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[p. 259] Die ungarischen Königsurkunden bis 1200

Das ungarische Königtum ist am ersten Tage unseres Jahrtausends mit der Krönung Stephans des Heiligen entstanden. Diesen Zeitpunkt halten wir für den Beginn des Urkundenwesens in Ungarn1. Die Jahrtausendwende gilt in Ostmitteleuropa auch für Böhmen und Polen als Wendepunkt in der Staats- und Kircheneinrichtung. Denken wir nur an die Tätigkeit der Kleriker des hl. Adalbert in den drei erwähnten Ländern. Die Einführung der lateinischen Schriftlichkeit und die Entwicklung gingen auch später paralell, da aber in Ungarn die staatliche und kirchliche Organisation größer und stabiler war, sind aus den ältesten Zeiten mehr Urkunden erhalten geblieben, obwohl hier die Verluste, verursacht durch die Invasion der Mongolen und der Türken, viel größer waren. Es genügt zu erwähnen, daß aus den zwölf Bistümern (inbegriffen zwei Erzbistümer), die bis zum 12. Jh. gegründet wurden2, nur von einem, von Wesprim, und aus den mehr als 20 königlichen Abteien und Kollegiatsstiften nur von vier (Martinsberg / Panonhalma, Tihany, Sankt Benedikt am Gran / Hronský Beňadík und Zobor) Urkunden aus dem 11. und 12. Jh. erhalten geblieben sind. Die als capella regia dienende Domkirche von Stuhlweißenburg (Székesfehérvár), in deren Sakristei das königliche Archiv schon im 12. Jh. aufbewahrt wurde, ist im 16. Jh. vollkommen zerstört worden.

Unter solchen Verhältnissen können wir nur aus vereinzelten, zufällig erhalten gebliebenen Königsurkunden ein sehr mangelhaftes Gesamtbild zusammenstellen.

Die zweite Schwierigkeit liegt darin, daß nur wenige Originalurkunden erhalten blieben und die Mehrheit der bekannten Stücke in Abschrift vorliegt – oft durch Interpolierung verfälscht – oder nur in Exzerpten bekannt ist. Nur ausnahmsweise sind zwei arianten, Original und interpolierte Fälschung, erhalten, z. B. das Gründungsprivileg von Tihany von 10553, die bezeugen, daß es sich bei den Fälschungen meist um eingeschobene Besitzrechte handelt.

In Ungarn gingen die Meinungen darüber auseinander, was zu den Königsurkunden gezählt werden solle. Nbenden regelrecht, in subjektiver Fassung ausgestellten Urkunden gibt es auch in objektiver Form verfaßte Stücke, meist Empfängerausfertigungen königlicher Abteien, die manchmal nachträglich besiegelt wurden. Eine dritte Variante bilden diejenigen Privaturkunden, die am königlichen Hof geschrieben bzw. mit königlichen Siegeln und der Korroborationsformel bestätigt wurden. SZENTPÉTERY zählt sie in den „Regesta regum“ zu den Königsurkunden4, KUMOROWITZ zu den Privaturkunden5. Bis 1180 läßt sich das oft nicht eindeutig entscheiden, in der zweiten Hälfte des 12. Jh., mit der Bildung der Kanzlei, stabilisierten sich aber auch die Formen der königlichen Urkunden.

Da die Comission Internationale de Diplomatique über die Herausbildung der europäischen Herrscherkanzleien drei Kongresse veranstaltet hat und wir in Budapest, [p. 260] Paris und München die Tätigkeit der Kanzleien eingehend untersucht haben6, wurden die Grundlagen des Themas schon besprochen.

