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« Vocavit nos pius »

« Öffentlichkeitsarbeit » durch päpstliche Urkunden im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit

Professeur, Universität Passau, D–94030 Passau. frenz01@pers.uni-passau.de

Der stilus curiae ist bereits ausreichend erforscht. Weniger erforscht ist die Wirkung der Urkunden auf die Zeitgenossen, insbesondere auf diejenigen, die der lateinischen Sprache nicht oder nur in begrenztem Umfang mächtig waren. Ging man im späteren Mittelalter zur Volkssprache über, um einem breiteren Publikum das Verständnis zu ermöglichen, wenn eine Urkunde öffentlich verkündet wurde? Diese Behauptung der Philologen ist auch deshalb fraglich, weil selbst Lateinkundige kaum in der Lage waren, päpstliche Urkunden beim erstmaligen Hören zu verstehen. Die öffentliche Wirkung sollte auch gar nicht primär durch inhaltliches Verständnis erzielt werden, zumal die Hörer aus Schulunterricht und Liturgie den Umgang mit unverstandenen lateinischen Texten gewohnt waren. Die erwünschte Wirkung wurde vielmehr durch spektakuläre Eingangsworte und aufwendige äußere Gestaltung der Urkunden und des Verkündfigungsvorgangs erzielt.

Le stilus curiae a déjà été étudié à suffisance ; on s’est beaucoup moins occupé de l’effet des actes pontificaux sur les contemporains, et surtout sur tous ceux qui ne possédaient pas du tout ou de façon très limitée la langue latine. Quand un acte était proclamé en public, au bas Moyen Âge, le transposait-on en langue vulgaire, pour lui permettre d’être compris d’un plus grand nombre ? Une telle hypothèse, avancée par les philologues, soulève à son tour bien des questions, entre autres parce que les latinisants eux-mêmes n’étaient guère plus à même de comprendre les actes pontificaux à la première audition. L’efficacité de la publication devait d’autant moins dépendre d’une compréhension intime, que l’enseignement scolaire et la liturgie ne cessaient de mettre les auditeurs au contact de textes latins incompris. L’efficacité souhaitée devait être bien davantage atteinte par la formulation spectaculaire des incipit, par la somptuosité des caractères externes des actes, par l’éclat des procédés de promulgation.

Einleitung

Die Expedition einer päpstlichen Urkunde1 durchläuft drei Phasen:

  • das Stadium der Supplik, also das Vorbringen und die Genehmigung der Bitte;
  • die eigentliche materielle Ausstellung der Urkunde;
  • die Publikation und Durchsetzung der Urkunde am Ort, « in partibus ».

Der stilus curiae

In den ersten beiden Phasen gelten die strengen Regeln des stilus curiae. Der stilus curiae ist gut erforscht, und es gibt zahlreiche Publikationen über ihn2. Es wäre deshalb nicht sehr originell, noch einmal die verschiedenen ehrenden Prädikate, Grußformeln, Floskeln, Klauseln, Layout-Regeln usw. hier vorzuführen.

Interessant wird der stilus curiae allenfalls dort, wo er an seine Grenzen stößt:

  • etwa wenn der Empfänger für die Kurie eine Unperson darstellt, zum Beispiel in den Briefen der Avignonesischen Päpste an Kaiser Ludwig den Bayern3;
  • oder wenn während des Schismas die Gegenpäpste miteinander korrespondieren;
  • oder wenn das Konzil von Basel versucht, den Papst zugleich nachzuahmen und zu übertrumpfen4;
  • oder, ins Positive gewendet, wenn der Papst mit einem entfernten heidnischen Herrscher Kontakt aufnehmen will, um ihn zu einem Bündnis gegen die Türken zu bewegen.

Das ist interessant, aber allein würde es nicht ausreichen, um damit ein ganzes Kolloquiumsreferat zu füllen.

Die Wirkung der päpstlichen Urkunden auf das zeitgenössische Publikum

Ich möchte deshalb das Thema des Kolloquiums etwas extensiver auffassen und vor allem über die dritte Phase sprechen. Ich frage: welche Wirkung übten die Urkunden auf das zeitgenössische Publikum aus? Wie wurde diese Wirkung erzielt? Und konnte man mit den lateinischen Papsturkunden überhaupt eine Wirkung auf ein breiteres Publikum erzielen – ein Publikum, das die lateinische Sprache in aller Regel nicht beherrschte? Konnte man also, um das ominöse, aber unübersetzbare Wort zu gebrauchen, mit Papsturkunden « Öffentlichkeitsarbeit » leisten?

