umland wurde normannisch.

18 Zur Geschichte des Fürstentums Salerno und zu den dortigen Urkunden vgl. jetzt H. TAVIANI-CAROZZI, La principauté lombarde de Salerne (IXe–XIe siècle). Pouvoir et société en Italie lombarde méridionale, I-II, Rome 1991 (Collection de l’École française de Rome 152).

19 Vgl. P. DELOGU, Mito di una città, meridionale (Salerno, secoli VIII-XI), Napoli 1977, Fig. 3–7.