Die Formen der ersten königlichen Urkunden gelangten aus dem Ausland nach Ungarn, u. zw. aus Ländern, mit denen der ungarische Königshof enge Beziehungen hatte. König Stephan I. heiratete Gisela, die Schwester Heinrichs II., die Nichte Kaiser Ottos III., die die Sendung einer Krone für Stephan durch Papst Silvester unterstützt haben7. Das hatte zur Folge, daß die ersten Notare aus dem Deutsch-Römischen Reich gekommen sind und die frühesten Urkunden vereinfachte Varianten der deutsch-italienischen Königsurkunden waren. HARRY BRESSLAU hat festgestellt, daß das für Martinsberg ausgestellte Privileg von 1001 die interpolierte Nachzeichnung einer Originalurkunde ist, die ein bekannter Notar der italienischen Kanzlei Ottos III., Heribert C., stilisiert hat8. Das Gründungsprivileg des Bistums von Fünfkirchen (Pécs) ist stark verfälscht in einem Transkript von 1404 erhalten geblieben; Stil und Datum beihalten aber solche Eigentümlichkeiten, welche andeuten, daß der Schreiber früher unter dem Erzkanzler von Heinrich II., Egilbert, als Notar tätig war9. Der Stil des dritten Notars Stephans I., der 1009 eine Urkunde für das Bistum von Wesprim diktiert hat, ist typisch für die italienisch-lombardische Kanzlei Ottos III., dessen Kanzler Peter, Bischof von Como, seine Tätigkeit am Hofe Arduins, des Königs von Italien, fortgesetzt hat. Der lombardische Sprachgebrauch dieser Urkunde erlaubt die Annahme, ihren Schreiber in der Person von Bonipert, Bischof von Fünfkirchen, zu suchen, der einen typisch lombardischen Namen trägt10.

Die ersten drei Königsurkunden folgen in Chrismon, Invocatio, Intitulatio, Arenga, Dispositio, Sanctio und Datum der Praxis des Reiches, abgesehen davon, daß das Anathema der Bonipert zugeschriebenen Wesprimer Urkunde, die auch in Venedig übliche byzantinische Formel der Verwünschung mit 318 Kirchenvätern enthält11. Dies steht im Zusammenhang mit dem engen venezianisch-ungarischen Kontakt, der sich 1009 in der Heirat von Otto Orseolo mit der Schwester Stephans realisierte12. Die Heirat des Kronprinzen Emmerich mit einer byzantinischen Prinzessin führte zur Gründung eines griechischen Klosters im Wesprimtal, und dadurch zur Ausstellung eines griechischen Gründungsprivileg durch Stephan. Da es eine Empfängerausfertigung ist, folgt es nicht dem Wortgebrauch der byzantinischen Kaiserurkunden13.

Es ist anzunehmen, daß die unter Stephan entstandene lateinische Praxis während der Regierung seines Neffens und Nachfolgers König Peter Orseolo aus Venedig und unter jenem Samuel Aba, der rege Kontakte mit Regensburg pflegte, fortgesetzt wurde.

Nach dem Heidenaufstand von 1046, der sich gegen das italienische und deutsche Pristertum und Militär richtete und den Märtyrertod des hl. Gerhard (Gellért), Bischof von Tschanad (Csanád), verursachte14, erfolgte eine starke Wendung in der Ausstellung der Urkunden.

Nachdem Stephan 1018 Pilgerweg nach Jerusalem eröffnet hatte, zogen viele hohe Adelige und Geistliche aus Italien, Gallien, Lothringen und Germanien über [p. 261] Ungarn nach Osten und genossen die Gastfreundschaft Stephans. Große Bedeutung bekam, daß der berühmte Abt Richard von Verdun zweimal, 1026 und 1035, über Ungarn pilgerte und Gerhard ihm sogar eines seiner theologischen Werke dedizierte, was rege Kontakte zwischen Verdun und Ungarn nach sich zog15.

Als 1046 die legitimen Arpadensöhne aus ihrem Exil aus Kiew nach Hause zurückkehrten und den Heidenaufstand niederschlugen, ergänzten sie statt der feindlich gesinnten italienischen und deutschen Geistlichen den kirchlichen Nachwuchs aus Verdun. Sie benutzten die Gelegenheit, daß das Kollegiatkapitel von Verdun 1047 von Baldwin, den Grafen von Flandern, niedergebrannt worden war, und luden dessen 24 Kanoniker nach Ungarn ein16, wo von dieser Zeit an die als Latini bezeichneten Bischöfe und Äbte erscheinen. Das Gründungsprivileg des Anianusklosters von Tihany von 1055 steht mit seiner Zeugenliste den lothringischen Bischofsurkunden sehr nahe17.

