[p. 321] Städtisches Urkundenwesen und Schriftgut in Westfalen vor 1500
In seinem Grußwort zum Diplomatikerkongreß 1983 hob Walter Koch hervor, daß “die Erforschung der Urkunden- und Aktenmassen des Spätmittelalters vielfach noch ein Stiefkind der Wissenschaft” darstellt1. Dieses Diktum gilt ohne jede Einschränkung auch für das hier zur Diskussion stehende spätmittelalterliche städtische Urkundenwesen. Wenn in einer regionalen Skizze im folgenden das heutige Westfalen vorgestellt werden soll, darf dies nicht den Eindruck vermitteln, es handele sich um eine besonders entwickelte oder gar besonders gut erforschte Region2. Das Mitte des 19. Jahrhunderts begonnene westfälische Urkundenbuch enthält zwar flächendekkend das Urkundenmaterial bis über 1300 hinaus, doch weist es viele Mängel auf. Vor allem verzichtet es konsequent auf diplomatische Kritik und ist daher vor allem für das 12. und 13. Jahrhundert nur unter größtem Vorbehalt zu benutzen. Auch die städtischen Urkundenbücher legen zumeist nur die Texte vor. Übergreifende diplomatische Studien wie Detailarbeiten zum städtischen Urkundenwesen fehlen3. Die Beschäftigung mit städtischem Geschäftsschriftgut beschränkte sich zumeist auf die kommentierte Edition einzelner Stücke. Dennoch sind in den letzten Jahrzehnten wichtige Fortschritte erzielt worden. Sie gingen vor allem von der mittelniederdeutschen Philologie aus, die sich den Schreibsprachen einzelner Städte widmete, dabei unter anderem paläographische [p. 322] Untersuchungen der spätmittelalterlichen Urkunden anstellte und die in der Stadt tätigen Schreiber zu identifizieren suchte4. Überdies ist in Westfalen die Städtegeschichte in den letzten Jahrzehnten in besonderem Maße gepflegt worden. Die vom Institut für vergleichende Städtegeschichte vorangetriebenen Arbeiten haben in interdisziplinärer Zusammenarbeit wichtige Erkenntnisse erbracht5. Doch trotz dieser Bemühungen liegen für viele westfälische Städte keine modernen Stadtgeschichten vor. So kann ich Ihnen heute nur die Umrisse eines Bildes von städtischem Urkundenwesen und Schriftgut in Westfalen vor 1500 zeichnen, eine Skizze, die noch durch viele Detailforschungen gefüllt werden müßte6.
Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Ausführungen ist es sinnvoll, kurz die Entwicklung des westfälischen Städtewesen zu umreißen. Seit der Karolingerzeit hatten sich aus verschiedenen Wurzeln mehrere frühstädtische Gebilde entwickelt, die sich in einer ersten Phase des Städtewesens bis 1180 zu Städten wandelten. Wichtige Elemente ihres städtischen Charakters waren die Siedlungsverdichtung, rechtliche Absonderung aus dem Umland, Ummauerung in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und Ausbildung [p. 323] eigener Institutionen. Im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts war in diesen alten Städten die Ratsverfassung voll ausgebildet. Sicher waren Dortmund, Soest, Paderborn, Höxter, Münster, Minden und (das heute niedersächsische) Osnabrück um 1180 Städte. Als zweiter Abschnitt der Stadtentstehung gilt die Zeit von 1180 bis 1350. In einer ersten Phase von 1180 bis 1240 bildeten sich ältere Siedlungen zu Vollstädten aus und neue Siedlungen entstanden planmäßig. Bis 1240 stieg die Zahl der westfälischen Städte von 7 auf 37. In der Phase von 1240 bis 1290 entstanden 31 Orte, die man als Kleinoder Zwergstädte bezeichnen kann. Die letzte Phase nach 1290 war die Zeit der sogenannten Minderstädte. 1350 beginnt ein neuer Abschnitt der Städtegeschichte, der bis 1803 andauert, geprägt vor allem durch die Anlage von Industriesiedlungen7. Parallel zur Entstehung neuer Städte und der Verdichtung des Städtenetzes, die sich gut im Kartenbild abzeichnet, wandelte sich die innere Verfaßtheit : die städtischen Körperschaften suchten sich zunächst Autonomie vom Stadtherrn zu verschaffen. Nachdem sie schrittweise den Stadtherrn aus dem Stadtregiment verdrängt hatten, begannen sich innerstädtische Gruppen um die Teilhabe an der Macht zu streiten8.
Doch nun zum Urkundenwesen. Die wenigen westfälischen Städte treten im 12. Jahrhundert noch nicht als Urkundenaussteller hervor. Das westfälische Urkundenwesen dominieren die örtlichen Bischöfe und der Erzbischof von Köln, in zweiter Linie sind Äbte, Äbtissinnen und Pröpste zu nennen. Urkunden weltlicher Aussteller sind noch selten. Allerdings begegnen Städte wie Soest und Coesfeld bereits als Empfänger von Herrscher- und Bischofsurkunden9. [p. 324] Das älteste Soester Siegel, 1230 als Stadtsiegel bezeichnet, wurde von Manfred Groten in die vierziger Jahre des 12. Jahrhunderts datiert und tritt erstmals an einer in den sechziger Jahres desselben Jahrhunderts entstandenen Urkunde des Soester Gerichtes auf10.
Im Lauf des 13. Jahrhunderts treten die ersten städtischen Urkunden auf, noch selten in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, häufiger im dritten Viertel, in vierten Viertel steigt ihre Zahl dann sprunghaft an. Wiewohl die Menge der erhaltenen Urkunden für das 13. Jahrhundert generell stark zunimmt, ist der Anstieg der städtischen Urkunden in der zweiten Jahrhunderthälfte überproportional. Das Auftreten von Urkunden ist dabei nicht unbedingt an Größe und Alter der Stadt gebunden. Auch aus sehr jungen und verhältnismäßig unbedeutenden Städten haben wir Urkunden. Allein von der Zahl der überlieferten Stücke ließ Wiedenbrück die alte Bischofsstadt Münster weit hinter sich. Auf solche Befunde wird noch einzugehen sein. In manchen Städten begann die urkundlich greifbare Tätigkeit in Form der Mitbesieglung stadtherrlicher Urkunden11, in anderen, vor allem kleinen und noch wenig bedeutenden, werden Rechtsgeschäfte vor dem Stadtherrn und dem Rat gehandelt und von diesen gemeinsam beurkundet12.
