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[p. 277] Die byzantinischen Privilegienurkunden

Die kaiserliche Gunst und Gnade konnte sich jeder Urkundenart bedienen, wenn es sich darum handelte, ein Mittel zu finden, um ihren Willen kundzutun. Nach und nach bildeten sich jedoch zu diesem Zweck eigene Urkundentypen von besonders feierlicher Form heraus, die mit einer Goldbulle versehen waren und daher Chrysobullen genannt wurden.

Die Chrysobullen wurden je nach Bedeutung der gewährten Schenkung in drei Gruppen geteilt, die in der Reihenfolge ihrer Feierlichkeit folgende waren: der Chrysobullos logos, das Chrysobullon sigillion und der Chrysobullos horismos. Sie bilden sich gegen Ende des 9. oder zu Anfang des 10. Jh. heraus.

1. Chrysobullos logos

Die feierlichste Gruppe der byzantinischen Chrysobullen stellten, wie gesagt, die Chrysobulloi Logoi dar, deren ältestes im Original erhaltenes Beispiel aus dem J. 1052 stammt.

Der Chrysobullos Logos war die hervorragendste Ausdruckform der Majestät des byzantinischen Kaisers. Er bestand aus einer Reihe von Papierblättern rechteckigen Formats, die an ihrer Schmalseite zusammengeklebt waren, und erreichte so eine ansehnliche Länge, so daß schon in seinem Ausmaß die Größe der kaiserlichen Herrschaft in Erscheinung trat. So hat der Chrysobullos Logos des Kaisers Michael VI. Stratiotikos vom J. 1057 für das Lavrakloster ein Maß von 3,47 × 0,41 m. Von kollosalem Ausmaß geradezu ist der Chrysobullos Logos Konstantins X. Dukas vom J. 1060 ebenfalls für das Lavrakloster mit den Dimensionen 7,00 × 0,41 m.

Der Text wurde in einer besonders sorgfältigen, verzierten und eigene Buchstabenformen (Reservatsbuchstaben) verwendeten Minuskel geschrieben, der sg. Kanzleischrift.

Im Text des Chrysobullos logos wurden Lücken freigelassen, meist für das Wort logos, das übrigens für die Urkunde charakteristisch war (= chrysobullos logos). Die Einsetzung des Logos-Wortes in den Text der Urkunde geschah in der Regel dreimal. Ein besonderer Beamter, der epi tú kanikleiu, setzte das Wort mit roter Tinte in die Lücken ein, nachdem er zuvor die vom Schreiber angefertigte Urkunde mit dem Konzept des Chrysobullos logos verglichen hatte. Derselbe Beamte vervollständigte die Datierung der Urkunde, von der einige Elemente mit roter Tinte geschrieben wurden, und setzte, ebenfalls mit roter Tinte, das Wort legimus dazu. Auf diese Weise beglaubigte er die Richtigkeit des Textes der Urkunde und bestätigte, daß sie den kaiserlichen Willen genau wiedergebe.

[p. 278] Die Annahme, daß die Eintragung der eingesetzten Rotworte den Vollzug des Vergleiches der Urkunde mit ihrem Konzept bedeudete, beweist folgendes: Im Text einiger Urkunden sind Zusätze oder Streichungen von Wörtern mit roter Tinte zu beobachten, was sicher bedeutet, daß der Benutzer dieser roten Tinte den Urkundentext tatsächlich prüfte und korrigierte.

Um die widerrechtiche Einfügung eines Blattes in dem Chrysobullos Logos zu verhindern, wurden auf seiner Rückseite, und zwar gerade auf die Klebestreifen, Vermerke gesetzt (Klebvermerke), die aus der eigenhändigen, eigenartig geordneten Unterschrift eines höheren Beamten oder dem Austellungsdatum der Urkunde oder einfach aus drei Kreuzen bestehen. Auf der Rückseite befanden sich auch die Registriervermerke über die Eintragung der Urkunde in den verschiedenen kaiserlichen Büros.