Diese Praxis dauerte nicht lange, da durch die Heirat von Salomon mit der Schwester Kaiser Heinrichs III. und von Ladislaus I. mit der Tochter Rudolfs von Schwaben, des deutschen Gegenkönigs, wahrscheinlich die deutsche Kanzleipraxis wieder zurückkehrte; merkwürdigerweise sind aus ihrer Zeit keine autentischen feierlichen Privilegien erhalten geblieben. Als Salomon 1071 Belgrad (Griechisch Weißenburg) von den Byzantinern eroberte, stellte er eine Urkunde aus, deren Bleibulle unlängst in der Burgschanze ausgegraben wurde18. Der Inhalt des Privilegs ist unbekannt, wenn es aber dem griechischen Bistum von Belgrad gegeben wurde, ist es wahrscheinlich griechisch geschrieben worden, so wie Bela III. um 1190 dem Theodosios – Lavra von Jerusalem eine Schenkungsurkunde griechisch ausgestellt hat19.

Der hl. Ladislaus und sein Nachfolger Koloman haben aller Wahrscheinlichkeit nach auch feierliche Privilegien für die von ihnen gegründeten Bistümer – Ladislaus für Agram (Zagreb) und Großwardein (Nagyvárad, Oradea) Koloman für Neutra (Nitra) und andere Stifte – ausgestellt, die aber verschwunden sind; es blieben nur Empfängerausfertigungen einiger Klöster erhalten, in denen keine ständige Regel festzustellen ist. Von ihnen sind zwei Privilegien des Klosters Zobor (1111, 1113) hervorzuheben, die in objektivem Sprachgebrauch nach dem Datum mit den Wörtern verfügten: Facta est hec charta… regnante Colomano rege piissimo Hungariae und auch den Namen des Sigillators erwähnen: sigillatum per manus Manassis episcopi Zagoriensis20 (Zagor bedeutet hier Tinnin, das heutige Knin)21. Knin war eine der drei königlichen Residenzstädte Alt-Kroatiens neben Nona (Nin) und Biograd (Zara – Vecchia). Alt-Kroatien, Croatia Maritima – im 11. und 12. Jh. oft Sclavonia genannt, lag nicht auf dem Gebiet des heutigen Kroatiens südlich von der Drave, sondern, wie Konstantinos Porphyrogenetos genau beschreibt, südlich von der Save, zwischen den Dinarischen Alpen und der adriatischen Küste22. Als 1090 die kroatische Dynastie ausstarb und in Kroatien ein innerer Krieg ausbrach, rief die ungarische Witwe des kroatischen Königs Demetrius Svinimir ihren Bruder Ladislaus, den König von Ungarn, zu Hilfe, der den größten Teil Alt-Kroatiens mit Zara-Vecchia besetzte. Da aber im dalmatischen Zara (dem heutigen Zadar) der [p. 262] byzantinische Regent von Dalmatien residierte, ließ Alexios Komnenos Ostungarn durch türkische Kumanen angreifen. Es gelang erst König Koloman 1105 das ganze Kroatien und Dalmatien zu erobern und seine Herrschaft durch Kaiser Alexios, durch seinen Lehensmann in Venedig, den Dogen Vitalis Michiel, und durch Papst Urban II. anerkennen zu lassen23.

Von diesen Bestrebungen sind die ersten undatierten litterae missiles der ungarischen Könige erhalten geblieben: von 1090, die L(adislaus) Ungarorum ac Messie… rex aus Kroatien dem Erzabt von Montecassino anscheinend schrieb, um seine Bestrebungen beim Papst unterstützen zu lassen24, und von 1097, die Koloman, König von Ungarn, an den Dogen Vitalis Michiel mit dem Vorschlag adressierte, einen Friedensvertrag zu schließen25. Die ungarischen Könige haben in Dalmatien und Kroatien die Urkunden immer nach den dort eingebürgerten dalmatinisch – lateinischen, letzlich venezianischen Protokoll verfaßt; mit dem Anno Incarnationis beginnend, dann z. B. 1102 Ego Colomannus dei gratia rex Ungariae, Croatiae atque Dalmatiae, salvo habito consilio, postquam coronatus fui Balgradi supra mare, in urbe regia, und mit der Liste der anwesenden Würdenträger beendend26, und ähnlich 1108, um die Rechte der Bürger von Trau (Trogir) zu bestätigen27.

Das 12. Jh. ist die Periode, in welcher sich mit der Herausbildung der königlichen Kanzlei die Zahl der königlichen Urkunden außerordentlich vermehrte und die Urkundenformeln sich stabilisierten.