Die wichtigste Gruppe städtischer Urkunden im 13. Jahrhundert entspringt der städtischen Gerichtsbarkeit. Richter und Schöffen sind die [p. 325] Aussteller13. Auch dort, wo in der innerstädtischen Verfassung die Ratsherren, consules, das Rennen machten, treten in den Urkunden oft zunächst die Schöffen in den Vordergrund. Schon früh stellen aber auch Richter und Ratmänner gemeinsam Urkunden aus14. Das inhaltliche Spektrum dieser Gerichtsurkunden ist groß. Zumeist geht es um Liegenschaftsangelegenheiten : Käufe, Verkäufe, Auflassungen, Abfindungen, Verzichtserklärungen, Schenkungen, Beilegung der bei Käufen und Schenkungen entstehenden lehnsrechtlichen Formalitäten, daneben begegnen Rentengeschäfte, Verkauf von Eigenhörigen und Freilassungen. Das Feld derjenigen, die die städtischen Beurkundungsinstanzen in Anspruch nahmen, ist weit : Adlige aus der näheren und weiteren Umgebung, geistliche Institutionen, Bürger. Diese Rechtsgeschäfte sind keineswegs exklusiv städtischen Charakters, wenn sie auch oft vor den Instanzen gehandelt wurden, in deren Umfeld die Güter lagen. In ähnliche Angelegenheiten urkunden auch die Bischöfe oder Äbte und Pröpste.
Vor allem in der Frühzeit seltener als die städtischen Gerichtsurkunden sind städtische Urkunden im eigentliche Sinne. Formal unterscheiden sie sich von den Gerichtsurkunden nur dadurch, daß als Aussteller nicht der Richter und die Schöffen erscheinen, sondern die maßgebliche Instanz der Stadt, also Schöffenmeister und Schöffen, Bürgermeister und Ratsherren oder Bürgermeister, Ratsherren und Gemeinde. In diesen Urkunden geht es um innerstädtische Rechtssetzungen wie Ratswahl, Rechte der Bürgerschaft oder der Zünfte15, Belehnungen, um äußere Beziehungen, etwa Bündnisse, Verträge, Waffenstillstände mit anderen Städten16, Vereinbarungen und Vergleiche mit in der Stadt liegenden geistlichen Institutionen, auch Käufe, Verkäufe [p. 326] und Rentengeschäfte17 sowie Auskünfte über bestehende Rechtsverhältnisse innerhalb der Stadt18, aber sie bekundeten etwa auch Memorienstiftungen19. Bei Geschäften auf Gegenseitigkeit oder bei Schlichtungen fertigte man entweder gemeinsame Urkunden in zwei Exemplaren aus oder aber fast gleichlautende Stücke des einen Partners jeweils für den anderen, die noch mitbesiegelt sein konnten20. Bei komplizierteren Rechtsgeschäften, etwa in Vormundschaftssachen oder in Lehnsfragen, siegelten oft alle vom Rechtsgeschäft Betroffenen21.
Da sich städtische Gerichts- und Ratsurkunde formal nur durch die Intitulatio unterscheiden und zumeist mit demselben Siegel gesiegelt wurden, können wir generalisierend von der städtischen Urkunde sprechen. Die gängige Form dieser städtischen Urkunde ist recht schlicht. In der Intitulatio nennen sich die Aussteller, in der früheren Zeit oft mit Amtsbezeichnung ohne Angabe der Namen. Im späten 13. Jahrhundert fungieren die Amtsinhaber immer öfter persönlich als Aussteller. Nach einer schlichten Promulgatio folgt der Rechtsinhalt. In den seltenen Fällen, in denen eine Arenga begegnet, handelt es sich um eine Schriftlichkeitsarenga. In der Regel wird vermerkt, daß das Geschäft vor Richter und Schöffen bzw. vor Bürgermeistern und Rat getätigt worden sei. Siegelankündigung, Datierung und Zeugenliste beschließen die Urkunde. Die Bezeichnung des Siegels in Corroboratio und Umschrift schwankt : mal heißt es sigillum burgensium, öfter sigillum civitatis. In manchen Fällen läßt sich die Emanzipation der Stadt vom Stadtherrn im Wandel der Siegelumschrift beobachten. In den ältesten Siegeln von Lippstadt wurde noch der Stadtherr, der Edelherr von der Lippe genannt. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verschwindet er22. Während die ältesten Siegel, deren Stempel noch aus dem 12. Jahrhundert stammen, in Westfalen vor allem das [p. 327] von Soest, den Stadtheiligen zeigen, ist die gängige Form im 13. Jahrhundert die durch Tor, Mauern, Türme und Zinnen gegebene Stadtabbreviatur mit Beizeichen wie dem Wappen des Stadtherrn, redendem Wappen der Stadt oder dem Stadtpatron. Neben das große Stadtsiegel treten in den siebziger Jahren des 13. Jahrhunderts als Rücksiegel bereits eigene Sekretsiegel23. Mehrfach, so etwa in Bocholt vor 1302, wurden die Petschaften ohne wesentliche Veränderungen erneuert. In dieser Stadt tritt wohl noch Ende des 13. Jahrhunderts neben das große Stadtsiegel ein eigenes Schöffensiegel24. In der Regel sind die westfälischen Stadtsiegel rund, es gibt aber auch Ausnahmen25. Große Seltenheit sind Urkunden, in denen Richter, Bürgermeister und opidani eine Rechtshandlung beurkunden und nicht mit dem Stadtsiegel, sondern ihren persönlichen Siegeln bekräftigen26. Neben der eigentlichen städtischen Urkunde gab es weitere Formen der urkundlichen Dokumentation. Vor allem bei Urkunden von Adligen und Ministerialen, aber auch Urkunden von Stiften, siegelte neben dem Aussteller die Stadt mit dem Stadtsiegel mit. Diese Mitbesiegelung konnte durch eine entsprechenden Formulierung in der Corroboratio vermerkt werden. In der Regel erschienen Bürgermeister und Rat [p. 328] dann auch in der Zeugenliste27. Eine andere Form war, nach Abschluß des Urkundenteils des eigentlichen Ausstellers mit Datum und Zeugenliste einen subjektiv gefaßten Teil anzuschließen, in dem der Rat bezeugte, die oben ausgeführte Rechtshandlung habe vor ihm stattgefunden und er bezeuge dies durch Anhängen des Stadtsiegels. Das städtische Gericht mußte nicht der einzige Mitbesiegler bleiben, oft traten weitere Adlige, in der Stadt ansässige geistliche Personen, Institutionen und andere Städte hinzu28. Die Mitbesiegelung konnte auch Ausdruck schiedsrichterlicher Funktion von Schöffen oder Rat sein29. Als Mitbesiegler traten die Städte oft in stadt- und landesherrlichen Urkunden und Verträgen auf30. Öfter urkundeten städtische Instanzen und andere Urkundspersonen vor Ort auch gemeinsam31. In all diesen Fällen nutzte man die zeittypische Form der Siegelurkunde. Für das 13. Jahrhundert wurden mir keine städtischen Chirographe bekannt. Sicher werden hinter einem Gutteil städtischer Urkundtätigkeit handfeste Motive gestanden haben. Zwar ist nur selten davon die Rede, daß die Stadt oder ihr Gericht für die Ausstellung von Urkunden Gebühren erhoben, aber es dürfte der Normalfall gewesen sein32.