Volkssprachliche Urkunden

Die Frage hat schon die Zeitgenossen bewegt. Wir beobachten ja, daß vom 12. oder 13. Jahrhundert an Urkunden auch in der Volkssprache ausgestellt wurden, wovon in mehreren Beiträgen dieses Kongresses die Rede ist. Auch für die deutschsprachigen Urkunden diskutieren die Germanisten die Frage nach den Gründen, und dabei spielt genau dieser Aspekt – Verständlichkeit für ein breiteres Publikum – eine wichtige Rolle. Eine den Historiker überzeugende Antwort ist bisher aber ausgeblieben, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe.

Eine interessante Quelle dazu bietet Johannes von Viktring. Er berichtet, König Rudolf von Habsburg habe die lateinische Sprache für seine Urkunden verboten, damit die Laien nicht durch das Latein von den Klerikern betrogen würden5. Die Nachricht ist zwar absurd, denn fast alle Urkunden Rudolfs sind lateinisch, aber sie zeigt doch, daß sich auch schon die Zeitgenossen mit dem Problem auseinandersetzten.

Sollte das hörende und/oder lesende Publikum wirklich den Inhalt der Urkunde verstehen?

Aber zurück zu den lateinischen Urkunden, und hier ist sogleich einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen: wer eine lateinischen Urkunde publizierte, erwartete keineswegs automatisch, daß das hörende oder lesende Publikum sie auch inhaltlich verstand.

Nicht-lateinkundige Hörer waren es gewohnt, unverstandene lateinische Texte zu hören

Im Gegenteil: man war im Mittelalter von Kindesbeinen an daran gewöhnt, inhaltlich unverstandene lateinische Texte zu hören und zu sprechen, zu lesen und zu schreiben. Dies war bereits in der Schule so, wenn man lesen und schreiben lernte. Dieser Unterricht6 verlief folgendermaßen: man lernte zunächst ein gewisses Quantum lateinischer Texte auswendig – ohne sie zu verstehen! –, und anhand dieser Texte erlernte man zunächst das Lesen und dann das Schreiben. Erst danach folgte, wenn überhaupt und nur für einen Teil der Schüler, der lateinische Sprachunterricht mit Donat, Avian, Vergil usw. Aber genauso gut konnte man zeitlebens auf der vorgrammatischen Stufe stehenbleiben, wie für eine ganze Reihe auch bedeutender Personen berichtet wird. Wir müssen zum Beweis gar nicht auf die nette Anekdote über die Nonnen zurückgreifen, die während der Fastenzeit im schönsten Psalmenton « Hic non dicitur „Gloria patri“ » sangen.

Auch bei der öffentlichen Verkündung einer Urkunde kam es nicht eigentlich auf ein vollständiges inhaltliches Verständnis an. Eine solche Verkündung als Höhepunkt des Exekutionsprozesses war ein feierlicher Akt, der die Zuhörer vor allem beeindrucken sollte. Die Urkunde wurde deklamiert, vielleicht sogar gesungen7. Man kann sich das mühelos so vorstellen, wie während der Messe das Evangelium vorgetragen wird. Der cursus der Urkundensprache, vor allem der häufige cursus velox, kam einer solchen Intonation entgegen. Ein zahlreiches, aber nicht unbedingt verständiges Publikum wünschte sich beispielsweise auch Papst Clemens VIII., als er 1598 Cesare d’Este exkommunizierte, um Ferrara für den Kirchenstaat zurückzugewinnen. In der Urkunde heißt es ausdrücklich, das Volk sei durch die Gewährung von Ablässen zur Teilnahme an ihrer öffentlichen Verkündigung anzulocken8.

Auch lateinkundige Hörer hatten Schwierigkeiten mit dem Verständnis komplizierter lateinischer Texte

Selbstverständlich gab es zu jeder zeit Kleriker, die Latein nicht nur gelernt hatten, sondern es auch selbst korrekt formulieren und also auch verstehen konnten. Aber geben wir uns auch hier keinen Illusionen hin: auch diese Herren dürften es in der Regel nicht geschafft haben, die komplizierten Formulierungen der päpstlichen Urkunden auf Anhieb zu verstehen. Ihre Aufmerksamkeit dürfte spätestens beim dritten ablativus absolutus mit eingeschachteltem Nebensatz 2. Grades erlahmt sein.

Bedeutung des Incipits der Urkunde

Wenn die Kurie also mit einer lateinischen päpstlichen Urkunde ein breites Echo hervorrufen wollte, mußte dies gleich zu Beginn des Textes geschehen, und zwar durch Formulierungen, die auch der weniger Gebildete verstand – etwa weil sie ihm beim täglichen Brevier immer wieder unterkamen.