Was die Zahl anbelangt, genügt es zu erwähnen, daß wir aus der fünfzehjährigen Regierungszeit Stephans II. (1116–1131) nur vier königliche Urkunden, dagegen aus der neunjährigen Herrschaft Emmerichs (1196–1204) etwa 50 Urkunden und Briefe kennen28. Die Ursache dafür ist die um 1183 realisierte Kanzleireform von Bela III29. Bis 1100 sind die königlichen Notare meist hohe Geistliche, manchmal Bischöfe, im 12. Jh. schon meist Pröpste einiger königlichen Kollegiatstifte, die selbst königliche Kaplane und Mitglieder der königlichen Kapelle waren. Das hat dazu geführt, daß sich im 12. Jh. die Urkundenaustellung differenziert. Die manchmal auch cancellarius genannten Notare, meist Pröpste von Stuhlweißenburg oder Altofen (Buda), schrieben nicht selber, sondern besiegelten die Urkunden nur im Namen des Königs; von der Mitte des 12. Jh. an wird die Besiegelung und auch die Bewahrung des königlichen Siegels die Aufgabe des comes capellae, unter dessen Leitung Notare diktierten, die selbst selten schrieben, sondern scriba genannte Schreiber beschäftigten, wovon die von verschiedenen Händen geschriebenen Urkunden Stephans III. (1163–1173) zeugen30.

Unter Bela III. wurde seit 1185 die königliche Kanzlei nach französischem Muster ausgebaut. Der König, der die Schwester von Philippe August, Margarethe, die Witwe des englischen Thronfolgers Heinrich, heiratete31, rief die in Paris, im Sainte Geneviève lernenden ungarischen Kleriker nach Ungarn zurück. Von ihnen wurde Job 1185 zum Erzbischof von Gran (Esztergom) ernannt, der als Primas die Funktion des summus cancellarius ausübte; Kanzler wurde sein Pariser Schulgefährte, Adrian, der neue Propst von Ofen32. Der Königin zuliebe gründeten sie auf dem Thomasberg neben dem Burgberg von Gran das Kollegiatsstift, das jenem Märtyrer [p. 263] Thomas Becket geweiht war, der Margarethe in England als Beichtvater gedient hatte. Die Propstei erhielt solche königlichen Güter als Schenkungen, in denen später dem Märtyrer Thomas geweihte Kirchen erscheinen. Es ist anzunehmen, daß der Propst des Thomasstiftes von Gran im folgenden Jahrzehnt der Königin als Kanzler diente33.

Seit diesen Jahren bekommt das königliche Urkundenwesen jene Form, die sich mutatis mutandis im 13. Jh in West- und Mitteleuropa verbreitet und zur Herausbildung der Urkundentypen führt.

Aus dem 12. Jh., vor der Kanzleireform von Bela III., sind zufälligerweise keine feierlichen Privilegien im Original auf uns überkommen. Bela II. hat 1135 die Stiftung Bozók (Bzovík), die comes Lampertus und seine Frau, Sophia, aus dem Arpaden – Hause gründeten, in einem Privileg bestätigt, das in einem interpolierten und verkürzten Transsumpt erhalten blieb, jedoch die Struktur folgenden Typs aufweist: Invocatio, Intitulatio mit vollständiger Titulatur: Bela dei gratia Hungariae, Dalmatiae, Croatiae, Ramaeque rex in perpetuum (Rama bedeutete das heutige Süd-Bosnien); nach Adresse und Narratio folgt die Aufzählung der Güter; es endet mit dem Inkarnationsjahr Regnante gloriosissimo Bela II., Feliciano archiepiscopo Strigoniensi existente und der Besiegelung durch den königlichen Notar34. Was auch diesem Privileg fehlt, befindet sich in der drei Jahre später ausgestellten und einmal transsumierten Güteraufzählung der Propstei Dömös. Dieses feierliche Privileg, entstanden am königlichen Hof, verfaßt durch den königlichen Kanzler und geschrieben vom Schreiber des Prinzen Ladislaus, Herzogs von Bosnien, spricht in objektiver Form von der Tätigkeit des Königs und seines Hofes, zählt namentlich die geschenkten 800 servi, mehr als 200 andere ministri, operarii und liberi aus 50 Dörfern auf, die früher zu den zerstreuten Gütern des Ducatus gehörten35. Im Eschatokoll finden wir, was im Privileg von 1135 weggelassen wurde: die Zeugenliste der Bischöfe und anwesenden Grafen, die Verwünschung (anathema) der Heiligen, die Besiegelung durch den Kanzler und die Benennung des scriptor.