[p. 329] Städtische Urkunden standen in den meisten Fällen sozusagen in Konkurrenz zu anderen Möglichkeiten der Beurkundung. Dennoch gab es einige spezifisch städtische Sektoren des Urkundenwesens. Ein wichtiger Bereich städtischen Handelns waren Rechtsauskünfte. So erteilten die Städte, deren Recht für andere maßgeblich wurde, ihre Rechtsauskünfte in Urkundenform33. Vermutlich waren auch die Anfragen urkundlich abgefaßt und besiegelt34. In anderen Fällen wurde die Stadt für ihre Bürger tätig. Wenn jemand außerhalb der Stadt starb und Vermögen hinterließ, für das Stadtbürger erbberechtigt waren, konnte der Rat eingeschaltet werden, um den Erben zu ihrer Erbschaft zu verhelfen. Schon aus dem Jahre 1269 stammt ein Schreiben des Soester Rats an die Stadt Lübeck. 1268 war dort Dietrich Hunbracht getötet worden. Seine Mutter Ida und sein Bruder Ludolf in Soest waren die rechtmäßigen Erben. Der Rat fragte nun in Lübeck an, ob und welche Güter Dietrichs in Lübeck vorhanden sind und bittet, sie Heinrich genannt Honsele, dem Beauftragten des Soester Rats, auszuhändigen. Die Urkunde schließt mit der Versicherung auf Gegenseitigkeit35. Bei verschiedenen Problemen, etwa [p. 330] Vermögensschädigungen und Problemen bei deren Beilegung, konnten sich die Bürger auf ihre Stadt stützen36. In anderen Fällen stellten Städte urkundenmäßig Pässe und Geleitbriefe für ihre Bürger aus. So bat die Stadt Herford 1299 die Stadt Osnabrück, einem ihrer Bürger den ungestörten Besuch der Märkte zu gestatten und bürgte für ihn37. Auch bei Proscriptionen, Verfestungen, mit denen sich die Städte durch das Mittel der Acht gegen äußere Übergriffe Einzelner schützten, entstanden Urkunden38.
Mit den ältesten Urkunden fassen wir sicher nicht die Anfänge städtischen Urkundenwesens. Betrachtet man äußere Gestalt, Formular und Siegelbild, so treten bereits die ältesten Stücke in voller Entwicklung auf. Vielmehr scheint es ein Problem der Überlieferung zu sein. So stammen fast alle frühen ostmünsterländischen Stadturkunden, nämlich für Telgte, Ahlen, Beckum, Rietberg und Wiedenbrück sowie Salzkotten bei Paderborn, aus dem Archiv des 1185 gegründeten Klosters Marienfeld, der bedeutendsten westfälischen Zisterze39. Bekanntlich waren die Zisterzienser im 13. Jahrhundert äußerst [p. 331] aktiv im Erwerb von Liegenschaften und Renten, zugleich aber auf deren urkundliche Sicherung bedacht40. Viele Urkunden zeigen, daß der Abt von Marienfeld auf schriftliche Dokumentation der Rechtsgeschäfte drang41. Leider gibt es noch keine diplomatische Untersuchung, die dem Anteil Marienfelder Schreiber und Diktatoren in den für die Zisterze bestimmten Urkunden nachgeht42. Doch nicht alle Urkunden verdanken ihre Entstehung zisterziensischem Drängen. Zum einen ist hier auf Warendorf zu verweisen, dessen früheste Stadturkunde aus dem Fonds des Klosters Rengering stammt43. Marienfeld sammelte nicht nur ostmünsterländische Urkunden, sondern sicherte seine Interessen auch durch Dokumente der Städte Münster, Lippstadt, Herford, Bielefeld und Horn. Für diese Städte liegen vergleichbare Urkunden auch in anderen Fonds vor, und sie zeigen, daß die Marienfelder Überlieferung in ihrer Dichte zwar hervorstechend, aber von Form und Inhalt [p. 332] her typisch ist44. Auch innerhalb des Marienfelder Bestandes gibt es Anzeichen, daß wir ihn zwar als außerordentlichen Überlieferungsfonds betrachten müssen, die dort überlieferten Urkunden aber als repräsentativ betrachten können. In einer Reihe von Fällen läßt sich zeigen, daß Marienfeld Liegenschaften und Renten aufkaufte und sich die dem ursprünglichen Geschäft entwachsenen Urkunden aushändigen ließ. So ist die wichtige Rolle des Marienfelder Bestandes für die Überlieferung städtischer Urkunden vor allem der sorgfältigen Bewahrung schriftlicher Dokumente zu verdanken45. Viele der städtischen Urkunden wurden für Bürger und andere Empfänger angefertigt, die auf lange Sicht keine Archive bildeten und deren Urkunden im Laufe der Zeit untergingen oder als unnütz kassiert wurden.