Beispiele für « kräftige » Incipits

In der Tat weisen viele wichtige Texte ein kräftiges Incipit auf: erinnert sei etwa an Bonifaz‘ VIII. « Unam sanctam », das Konstanzer « Hec sancta synodus » oder die Bannbulle gegen Luther « Exurge domine ». Auch die neuzeitlichen Enzykliken – man denke an « Humanae vitae » – bedienen sich dieses Mittels; ebenso die Dekrete des 2. Vatikanums wie « Lumen gentium », « Gaudium et spes » usw.

Beweise für die wichtige Rolle des Incipits

Vielleicht überzeugen diese Beispiele noch nicht ganz, aber die These läßt sich testen:

  • Test Nr. 1 (ex negativo): es gibt eine Gruppe päpstlicher Urkunden mit welthistorischer Bedeutung, die aber an die Regierungen gerichtet waren und nicht an eine breite Öffentlichkeit: die Entscheidungen über die Teilung der Welt zwischen Spanien und Portugal. Diese Bullen beginnen mit dem ganz lahmen Incipit « Inter cetera », das nun wirklich keinen potentiellen Indienfahrer vom Hocker reißen konnte.
  • Test Nr. 2: Fälschungen. Gefälschte Urkunden sind generell für einen solchen Test geeignet, denn der Fälscher muß ja die Regeln und Gewohnheiten besonders genau einhalten, um keinen Verdacht zu erregen. Gefälschte päpstliche Schreiben verwendete beispielsweise der französische König Philipp der Schöne in seinem Konflikt mit Bonifaz VIII. Sie haben Incipits wie « Time deum », « Ausculta fili », « Sciat tua maxima fatuitas » etc. Daß hier ein breites Publikum beeindruckt werden sollte, ist offenkundig; und es ist bekannt, daß die Rechnung ja auch aufging.

Mögliche Mißverständnisse beim Hören des Incipits

Aber auch ein geschickt gewähltes Incipits konnte aufgrund mangelnder Lateinkenntnisse mißverstanden werden.

Spekulative Beispiele

Es ist also nicht ausgeschlossen, daß mancher hinter « Unam sanctam » die Kanonisationsbulle für eine neue weibliche Heilige vermutete. Und ob die Aufforderung « Exurge domine » wirklich an den Herrn der Heerscharen gerichtet war, und nicht eher an den Herrn Erzbischof von Mainz, der endlich etwas unternehmen sollte, muß dahingestellt bleiben.

Nachgewiesene Beispiele

Zugegeben: diese Fälle sind Spekulation, wenn auch keineswegs völlig unwahrscheinlich. Es gibt aber ein schönes Beispiel, wie ein solches populäres Mißverständnis vorausgesehen, wenn nicht sogar von vornherein bewußt mit eingeplant wurde. Gemeint ist die Kreuzzugsbulle Pius‘ II. von 14589. Sie beginnt mit den Worten « Vocavit nos pius Deus » – « uns rief der getreue Gott » usw. Diesem Kreuzzugsaufruf folgten bekanntlich nur sehr wenige Fürsten; dafür aber ganze Horden mittelloser und ungebildeter Leute. Und diese Leute verstanden den Beginn der Bulle anders, als ich soeben übersetzt habe: « Vocavit nos Pius » – « Uns rief Pius », nämlich: Papst Pius II.

Optische Wirkung von Papsturkunden auf ein nicht-literates Publikum

Aber selbst auf ein ganz illiterates Publikum ließ sich eine Wirkung ausüben. Auffälligerweise sind diejenigen Urkunden, die die breite Masse am stärksten interessieren, auch am schönsten und aufwendigsten ausgestattet: die Ablaßurkunden10. Und selbst wenn die Bevölkerung diese Urkunden nicht zu Gesicht bekam – als kostbarer Rechtstitel wurden sie im Archiv verwahrt! –, sah sie doch auf jeden Fall eine andere Variante von Ablaßurkunden, die geradezu als Reklameplakate gestaltet waren, die Sammelindulgenzen der Kardinäle11. Diese Prachtstücke wurden an den Kirchentüren angeschlagen und so öffentlich zur Schau gestellt. An etlichen Exemplaren sind heute noch die Rostspuren der Nägel zu erkennen und die Schlaufen zum Aufhängen erhalten. Selbst wer die Urkunde nicht lesen konnte, erkannte doch das päpstliche Wappen und die Heiligenfiguren. Mehr noch: die Urkunden wurden, wenn der Ablaß neu war, sogar in Prozession durch die Straßen getragen12. Wie gut diese Urkunden öffentlich bekannt waren, zeigt ein letztes Beispiel: in Nürnberg trat 1523, also schon nach der Reformation, während des Karnevals beim Schembartlauf eine Figur auf, deren Kostüm ganz aus solchen ablaßurkunden zusammengesetzt war.