In der Periode vom 12. Jh., also in der Zeit von Bela II., Geysa II. und Stephan III. bzw. IV. bis zur Kanzleireform Belas III., gab es ständige Wechsel in der Form der Königsurkunden36. In den litterae patentes spricht der König meist in der Einzahl und in subjektiver Form: so z. B. 1137 nach kurzer Einleitung: Ego Bela rex Hungariae, Croatiae et Dalmatiae37, aber meist wurden nach Hungariae die Nebenländer weggelassen. Nach der Disposition endet der Text mit Verwünschung, Besiegelung, Aufzählung der anwesenden Magnaten und Actum bzw. Datum. In der Mehrheit der Urkunden, die am königlichen Hof, vor einer Gruppe von Magnaten oder durch den königlichen Notar ausgestellt wurden, spricht der Disponent selbst, meist ein Privatbesitzer oder Prälat, in der Einzahl und disponiert über Güter für Kirchenzwecke oder für seine Familie. In diesen Fällen werden der König und seine Magnaten nur regnante X rege usw. aufgezählt oder wie z. B. Ego Adalbertus iussu gloriosissimi G. regis… et… cunctorum regni primatum decreto (1153) namentlich nicht erwähnt38. Manchmal bleiben die konkreten Anspielungen an die Anwesenheit [p. 264] des Königs und seines Hofes weg; nur aus den Worten accepta… regali licentia39 kann darauf gefolgert werden, daß die Löcher von einer königlichen Besiegelung stammen.

In der ungarischen Diplomatik ist es eben deswegen eine Streitfrage, ob es sich in diesen Fällen um Königs- oder Privaturkunden handelt und die Anwesenheit des Hofes, die Mitwirkung eines Notars, die königliche Bewilligung und schließlich die Besiegelung einer Urkunde, die auch später erfolgen konnte, eine solche Kategorisierung erlauben40.

Die Lösung dieser Probleme ist deshalb so sehr aktuell, weil wir die Faksimilienausgabe der ältesten ungarischen Urkunden bis zum Ende des 12. Jh. im Album palaeographicum – Chartae antiquissimae Hungariae (Budapest 1994) beim Balassi Verlag ausgegeben haben. Da die Urkunden bis zur Kanzleireform Belas III. in Beziehung mit dem Königtum oder mit Kirchen unter königlichem Patronat standen und geschäftliche Aufzeichnungen breves notitiae von Privatklienten, worüber die Gesetze König Kolomans um 1100 verfügen, nicht auf uns überkommen sind41, können wir in unserer Ausgabe auch diese Kategorie mit in Betracht ziehen.

Als Aussteller der Urkunde wird in diesen Fällen nicht der König betrachtet, sondern die Person, welche die Verfügungen trifft, doch zeugt die Erwähnung der Mitwirkung des Hofes oder dessen Organs mit den Wörtern coram curia regis von einer königlichen Bewilligung. Die Briefe der Könige werden selbstverständlich zu den Königsurkunden gezählt. Der erste im Original erhaltene Brief König Geysas von 1151 ist im Domkapitel von Spalato (Split) aufbewahrt: G. (eysa) dei gratia Hungariae, Dalmatiae, Urguatiae, Ramaeque rex G. (audio), archiepiscopo, Cerneche comiti, omnibus urbis Salonitanae proceribus, also an die Würdenträger von Spalato, um ihnen für ihre Anteilnahme am Tode seines Vaters zu danken und ihre Sonderrechte, ihre Autonomie bei der Wahl ihrer Behörden zu bestätigen42. Wie ich in Spalato feststellen konnte, waren die kleinen litterae clausae auf ein Viertel zusammengefaltet und die Schnur einer Bulle durch acht Löcher gezogen, einer solchen münzartigen goldenen oder Bleibulle, mit welcher der König zwei Privilegien für den Erzbischof von Gran 1156 und 1157 bestätigt hatte43. Sonst gebrauchen die Könige im 12. Jh. im allgemeinen ein großes einseitiges Wachssiegel, in dessen Imago auch das Ringsiegel des Königs eingeprägt wird.

Durch die Kanzleireform Belas III. im Jahre 1183 wurden die Formen den europäischen Typen angenähert.