Aufgrund des disparaten Materials und des unbefriedigendes Standes der Vorarbeiten läßt sich nichts über die Schreiber der städtischen Urkunden sagen. Erst mit der dichteren Überlieferung des 14. Jahrhunderts lassen sich hier Aussagen treffen, die uns noch beschäftigen werden. Zu den Ausnahmen zählt eine Urkunde von Priorin und Konvent von Küstelberg, in der 1275 sie verbrieften : … concedimus ipsorum burgenses in Medebecke … plenam perpetuo licentiam, capellanum ad scholas regendas et literas dictandas et scribendas utilem assumendi46. Dennoch sind seine Aufgaben, wie die Urkunde weiter ausführt, keineswegs allein durch städtische Obliegenheiten geprägt : Quem noster praepositus qualiscunque, eadem gratia quam ad probos et literatos capellanos ex antiquo constat fore revolutam, perfrui patietur ; [p. 333] scilicet ut singulis annis marcam denariorum, secundam missam pro defunctis, visitationes infirmorum extra civitatem omnino, etiam partem inunctiones infra oppidum et dimidiam in parochia, simul cum scholis ibidem commode obtineat et quiete ; ita tamen ut praeposito nostro debito more deserviens, tam nostre quam nostrorum iustitiae et gratiae in nullo studeat derogare47.
Nichturkundliches städtisches Geschäftsschriftgut aus dem 13. Jahrhundert ist mir aus dem heutigen Westfalen nicht bekannt geworden. Hinzuweisen ist allerdings auf die im benachbarten Niedersachsen liegende Stadt Osnabrück, die historisch zu Westfalen gehörte. Die älteste Osnabrücker Stadtrechnung stammt von 1285 und wird von einigen weiteren Finanzaufzeichnungen des späten 13. Jahrhunderts begleitet. Diese Dokumente gehören zu den ältesten Vertretern ihrer Gattung auf deutschem Boden. Sie sind in flüchtiger Geschäftsschrift auf unregelmäßigen Pergamentstreifen und -resten mundiert48. Wie meine Untersuchungen zu Territorialrechnungen des 13. bis 15. Jahrhunderts gezeigt haben, haben solche Dokumente kaum eine Überlieferungschance49. Es ist kein Zufall, daß die ältesten deutschen Stadtrechnungen, die über den Koblenzer Mauerbau, mit dem Stadtsiegel besiegelt sind und daher den Anschein von Rechtsgültigkeit wahrten50. Dokumente, die bald rechtsunerheblich wurden, warf man in einer Zeit, in der Archive nur in Form der Privilegienlade ausgebildet waren, zumeist einfach weg. So ist der Negativbefund, es sei kein städtisches Geschäftsschriftgut vor 1300 auf uns gekommen, kein Hinweis darauf, daß es vorher nichts entsprechendes gegeben habe.
Was die äußeren und inneren Merkmale der Urkunden angeht, scheint sich im Zuge des Spätmittelalters, sieht man einmal von den Wandlungen der Urkundenschrift ab51, nicht wesentlich viel geändert zu haben. Zumeist sind die Urkunden vom graphischen Aufwand wie der formalen Fassung her recht schlicht. Zumeist werden Urkundenkursive oder Bastarda benutzt. Als Beschreibstoff dominiert Pergament, erst im 15. Jahrhundert treten Papierurkunden in nennenswertem Umfang auf, bleiben aber deutlich in der Minderzahl. [p. 334] Im Normalfall haben die Urkunden deutliches Querformat52. Im Laufe des 14. Jahrhunderts traten stärker die Ratsgremien als Beurkundungsinstanz hervor und verdrängten zum Teil Richter und Schöffen. Nachdem es mehr und mehr Städten gelungen war, in den Besitz des Stadtgerichtes zu kommen, schwand dessen Bedeutung ; stattdessen wuchs die der Ratsgerichtsbarkeit53. Waren das 12. und 13. Jahrhundert stark durch die Bischofsurkunden dominiert, verringert sich deren Anteil jetzt deutlich. Somit entspricht die Verschiebung der Urkundenausstellung sich wandelnden verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen. Der größte Teil der spätmittelalterlichen Urkundenüberlieferung entsprang weiterhin der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die Urkunden behandeln Rentenkäufe, Immobilienverkehr, Stiftungen, Erbschaftssachen und Vormundssachen54. Doch heißt das nicht, daß der Rat als Urkundsinstanz ohne Konkurrenz war. Weiter urkundeten Stadtrichter und Schöffen55. Weitere Organe der Rechtsprechung, so Gografen und Freigrafen, treten gleichfalls hervor56. Bei diesen Urkunden siegeln in der Regel nur der Aussteller, nicht aber Beteiligte und Zeugen. Neben gerichtlichen Instanzen gab es stets Geistliche, die Urkunden ausstellten. Vor allem Rechtsgeschäfte mit geistlichen Institutionen wurden meist von Geistlichen beurkundet. Bei Einrichtungen unter Kontrolle der Städte, vor allem Hospitälern, sieht das natürlich zum Teil anders aus57. Gerade in der Verwaltung der Pfarreien läßt sich ein ausgebildetes [p. 335] Urkundenwesen ausmachen, das neben Grundstücks- und Rentengeschäften vor allem Kerzen- und Meßstipendien festschrieb, und das natürlich auch Interessierten als Beurkundungsinstanz offenstand58. Zum Teil beurkunden und siegeln Pfarrer und Stadt gemeinsam59. In Höxter spielte das Vizearchidiakonat eine wichtige Rolle, vor allem für den benachbarten Adel60. Mit der Ausbildung der geistlichen Gerichtsbarkeit im Sprengel des Erzbistums Köln, die seit 1252 faßbar wird, entstand mit dem Offizialat eine neue Urkundsinstanz in Westfalen61. Eng damit verbunden war eine weitere Entwicklung. Wohl über Köln, wo seit den Siebziger Jahren des 13. Jahrhunderts öffentliche Notare nachweisbar sind, strahlte diese Institution nach Westfalen aus. Im frühen 14. Jahrhundert sind Notare in Münster ab 1312, in Lemgo seit 1319 und in Minden ab 1324 nachweisbar62. Diese öffentlichen [p. 336] Notare ließen sich als Schreiber ganz verschiedener Urkunden ausmachen. Der öffentliche Notar Johann van Thekeneborch in Minden war am dortigen Offizialat tätig und schrieb neben Notarsinstumenten einzelne Urkunden für den Edelherrn zur Lippe, einen Großteil der Urkunden des Lemgoer Stiftes Sankt