Seit Beginn des 12. Jh. erschienen auf der Vorderseite der Urkunde unter der kaiserlichen Unterschrift die Referentenvermerke, das heißt Titel und Namen des Beamten, der dem Kaiser über die Ausstellung der Urkunde referiert und somit dem Kaiser gegenüber die Verantwortung für deren Inhalt trug. So vorbereitet wurde der Chysobullos Logos dem Kaiser zur Unterzeichnung vorgelegt.

Die Rekognition der Privilegienurkunden war seit dem 9. Jh. dem epi tu kanikleliu übertragen, der auch bei der Unterzeichnung durch den Kaiser assistierte.

Nachdem der Chrysobullos Logos soweit beendet war, wurde er am unteren Ende unterhalb der kaiserlichen Unterschrift bzw. des Referentenvermerkes, gewöhnlich ein- oder zweimal gefaltet (Plica) und mit zwei, vier oder fünf Löchern versehen, durch die rote oder lilafarbene Seidenschnur (mérinthos) gezogen wurde. Die Enden der mérinthos drehte man unter der Plica zu einer Kordel zusammen und an dieser befestigte man mit dem búlloótérion die Goldbulle in der Weise, daß die mérinthos der Länge nach durch die Bulle lief, und zwar längst der Figuren des Kaisers und Christi auf der Vorder- und Rückseite der Bulle. Danach wurde die Urkunde als Rolle gewickelt und war bereit zur Absendung an den Empfänger.

Der Chrysobullos Logos ist in drei Teile gegliedert: Das Protokoll, den Kontext und das Eschatokoll.

Das Protokoll gliedert sich wiederum in:

a) Die Anrufung Gottes (Invocatio), die symbolisch sein kann, z. B. Kreuzzeichen oder Christogramm, oder verbal. Die verbale Invocation lautet gewöhnlich: en onomati tú patros kai tú hyjú hagiu pneumatos.

b) Den Tittel (Intitulatio). Dieser lautet in dem ältesten im Original erhaltenen Protokoll eines Chrysobullos Logos: Koónstantinos… basileus… autokratór… tón Rómaion ho Dukas. Seit 1079 wird der Tittel durch den Zusatz kai zwischen den Wörtern basileus und autokratór leicht abgewandelt, so daß er seitdem und bis etwa zu den achtziger Jahren des 12. Jh. so lautet: N… basileus kai autokratór… tón Rhómaión ho N. Mit dem Tittel ist die Devotionsformel verbunden, die gewöhnlich lautet:… pistos orthodoxos.

Die beiden zuvor erwähnten Teile des Protokolls werden in langgezogener, mit Minuskeln untermischten Unzialen hingesetzter Schrift geschrieben, der sg. Protokollschrift [p. 279] (Perpendikelschrift), die gegen Ende des 12. Jh. verschwindet, wie übrigens auch der gesamte Protokoll der Chysobulloi Logoi.

c) Die Adresse (Inscriptio). Im byzantinischen Chrysobullos Logos bezieht sich die Inscriptio nicht auf eine Einzelperson, sondern sie hat eine allgemeine, typische Form, da der im Chrysobullos Logos ausgedrückte kaiserliche Wille zwar eine Einzelperson betrifft, sich aber an alle wendet. Die Adresse des byzantinischen Chrysobullos Logos ist mit lateinischen und griechischen Buchstaben gemischt geschrieben und lautet: Pásé hois to par hémón eusebes epideiknutai sigillion.

Das ganze Protokoll (Invocatio, Intitulatio, Inscriptio) der Chrysobulloi Logoi ist mit einer Tinte geschrieben, welche von derjenigen des Textes verschieden ist. Daraus läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit schließen, daß die ersten Kollemata dieser Urkundengattung in der Kaiserkanzlei als Formulare bereitlagen.