Wir besitzen zwei feierliche Privilegien von 1193 mit einer goldenen Bulle, das erste die Bestätigung der Güter des Hauses der Johanniter von Stuhlweißenburg44, das andere die Schenkung des Komitats Modrus in Kroatien an den comes Bartholomeus, den Ahnen der Grafen Frangepani. Invocatio mit verlängerten Buchstaben, volle Titulatur, Arenga, Narratio, Dispositio, Corroboratio mit aurea bulla. Datum per manus magistri Kathapani, Albensis ecclesie prepositi, Hungariae cancellarii, mit Inkarnationsjahr und schließlich der Liste der höchsten Würdenträger45.

Wir kennen auch frühere Privilegien, aber seit 1185, als Adrianus als Kanzler erscheint, führt er statt der subjektiven Ego den pluralis maiestaticus Nos wieder [p. 265] ein46, und statt der bisherigen unentbehrlichen Bedrohung mit Anathema und Poena bleibt nur die Korroboration mit dem königlichen Siegel. Die Kraft der Besiegelung verdrängt die Wirkungskraft der Verwünschung. Diese letzte Wendung kommt so scharf zur Geltung, daß die Verwünschung nach 1193 nur in Fälschungen vorkommen, mit Ausnahme von Texten, die für fremde Empfänger (z. B. Tempelritter), nach altem Muster verfaßt wurden47.

In dem Jahrzehnt vor 1185 war die Struktur noch nicht stabil; die königlichen litterae patentes konnten mit Invocatio, Adresse, Arenga oder Datum beginnen. Privatschenkungen wurden auch vor dem reisenden König inmitten seines Hofes schriftlich abgefaßt, so für den Herrn Caba um 1177: Quando rex… in die Dominico… in domo Ssene comitis sub quadam quercu sedebat et comites… cum eo48.

Mit der Schaffung der loca credibilia aber erschienen schon im 12. Jh. diejenigen Verfügungen, die in einer königlichen Stiftung auf cyrographierten Doppelblättern vefaßt wurden und in denen die Anspielung auf den König und seinen Hof nur in der Datierung Regnante X rege, N. archiepiscopo existente vorkommt (1134, 1177, 1184)49.

Nach dem Tode Belas III. 1196, unter der Regierung seines Sohnes Emmerich, der in sehr regem Kontakt mit Papst Innozenz III. in der Frage der häretischen Südslawen und eines geplanten Kreuzzuges stand50, und durch Eheschließungen mit den meisten europäischen Mächten Verbindungen hatte, erreichte die königliche Urkundengebung in Ungarn und in den Nebenländern ein europäisches internationales Niveau, mit Ausnahme des in Ungarn sich ausgebildeten Instituts der loca credibilia, was hier die Funktion des öffentlichen Notariats erfüllte51.

[p. 269]
1. David, Prinz von Ungarn, für Kloster Tihany
[p. 270]
2. Emerich von Ungarn für Kloster St. Gothard

1 GYÖRGY GYÖRFFY, Zu den Anfängen der ungarischen Kirchenorganisation auf Grund neuer quellenkritischer Ergebnisse. Archivum Historiae Pontificiae, 7, 1969, S. 79–113; DERS., König Stephan der Heilige. Budapest, 1988, S. 156 ff.

2 DERS., La christianisation de la Hongrie. Harvard Ukrainian Studies, Bd. XII-XIII, 1988–1989, S. 68 ff.; La christianisation des Hongrois et les peuples de la Hongrie. L’Église et le peuple Chrétien dans les pays de l’ Europe du Centre-Est et du Nord. Collection de l’École Française de Rome, Bd. 128, Rome 1990, S. 59 ff.

3 Diplomata Hungariae Antiquissima. Accedunt epistolae et acta. Edendo operae praefuit G. GYÖRFFY (DHA), Bd. I., (1000–1131). Budapest, 1992, S. 145–156.

4 I. SZENTPÉTERY, Regesta regum stirpis Arpadianae critico – diplomatica (= Reg. Arp.), I. Budapest, 1923, S. 1–52.

5 L. B. KUMOROVITZ, Die erste Epoche der ungarischen privatrechtlichen Schriftlichkeit im Mittelalter XI–XII. Jh. (= Erste Epoche), Études historiques publiées par la Comission Internationale des Historiens Hongroises, Budapest, 1990, Bd. I., S. 253–286.