Marien, für die Bürgermeister und den Rat von Neustadt wie Altstadt Lemgo, den Richter der Neustadt, den Freigrafen und verschiedene Privatpersonen, vor allem solche Urkunden, die für das Stift Sankt Marien vorgesehen waren63. Da die öffentlichen Notare Urkunden ganz unterschiedlicher Form schrieben, verwundert es nicht, daß neben dem klassischen Notariatsinstrument noch im Spätmittelalter seltsame Mischformen auftreten64. Unter der Urkundenden dürfen auch Privatpersonen ritterlichen wie bürgerlichen Standes keineswegs vergessen werden. Unter eigenem Namen und mit eigenem Siegel stellten sie im 14. Jahrhundert in eigenen Rechtsgeschäften wie solchen von Verwandten Urkunden aus65. Zur größeren Rechtssicherheit ließen sie manchmal die Stadt mitsiegeln66. In manchen Fällen finden sich die oben geschilderten Funktionen des Rates in Händen anderer Korporationen, der Burgmannengesellschaften. Ministeriale und Burgmannen spielten eine wichtige, durch das bürgerlich-liberale Grundverständnis der älteren Stadtgeschichtsforschung [p. 337] oft vernachlässigte Rolle im Stadtwerdungsprozeß. In manchen Fällen vermochten es kommunale Einrichtungen nicht, ihnen den Rang streitig zu machen. In Stromberg begegnet die Genossenschaft der Burgmänner noch im Spätmittelalter als führende Urkundsinstanz der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Auch in größeren Städten vermochten sich solche Sonderinstanzen zu halten, etwa in Werl, wo seit 1314 das sigillum bone nationis hominum in Werle nachweisbar ist67. Wie noch im 13. Jahrhundert lassen sich für kleinere Städte mit geringem Maße der Emanzipation vom Stadtherrn interessante Formen gemeinsamer Beurkundung verschiedener Instanzen nachweisen. Auf längere Sicht setzte sich die städtische Urkunde jedoch durch68. Diese Befunde weisen daraufhin, daß es — parallel zu verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen — innerhalb der Ausbildung des städtischen Urkundenwesens innerhalb einer Landschaft Phasenverschiebungen geben kann. Es gibt weiter gemeinsame Beurkundungen von Pfarrer und Stadt, doch sind diese nun auf einen bestimmten Rechtsbereich eingegrenzt : sie behandeln vor allem Seelgeräte69.
Für das 14. Jahrhundert lassen sich Bestrebungen ausmachen, bestimmte Rechtsgeschäfte exklusiv städtischen Urkundsinstanzen vorzubehalten. So regelten die Stadtrechte der paderbornischen Städte Dringenberg und Schwaney, daß die Bürger Hausstätten, Gärten und Äcker, die als Weichbildgut [p. 338] gelten, nur vor dem Stadtrichter kaufen oder verkaufen durften70. Sicher ist es sinnvoll und nützlich, die Gerichtsverhältnisse in westfälischen Städten zu untersuchen71, wenngleich man sich dabei vor allzu modernem Instanzenzugdenken hüten muß. Dieselben Handelnden konnten sich für ähnliche Geschäfte unterschiedlicher Rechtssicherungsverfahren bedienen. Kleinere Bestände über eine Reihe miteinander verbundener Rechtsgeschäfte etwa in den Stadtarchiven Kamen und Brakel zeigen die Varianz mittelalterlicher Beurkundungsmöglichkeiten. Sie lassen vermuten, daß je nach Rechtsgeschäft und dessen Relevanz, Beteiligten, deren personalen Umfeld wie dem Handlungsort ganz unterschiedliche Formen der Beurkundung gewählt werden konnten72. [p. 339] Eine umfassende Untersuchung der einzelnen Archivfonds nach Ausstellern, Empfängern, Rechtsgeschäft und Ausstellungsform wäre sicher erkenntnisträchtig und würde ein konturierteres Bild spätmittelalterlichen Urkundenwesens und der Rechtspraxis ergeben.
Der allgemeinen Verschriftlichung des Rechtswesens entsprechend werden noch im 14. Jahrhundert bestimmte Sonderformen der Bestätigung sichtbar, zumal dann, wenn es um mehrere, zusammengehörige Urkunden geht. Manchmal läßt man Urkunden in einem Transsumpt bestätigen, manchmal bekräftigt man sie durch Transfixe73. Neben der Siegelurkunde, die im überlieferten Material völlig dominiert, treten seit dem 14. Jahrhundert auch Chirographe auf, und zwar vor allem im Bereich der Zünfte und Gilden. So wurden die Streitigkeiten zwischen Rat und Gilden der Altstadt Lemgo in der Mitte des 14. Jahrhunderts im sogenannten “Kerbschnittbrief” beigelegt74. In Soest schlossen die alten und neuen Wollenweber am 5. Dezember 1495 einen Vertrag, den sie in Form eines Chirographs ausfertigten ; beide Exemplare sind erhalten75. Mitte des 15. Jahrhunderts verfügten die Soester Ämter, die sich ihre Partizipation am Stadtregiment bereits erkämpft hatten, über kein eigenes Siegel. Es heißt noch 1446 in einem Brief an den Erzbischof von Köln : … ind so wij dan geyn egen segel hebt noch gewontlich ys uns ichs sodans wes to schriven anders dan under unser stat segele heb wij gebeden dey vorg. unse burgermestere ind rait dat sey myt unser stat secret dussen [p. 340] breyff hebn don segelen76. Westfälische Zunftsiegel setzen allgemein erst im 16. Jahrhundert ein77. Insgesamt scheinen Chirographe oder Kerbzettel eher für kleinere Rechtsgeschäfte gebraucht worden zu sein, waren wohl eine mindere und billige Form der Beurkundung, übrigens oft auf Papier. Daher darf die geringe Zahl der erhaltenen Originale nicht zum Schluß verleiten, diese Form sei eher ungebräuchlich gewesen, denn die Überlieferungschance dieser Stücke dürfte nicht allzu groß gewesen sein78. Eine aus der Not geborene Form der Beglaubigung findet sich im Stadtarchiv Beckum. Dort wurde an einer von 1396 stammenden, heute siegellosen Urkunde des Beckumer Richters Ludike van Andopen über einen Verkauf im 15. Jahrhundert ein Zettel befestigt : Item Hinrick Brockman unde Johann Hundertmarck vorwarer der armen wy bekent, det dat segel de müse hebbet affgebetten ; wy haddent liggen up ene tyt up enen schape, do warent de müse dar by gekomen79.