Auf das Protokoll folgt der Kontext, der folgende Teile umfaßt:

a) Das Prooimion (Arenga). Es ist eine rhetorische Einleitung, die allgemeine Gedanken über die kaiserliche Gewalt und Sendung, über den erhabenen Wert des Mönchslebens usw. mehr oder weniger lang ausführt und die Verleihug der Privilegien durch den Kaiser rechtfertigt. Was ihren Aufbau betrifft, so unterscheidet man nach den Arbeiten von H. HUNGER zwei- und dreiteilige Prooimia.

b) Dem Prooimion folgt die Narratio, in welcher der Fall dargelegt wird, desentwegen das Eingreifen des Kaisers erbeten wurde.

c) Der Narratio folgt die Dispositio, in welcher der kaiserliche Wille ausgedrückt ist. Zur Dispositio gehört auch die Pönformel (Sanctio), das heißt die Androhung der Strafe durch die Gottheit (Sanctio spiritualis) oder durch den Kaiser (Sanctio temporalis) für jeden, der versucht, die Anordnungen der Urkunde zu übertreten.

Mit der Sanctio schloß der Kontext und wurde das Eschatokoll eingeleitet. Dieses bestand aus folgenden Teilen:

a) Der Datierung, dem Monat, Indiktion und Weltjahr, verzeichnet in folgender Form: apolytheis (sc. Chrysobullos Logos) kata ména… tés enistamenés… indiktiónos tú… etús

b) Aus dem für die Chrysobulloi Logoi typischen Satz: en hó kai to hémeteron eusebes kai theoprobléton hypeséménato kratos. Darauf wurde vom Rekognitionsbeamten das Wort legimus geschrieben.

c) Aus der Unterschrift (Subscriptio). Die älteste erhaltene originale Namensunterschrift eines Kaisers findet sich in dem von Johannes Tzimiskes 972 für den Athos ausgestellten Typikon mit folgendem Wortlaut: Ióannes en Christó tó Theó pistos basileus Rómaión. Das zeitlich folgende Original, die erhaltene Namensunterschrift des Kaisers Konstantinos IX. Monomachos aus dem Jahre 1052 in einem Chrysobullos Logos für das Lavrakloster, lautet: Kónstantinós en Christo tó Theó pistos basileus Rómaión o Monomachos. Im Chrysobullos Michaels VI. Stratiotikos vom J. 1057 kommt eine Neuerung hinzu: Michaél en Christó tó Theó pistos basileus autokratór Rómaión. Seit der Zeit des Nikephoros Botaneiates, nämlich seit seinen Chrysobullen vom August 1079, bleibt die Kaiserunterschrift in der Form: (Nikeforos) en Christó tó Theó pistos basileus kai autokratór Rómaión ho (Botaneiatés) unverändert bis zum Ende des Reiches.

[p. 280] 2. Chrysobullon Sigilion

Seit der Ende des 11. oder Anfang des 12. Jh. erscheint eine vereinfachte Form des Chrysobullos Logos, das Chrysobullos Sigillion, das für Privilegien von geringerer Bedeutung Anwendung fand. Das älteste im Original erhaltene Chrysobullon Sigilion ist eine Urkunde Alexios’ I. Komnenos für das Lavrakloster vom J. 1099 / 1107.

Das Chrysobullon Sigillion wurde anfangs auf Bombyzinpapier geschrieben, später jedoch auf Pergament; sein Format war wesentlich kleiner als das des Chrysobullos Logos. So mißt das genannte Chrysobullon Sigillion des Alexios I. Komnenos nur 82 × 38 cm. Als später das Papier Pergament ersetzte, wurden die Maße noch kleiner, wie das nur noch 37,5 × 29,5 cm messende Chrysobullon Sigillion Johannes’ V. Palaiologos vom J. 1342 zeigt.

Diese Gattung der Privilegienurkunden trägt auch die Goldbulle und heißt daher chrysobullon sigillion.