6 G. GYÖRFFY, Die Anfänge der ungarischen Kanzlei im XI. Jh. Archiv f. Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde, Bd. 30, 1980, S. 88–96; A. KUBINYI, Königliche Kanzlei und Hofkapelle in Ungarn um die Mitte des 12. Jh. (= Königliche Kanzlei). Festschrift Friedrich Hausmann, Graz, 1977, S. 299–324; G. GYÖRFFY, La chancellerie royale de la Hongrie aux XIII–XIV siècles (= La chancellerie). Forschungen über Siebenbürgen und seine Völker, Bd. II., Festschrift für Attila T. Szabó und Zsigmond Jakó, Hrsg. von K. BENDA, TH. v. BOGAY, H. GLASSEL und K. LENGYEL, München, 1988, S. 159–175.

7 Thietmar VI, 59. Ed. R. HOLTZMANN, MG. SS. Nova Series vol. IX, 1935, S. 198; J. DEÉR, Die heilige Krone Ungarns. Wien, 1966, S. 195 ff.; G. GYÖRFFY, Die Corona sancti Stephani regis zur Zeit der Arpaden. Insignia regni Hungariae, Bd. I., Budapest, 1983, S. 55–63.

8 H. BRESSLAU, Zu den Urkunden König Stephans von Ungarn. Archiv f. Urkundenforschung, Bd. 6., 1916, S. 65–76; Vgl. GYÖRFFY, DHA I, S. 66 ff.

9 Ebenda, S. 55–57.

10 Ebenda, S. 50–53.

11 Ebenda, S. 51–53.

12 ANDREAS DANDOLUS, Chronicon Venetum, vol. IX, cap. 2. Ed: A. MURATORI, SS. R. Ital., vol. XII, S. 235; Vgl. S. DE VAJAY, Südost – Forschungen, Bd. 21, 1962, S. 78.

13 DHA I, S. 81–85.

14 Scriptores rerum Hungaricarum tempore ducum regumque stirpis Arpadianae gestarum (= SRH), vol. I. Ed. E. SZENTPÉTERY, Budapest, 1937–1938, S. 336 ff., vol. II., S. 501 ff.

15 GYÖRFFY, König Stephan, S. 175–178, 211.

16 M. BOUQUET, Recueil des historiens des Gaules et de la France. Paris, 1767, S. 250.

17 GYÖRFFY, Die Anfänge, S. 93–94; DHA I, S. 148, tab. VI, fig. c.

18 DHA I, S. 189, tab. I, fig. c-d.

19 G. GYÖRFFY, Das Güterverzeichnis des griechischen Klosters von Szávazentdemeter (Sremska Mitrovica). Studia Slavica Acad. Scient. Hungariae Bd. 5, 1959, S. 30–60.

20 L. FEJÉRPATAKY, Könyves Kálmán király oklevelei. Budapest, 1982, S. 42–44, 51–73, tab. I–II; R. MARSINA, Codex diplomaticus et epistolaris Slovaciae [CDS], vol. I., Bratislava, 1971, S. 63–67; GYÖRFFY – KUMOROWITZ, DHA, I., S. 382–385, 391–399.

21 GYÖRFFY, Die Anfänge, S. 95.

22 Constantine Porphyrogenitus, De administrando imperio. Ed. G. MORAVCSIK – R. J. H. JENKINS, Washington, 1967, Bd. I., S. 144–151, Bd. II., Commentary, London, 1962, S. 121, 129; Vgl. G. GYÖRFFY, Die Nordwestgrenze des Byzantinischen Reiches im XI. Jahrhundert und die Ausbildung des „ducatus Sclavoniae“. Mélanges offerts à Szabolcs de Vajay, Braga, 1971, S. 295–331, tab. XXIII–XXIV.

23 Ebenda, S. 299–300; Vgl. GYÖRFFY, DHA I, S. 271–273, 328–330, 347–348.

24 Ebenda, S. 271–272.

25 Ebenda, S. 325–327.

26 Ebenda, S. 330.

27 Ebenda, S. 357.

28 SZENTPÉTERY, Reg. Arp., Nr. 50, 51, 52a, 168–216.

29 L. FEJÉRPATAKY, A királyi kanczellária az Arpádok korában. Budapest, 1885, S. 29–36; Ders., Die Urkunden König Belas III. von Ungarn (1172–1196). MIÖG, Erg. Bd., S. 221–234; I. SZENTPÉTERY, Magyar oklevéltan, Budapest, 1930, S. 61 ff.; KUBINYI, Königliche Kanzlei, S. 299 ff.; GYÖRFFY, La chancellerie, S. 162.