Die wichtigste Änderung im Urkundenwesen des 14. Jahrhunderts war die Durchsetzung der mittelniederdeutschen Sprache in den städtischen Urkunden. Dabei waren es zunächst Privatpersonen, Bürger und Ministeriale, in deren Urkunden das Niederdeutsche die lateinische Sprache verdrängte, während der Weltklerus zögerlicher und später das Mittelniederdeutsche kontinuierlich [p. 341] gebrauchte. Dabei scheint sich die Bewegung von Ost nach West fortgesetzt zu haben. Hatten sich im Ostfälischen volkssprachliche Urkunden um 1350 durchgesetzt, geschah dies in der Stadt Lemgo zwischen 1350 und 1360, in Herford zwischen 1360 und 1370 und in Coesfeld nach 137080. Lateinisch dominiert blieben hingegen die Urkunden des öffentlichen Notariats81 und des Weltklerus82.
Vom 14. zum 15. Jahrhundert wächst das zu Gebote stehende Material noch einmal gewaltig an. Nur zur Verdeutlichung seien die Zahlen der mittelniederdeutschen Urkunden aus Lemgo genannt : für das 14. Jahrhundert erfaßte Wolfgang Fedders 188 Urkunden, für das 15. Jahrhundert hingegen 466 : der Urkundenfundus für das 15. Jahrhundert ist also zweieinhalb mal so groß wie für das 14. Jahrhundert83. Das umrissene Bild ändert sich jedoch kaum. Eine wichtige Ergänzung des städtischen Urkundenwesens ist das Auftauchen von Ausfertigungen auf Papier. Dabei handelt es sich oft um Stücke minderer rechtlicher Bedeutung. Oft sind sie mit aufgedrücktem Sekretsiegel beglaubigt, zum Teil als verschlossene Briefe84.
[p. 342] Zu den wichtigen Erscheinungen des 14. Jahrhunderts gehört, wie Hans Patze gezeigt hat, die Ausbildung neuer Typen von Geschäftsschriftgut85. Auch in den westfälischen Städten läßt sich diese Entwicklung ausmachen. Nach und nach entstehen Stadtbücher, in denen die Stadtrechte und Satzungen kodifiziert wurden und nach Bedarf ergänzt werden konnten86. Ich nenne hier nur Minden 1318 und 137687, Werl 132488, Soest um 135089, Herford um 137090 und Schwerte um 140091. Diese Reihe setzt sich im 15. Jahrhundert fort92. Darüberhinaus dürfte es eine Reihe von heute verlorenen oder nur noch als Kopien erhaltener Exemplare gegeben haben93. Das sogenannte “Höxterische Gedenkbuch”, angelegt um 1360, hat in weiten Teilen [p. 343] Kopiarcharakter, enthält aber auch diverse Verzeichnisse und Ordnungen94. Die Stadtbücher waren sicher das wertvollste Geschäftsschriftgut spätmittelalterlicher Städte : sowohl wegen der normativen Bedeutung der in ihnen enthaltenen Texte als auch aus symbolischen Gründen. Das Stadtbuch sollte den genossenschaftlichen Konsens verkörpern und garantieren, oder, mit zeitgenössischen Worten, Eintracht, Nutz und Friede. Zu diesem Zweck wurden die Stadtbücher regelmäßig öffentlich verlesen. So heißt es in Soest : Nu sal horen dey ghemeynheyt der borghere dat alde ghekorne unde gepruvede recht95, in Lemgo : dat unse ghemeynen borghere moghen horen wor se anne breken moghen96. Gerade bei den Stadtbüchern zeigt sich, wie wichtig die Rückbindung der Diplomatik an die städtische Verfassungsgeschichte ist. Die für das Spätmittelalter typischen innerstädtischen Konflikte mündeten zumeist in Modifikationen der städtischen Verfassung. Nach Auseinandersetzungen wurde der genossenschaftliche Konsens feierlich erneuert, die Gemeinde legte feierlich einen Eid ab, Kapellen wurden gestiftet, Standbilder errichtet, Chroniken geschrieben, und eine wichtige Rolle spielte dabei die Anlage neuer Stadtbücher97. Mit dem Aufkommen der Stadtbücher wandelt sich für Stadtrechte wie die Satzungen der Städte die Form der Mundierung. Während sie zunächst in Urkundenform ausgefertigt wurden, und zwar als Privileg oder Bestätigung des Stadtherrn oder als Eigenausfertigung, trug man sie nun überwiegend nur noch in die Stadtbücher ein98.