Schlußbemerkung

Eine persönliche Bemerkung des Autors zum Schluß: zugegebenermaßen unterscheidet sich dieser Beitrag deutlich von den übrigen Beiträgen des Kongresses, die sich vornehmlich an den Fachhistoriker richten. Aber nicht alle, die in der Vergangenheit mit Urkunden zu tun hatten, waren Diplomatiker. Deshalb lohnt es sich durchaus, einmal darüber nachzudenken, wie Urkundensprache auch dort, wo sie nicht verstanden, und Schrift, wo sie nicht gelesen wurde, Wirkungen entfalten konnte.


1 . Zur Papstdiplomatik grundlegend Thomas Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit, Stuttgart, 22000 (Historische Grundwissenschaften in Einzeldarstellungen, 2). Nachträge dazu unter http://www.phil.uni-passau.de/histhw/cancellaria/addenda.htm.
2 . Vgl. Thomas Frenz, « Kurialstil », Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, IV, Tübingen, 1998, Sp. 1536–1541.
3 . Grußformel Benedikts XII.: « ad promerendam in presenti gratiam et in futuro gloriam Deum diligere veraciter et timere » (vgl. Anton Haidacher, Geschichte der Päpste in Bildern, Heidelberg, 1965, S. 54).
4 . Vgl. dazu Thomas Frenz, Die Urkunden des Konzils von Basel, Prag, 1993 (Lectiones eruditorum extraneorum in facultate philosophica Universitatis Carolinae Pragensis factae, 2), S. 7–26.
5 . « Statuit eciam, ut fertur, quod propter communem intelligenciam obscure Latinitatis privilegia et littere de cetero vulgariter conscribantur » : Iohannis abbatis Victoriensis liber certarum historiarum, hrsg. von Fedor Schneider (Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum ex Monumentis Germaniae Historicis separatim editi, 36), Bd. 1, Hannover, 1909, S. 269.
6 Dazu jüngst Thomas Frenz, « ‘Danach erhielt ich ein deutsches Büchlein…’ : Beobachtungen zum Lesen- und Schreibenlernen vornehmlich im frühen Mittelalter », « Was liegt dort hinterm Horizont? » Zu Forschungsaspekten in der (nieder-)deutschen Philologie, Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. phil. habil. Dr. h. c. Irmtraud Rösler, hrsg. von Ingmar ten Venne, Rostock, 2002 (Rostocker Beiträge zur Sprachwissenschaft, 12), S. 59–67.
7 . Vgl. dazu die Kontroverse um das Buch von Gustav von Buchwald, Bischofs- und Fürstenurkunden des XII. und XIII. Jahrhunderts, Rostock, 1882, welcher (S. 34) einen « sangbaren Vortrag » postuliert. Dazu Harry Breßlau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Bd. 2, Berlin, 21915/1931 (= 31958 = 41968), S. 371, Anm. 3: « Für diesen seltsamen Einfall läßt sich nicht das geringste anführen ». Zu Breßlau wiederum Richard Newald, « Das erste Auftreten der deutschen Urkunde in der Schweiz », Zeitschrift für schweizerische Geschichte, 21(1942), S. 489–507, hier S. 501: « mit geheimrätlicher Verachtung übergossen ».
8 . Für einen Bericht über die öffentliche Verkündung einer Urkunde vor einem eher ländlichen Publikum vgl. Thomas Frenz, « Die Inkorporation der Pfarreien Neunkirchen bei Miltenberg (1419/1423) und Kahl am Main (1502/1503) in das Aschaffenburger Kollegiatstift », Aschaffenburger Jahrbuch für Geschichte, Landeskunde und Kunst des Untermaingebietes, 7 (1981), S. 37–93, hier S. 61f.
9 . Vgl. dazu Ludwig von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 2, Freiburg, 3+41904, S. 18ff.
10 . Abbildungen von päpstlichen Ablaßurkunden: vgl. T. Frenz, Papsturkunden des Mittelalters…, S. 114 und http://www.phil.uni-passau.de/histhw/cancellaria/urkunden.htm.
11 . Alexander Seibold, Sammelindulgenzen, Köln, 2000 (Archiv für Diplomatik Beiheft, 8); Thomas Frenz, « Wappendarstellungen auf Urkunden der römischen Kurie », Herold-Jahrbuch, N. F. 2 (1997), S. 37–49 (mit Abbildungen).
12 . Vgl. Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Ausstellungskatalog, Frankfurt/Main, 1983, Abb. 321.