30 KUBINYI, Königliche Kanzlei, S. 299 ff.

31 G. GYÖRFFY, Lexikon des Mittelalters, Bd. I. S. 1833 mit Literatur.

32 Monumenta ecclesiae Strigoniensis, vol. I., Ed. F. KNAUZ, Strigonii 1874, S. 130; SZENTPÉTERY, Magyar oklevéltan, S. 63 ff.; III. Béla kiraly emlékezete (= Béla kiraly eml.). Red. G. FORSTER, Budapest, 1900, S. 349–351; A. ECKHARDT, De Sicambria à Sans-Souci. Paris 1943, S. 120–121.

33 G. GYÖRFFY, Thomas à Becket and Hungary. Hungarian Studies in English, Bd. IV., Debrecen, 1969, S. 45–52.

34 SZENTPÉTERY, Reg. Arp., Nr. 59; G. FEJÉR, Codex diplomaticus Hungariae ecclesiasticus ac civilis (CDH), vol. VII / 5. Budae 1829, S. 45–52; MARSINA, CDS I, S. 71–72. Zur Benennung des Landes Rama (= Süd-Bosnien): F. PESTY, Az eltünt régi vármegyék, Bd. II. Budapest, 1880, S. 321 ff.; G. PAULER, A magyar nemzet története az Arpad – házi királyok alatt, Bd. I. Budapest, 1899, S. 279. Siehe die Literatur im Lexikon des Mittelalters, II, S. 477, wo der Autor des Artikels „Bosnien“ S. CIRKOVIČ diese Frage nicht erwähnt.

35 SZENTPÉTERY, Reg. Arp., Nr. 63; Monumenta ecclesiae Strigoniensis I., S. 88–97; D. SZABÓ, Magyar Nyelv., XXXII, 1936, S. 54–57, 130–135, 203–206.

36 KUBINYI, Königliche Kanzlei, S. 299–324; GYÖRFFY, La chancellerie, S. 159–175.

37 SZENTPÉTERY, Reg. Arp., Nr. 61; L. ERDÉLYI, A pannonhalmmi Szent-Benedek-rend törtnete, Bd. I. Budapest, 1903, S. 90, 596.

38 SZENTPÉTRY, Reg. Arp., Nr. 83; ERDÉLYI, A pannonhalmmi, S. 602.

39 SZENTPÉTERY, Reg. Arp., Nr. 72; ERDÉLYI, A pannonhalmmi, S. 597.

40 Siehe Anm. 4 und 5.

41 KUMOROVITZ, Erste Epoche, S. 161–165.

42 SZENTPÉTERY, Reg. Arp., Nr. 68; T. SMIČIKLAS, Codex diplomaticus et epistolaris regni Croatiae, Dalmatiae et Slavoniae, vol. II. Zagrabiae, 1904, S. 49.

43 SZENTPÉTERY, Reg. Arp., Nr. 84, 86. Vgl. Abb. der Bleibulle in III. Béla király eml., S. 147.

44 SZENTPÉTERY, Reg. Arp., r. 155; Ó – magyar olvasókönyv. Ed. E. JAKUBOVICH – D. PAIS, Pécs, 1929, S. 53–61.

45 SZENTPÉTERY, Reg. Arp., Nr. 154; Facsimile und Edition: III. Béla király eml., S. 81, 347.

46 SZENTPÉTERY, Reg. Arp., Nr. 139, 141 ff.

47 GYÖRFFY, La chancellerie, S. 168.

48 SZENTPÉTERY, Reg. Arp., Nr. 128; ERDÉLYI, A pannonhalmmi I, S. 85, 605.

49 1134: SMIČIKLAS, CDCDS, S. 42–43; 1177: SZENTPÉTERY, Reg. Arp., Nr. 128; 1184: ERDÉLYI, A pannonhalmmi X, S. 501.

50 FEJÉR, CDH II, S. 311 ff. und die Ausgaben der Regesten des Papstes Innozenz III. in den Jahren ab 1198.

51 Vgl. F. EKHART, Die glaubwürdige Orten Ungarns in Mittelalter. MIÖG, Erg. – Bd. IX, 1915, S. 536–558; G. BÓNIS, Les autorités de „fois publique“ et les archives de „Loci Cridebili“ en Hongrie médiévale. n: Archivum – Revue Internationale des Archives, Vol. 12 (1965), S. 87–104.