[p. 344] Zum Teil noch älter als die Stadtbücher sind Aufzeichnungen speziellerer Art. Die Reihe der westfälischen Bürgerbücher eröffnet das Dortmunder Bürgerbuch ab 1295, eines der frühesten Exemplaren seiner Art in Deutschland. Wenige Jahre später, 1302, beginnt das Soester Bürgerbuch99. Um den Rechtsstatus eines Bürgers zu erlangen, mußten die Kandidaten den Bürgereid leisten und ein Bürgergeld zahlen sowie Bürgen stellen. Jährlich wurden die Namen der Neubürger unter Angabe ihrer Herkunft, des fälligen Bürgergeldes und ihrer Bürgen in den Codex eingetragen. Das erste Soester Bürgerbuch blieb bis ins Jahr 1449 in kontinuierlichem Gebrauch. Ähnliche Aufzeichnungen aus dem 14. bis 16. Jahrhundert gibt es etwa aus Telgte. Spätere Stadtund Bürgerbücher scheinen überdies heute verlorene mittelalterliche Neubürgerlisten kopiert zu haben100. Dennoch bereitet die Etikettierung als Bürgerbuch gewisse Schwierigkeiten. Wie eine Reihe sachfremder Einträge zeigt, wurde das Soester Bürgerbuch ursprünglich nicht als solches Spezialbuch angelegt, sondern hatte ein größeres Spektrum. Dieser Befund begegnet immer wieder. Schon das Dortmunder Bürgerbuch enthielt zeitgleiche Einträge über Aufnahmen von Wachszinsigen, Finanzaufzeichnungen, Rechnungsabschriften, Notizen über Bürgschaftsleistungen, Urkundenabschriften, und sogar Notizen über die Aufbewahrung der Blidensteine101. Das verschollene münstersche Bürgerbuch begann 1350 und ist nur teilweise zu rekonstruieren. Neben Neubürgern verzeichnete der Codex systematisch Ratswahlen, Bürgermeister und Ratsämter, darüberhinaus auch Briefe in Erbschaftssachen [p. 345] sowie weitere Nachrichten102. Im 1350 begonnenen Coesfelder Bürgerbuch, das bis 1411 geführt und dann durch ein 1412 neuangelegtes zweites Bürgerbuch ersetzt wurde, finden sich verschiedene Verzeichnisse von Einkünften, Stadthöfen und Gefangenen, Rechtsaufzeichnungen, Verordnungen und Beschlüsse von Rat und Schöffen, Urkundenabschriften, Aktvermerke. Diese Stücke hat man in späterer Zeit einfach aus dem Bürgerbuch herausgeschnitten und separiert103. Ähnlich liegt der Fall im 1455 angelegten Beckumer Bürgerbuch, im um die Mitte des 15. Jahrhundert zu datierenden Rats- und Bürgerbuch von Brakel oder im Wiedenbrücker Stadtbuch von 1480104. Das Haltener Bürgerbuch beginnt 1490105. Stadt- wie Bürgerbücher waren bis weit ins 15. Jahrhundert hinein also eine relativ unscharf umrissene Kategorie von Geschäftsschriftgut. Erst im Zuge dieses Jahrhunderts trennte man die Bücher systematischer. So sind in Soest seit 1417 neben dem aus dem 14. Jahrhundert stammenden Stadtbuch und dem erst Mitte des 15. Jahrhunderts durch ein neues Exemplar ersetzten Bürgerbuch ein Ratsprotokollbuch und ein Ratswahlbuch im Gebrauch, und beide zeigen ein klarer umrissenes Spektrum von Einträgen. Vor allem die Ratsprotokollbücher, [p. 346] die speziell die Entscheidungen des Rates verzeichnen, lassen sich neben Soest 1417106 auch in Werl 1460107 nachweisen. Ein Ratswahlbuch wird ab 1497 in Brilon geführt, es enthält einen Hinweis auf seinen Vorgänger108.
Eine weitere, sehr früh auftretende Kategorie mittelalterlicher Stadtbücher bilden die Achtbücher. Hier wird für Westfalen vor allem das um 1315 angelegte Soester Nequambuch genannt. Dabei war das Nequambuch ausweislich seiner Ausstattung mit Miniaturen und älterer Einträge viel allgemeiner gehalten. Zunächst sollten verschiedenste Dinge sachlich getrennt verzeichnet werden, und dies tat man auch. Doch statt des weiten Spektrums vorgesehener Einträge verengte sich die Praxis bald auf ganz bestimmte Dinge, und der Codex wurde wirklich zu einem Acht- und Urfehdebuch. Von daher trifft die mittelalterliche Bezeichnung der stades buych zunächst durchaus zu109.
Stadtrechnungen sind in Dortmund als Abschrift im Bürgerbuch für 1320, als Wachstafeln aus der Zeit um 1320/21110, für Soest als Rotuli von 1338, 1357 und 1363, dazu noch Fragmente der fünfziger oder sechziger Jahre111, und für Minden 1360 und 1365112 überliefert113. Weitere Rechnungen [p. 347] gibt es aus dem 15. Jahrhundert : Bocholt ab 1407114, Borken 1486, Breckerfeld 1449/50115, Brilon ab 1483116, Minden ab 1403117, Münster 1447, 1448, 1458118, Rüthen ab 1426119, Siegen ab 1455120, Telgte ab 1479121, Werl ab 1472122. Neben die Stadtrechnungen traten andere Finanz-aufzeichnungen, etwa Register bestimmter Einnahmen, die zu deren Sicherung, Erhebung oder zu Abrechnungszwecken erstellt wurden. Aus der kaum zu übersehenden Vielzahl seien etwa das Heberegister der Abgaben für die Besoldung der städtischen Wachtmannschaft aus dem 14. Jahrhundert und die jetzt verschollene städtische Steuerliste von 1403 aus Brakel123, das 1430 angelegte Verzeichnis der Soester Leibzuchten124, das Schoßregister [p. 348] 1486/1517 aus Höxter125, die Telgter Einnahmeregister des Wortstättengeldes 1448/54 und die Schatzungsregister 1431, 1432 und 1433126 hervorgehoben.
Den vielfältigen Einträgen in die Amtsbücher entsprechen Einzelaufzeichnungen aus der städtischen Verwaltung, die zu ganz unterschiedlichen Zwecken angefertigt wurden. Natürlich ist ihre Erhaltungschance äußerst gering. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurden solche Notizen für den ad-hoc-Gebrauch häufiger auf Wachstafeln geführt. Kronzeuge dafür ist das sogenannte Holzbuch der Stadt Dortmund, neun Tafeln, die Stadtrechnungen, Verzeichnisse der zu stellenden Bürgerpferde, Bürgschaftsleistungen und Schuldenverzeichnisse enthielten127. Daneben sind auch Dossiers auf Pergament oder Papier erhalten, zu verweisen ist etwa auf die Faszikel über die Verpflichtung Dortmunder Bürger zum Unterhalt von Pferde und Pferdeknechten. Hier hat eine Abschrift der entsprechenden Bestimmungen samt genauer Aufstellung der pflichtigen Bürger 1361-1364 die Zeit überdauert128.