Das Chrysobullon Sigillion ist nicht in der Reservatschrift der kaiserlichen Kanzlei, sondern in einer einfacheren Schriftart geschrieben, und ebenso ist auch die Sprache dieser Urkunde schlichter als die des Chrysobullos Logos.

Das Chrysobullon Sigillion trägt ebenso wie der Chrysobullos Logos die Referentenvermerke. Auch die Goldbulle ist an ihm in derselben Weise angehängt wie bei jenem.

Die Chrysobulla Sigillia waren in der Hauptsache Kleinprivilegienurkunden. Gelegentlich aber wurden sie auch als Urkunden für weniger wichtiges verwendet. Die innere Gliederung des Chrysobullon Sigillion ist folgende:

Nach der symbolischen Invocatio steht ohne weiters Protokollelement der Kontext, der nur manchmal durch ein sehr knappes Proomion eingeleitet wird.

Auf das Proomion folgt eine ebenso kurze Narratio. Dann kommt die Dispositio des Kaisers, die, manchmal wenigstens, auch eine Sanctio enthält. In den Text ist mit roter Tinte das Wort sigillion einsetzt.

Der Text schließt gewöhnlich mit einer Corroboratio-Formel.

Das Eschastokoll enthielt in Rotschrift das eigenhändige kaiserliche Menologem, zu dem bis zum Jahre 1119 das legimus gesetzt wurde. Nach dem Menologem wurden gewöhnlich die Referentenvermerke angebracht.

3. Chrysobullos Horismos

Als dritte Gattung der Privilegienurkunden erscheint seit dem 14. Jh. der Chrysobullos Horismos. Nur zwei Originale dieser Gattung sind erhalten: ein Horismos des Kaisers Johannes V. Palaiologos aus dem Jahre 1356 und ein verstümmelter Horismos derselben Zeit, heute in der Bibliothek des St. Johns College in Cambridge.

Der Chrysobullos Horismos war in gewöhnlichen Schrift, nicht in der Reservatschrift der Kaiserkanzlei geschrieben, enthielt die volle Datierung (Weltjahr, Indiktion, [p. 281] Monat), doch in schwarzer Tinte und dazu die eigenhändige rote kaiserliche Namensunterschrift.

Der Chrysobullos Horismos entbehrte eingesetzter Rotworte; er hatte Kleinformat und wurde auf dem jeweils üblichen Schreibstoff geschrieben (Papier oder Pergament).

Im Chrysobullos Horismos gab es kein Protokoll, kein Proomion im Text und kein legimus.

Als Chrysobulloi Horismoi bezeichnete man manchmal auch procuratorika chrysobulla (Procuratoria), die übrigens jenem in formaler Hinsicht gleichen.

Ebenso bezeichneten sich die Chrysobulloi Horismoi zugleich auch als Prostagmata, sodaß der einzige wesentliche Unterschied zwischen Chrysobullos Horismos und Prostagma darin liegt, daß im ersteren die Unterschrift und ein Goldsiegel, in letzterem das Menologem vorhanden sind.

Damit sind wir am Ende unserer Ausführungen angelangt. Es ist selbstverständlich, daß wir im Rahmen dieses sehr knappen Referats eine Darstellung nur in ganz allgemeinen Zügen geben konnten, die aber, hoffe ich, doch eine Idee der Eigentümlichkeiten der byzantinischen Privilegienurkunden vermittelt hat.

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1. 1057, Januar. Chrysobullos Michaels VI.
[p. 283]
2. 1314. Chrysobullos Androniks II. Paleologos
[p. 284]
3. 1298, Juni. Chrysobullos Androniks II. Paleologos. Anmerkungen in verso
[p. 285]
4. 1298, Juni. Chrysobullos Androniks II. Paleologos
[p. 286]
5. 1094, Februar. Chrysobullos Alexis I. Comnenos
[p. 287]
6. 1084, August. Chrysobullos Alexis I. Comnenos