Für einige westfälische Städte, Coesfeld, Lemgo, und Herford, gibt es paläographische Untersuchungen zu den Schreibern der städtischen Urkunden im 14. Jahrhundert. Dabei zeichnet sich ab, daß das Bild von Berufs- und Gelegenheitsschreibern dominiert wird, die zwar schwerpunktmäßig für einzelne Aussteller tätig waren, aber keineswegs exklusiv für diese tätig wurden. So stammt etwa der Verfasser des Herforder Rechtsbuches und Mundator vieler städtischer Urkunden, der Kleriker Siffridus Hanteloye, aus dem Umfeld der Stadtherrin, der Äbtissin von Herford, und war öffentlicher Notar129. Auf seinem Abbild im städtischen Rechtsbuch findet sich das S, sein Notariatssignet130. Diese Befunde kann ich durch eigene Untersuchungen ergänzen. Es zeigte sich in Soest, das die Schreiber des Bürgerbuchs gleichzeitig die Rechnungen führten, und ich konnte nachweisen, daß sie von [p. 349] 1318 bis 1414 kontinuierlich in gleicher Weise gefertigt wurden. Dabei dürfte es sich, wie die Nennungen im Bürgerbuch zeigen, nicht um Berufsschreiber, sondern die Kämmererschreiber, später selbst Ratsherren, gehandelt haben, die zur Teil in schauerlichem Latein die Rechnungen abfaßten und mundierten131. Der Vergleich mit Bruchstücken kaufmännischer Buchhaltung von 1380-1390 und 1384 aus westfälischen Städten zeigt, daß solche Rechnungen durchaus von einfachen Kaufleuten geführt werden konnten132.
All diese Beobachtungen, die Verknüpfung von Stadtbuchentstehung und Verfassungsumbrüchen, der Wandel von Soester Bürgerbuch und Nequambuch, widersprechen älteren Vorstellungen von der Ausbildung städtischer Schriftlichkeit. Eine organische Entwicklung vom allgemeinen Stadtbuch zur Sachakte hat es wohl nicht gegeben, denn sie setzt ein Eigengewicht bürokratischer Natur und die daraus folgende Beharrungskraft bürokratischer Tradition voraus. Die spätmittelalterlichen Geschäftsbücher Westfalens zeigen ganz anderes : Konzeptänderungen, Konzeptbrüche, und alles auf recht niedrigem Niveau. Vielmehr reagierte man auf Situationen : bei Änderungen in der städtischen Verfassung legte man neue Stadtbücher an, in Finanzkrisen entstanden Rentverzeichnisse.
Der wichtigste Unterschied zum 14. Jahrhundert läßt sich in der Organisation des städtischen Schriftwesens ausmachen. Anders als die stadt- und archivgeschichtliche Literatur oft glauben macht133, finden sich explizite Stadtschreibernennungen im 14. Jahrhundert nur vereinzelt. Offenbar sind die großen westfälischen Bischofsstädte hier Schrittmacher gewesen. Die in Akten des 17. Jahrhunderts greifbaren Einträge im ältesten Bürgerbuch der Stadt [p. 350] Münster weisen seit 1350 eine Reihe besonders bestellter Stadtschreiber aus134. 1361 wurde in Minden für eine idonea persona in scribendo et dictandi trita eine Vikarie an der Kapelle Sankt Marien und Jakobi an der Weserbrücke gestiftet. Da sich zudem um 1360 die Schreiberbelege häufen und die Beschreibung von Stift und Stadt Minden 1460 vermerkt, et ille scriptor habet capellam super pontem, videlicet altare sancti Jacobi apostoli135, geht die neuere Forschung davon aus, daß hier sichere Belege für Existenz und Versorgung des Mindener Stadtschreibers vorliegen136. Eindeutig [p. 351] sind erst Zeugnisse vom Ende des 14. Jahrhunderts. 1394 übernahm Hermann Hazard, Geistlicher an einer Kapelle auf der Weserbrücke, das officium scriptorie civitatis Mindensis137. Im 15. Jahrhundert gab es in Minden dann einen scriptor maior civitatis und einen scriptor minor civitatis138. Auf breiter Front lassen sich im 15. Jahrhundert sich nun eigens als solche bezeugte Stadtschreiber nachweisen139. Ich nenne nur : 1412 Coesfeld140, 1417 Soest141, 1427 Herford142, 1449 Lemgo143, 1460 Werl, Kamen 1478, vielleicht schon 1463-1464144. Gerade in kleineren Städten erscheinen sie erst im 16. Jahrhundert145. Die Stadtschreiber, lateinisch auch als secretarius oder sindicus genannt, wurden beim Antritt ihrer Amtstätigkeit vereidigt und erhielten Bestallungsurkunden146. Sie unterlagen strikten Schweige- und Geheimhaltungsgeboten. [p. 352] Die Bestallungsurkunde des neuen Stadtschreibers Wilhelmus in Werl bestimmte 1475, er solle alle Schriftstücke, die den Rat und die Stadt betreffen, schreiben, die Stadtbücher führen und die Stadtrechnungen erstellen. Neben seiner Tätigkeit als Stadtschreiber soll Wilhelm an der Pfarrkirche die Orgel spielen, wofür er von den Kirchherren extra besoldet wurde147. Gegenüber dem 14. Jahrhundert sind klare Unterschiede auszumachen. So begegnen in den Soester Stadtrechnungen des 14. Jahrhunderts unregelmäßige Zahlungen in unterschiedlicher Höhe an einzelne Schreiber148. Die Stadtschreiber des 15. Jahrhunderts dagegen wurden regelmäßig besoldet und eingekleidet. Sie begegnen auf der höheren politischen Ebene, wurden als Gesandte des Rates auf diplomatische Missionen, zu Verhandlungen und Prozessen geschickt149. Neben ihrer Tätigkeit im Urkundenwesen hatten sie weitere Funktionen, wie sie für frühneuzeitliche Stadtsyndici typisch sind. So verfaßte der Soester Stadtschreiber Bartholomäus von der Lake Dossiers in Rechtsfragen, Prozeßschriften und die berühmte Chronik der Soester Fehde aus städtischer Sicht. Als Bevollmächtigter der Stadt agierte er vor dem Grafen von Kleve und vor dem kaiserlichen Kammergericht150. Damit entsprechen die westfälischen Stadtschreiber den unter anderem von Volker Honemann und Peter Johanek gezeichneten allgemeinen Bild151.
Doch selbst diese Stadtschreiber waren nicht nur für die Stadt tätig. So wurde der Schreiber des höxterschen Schoßregisters, der dieses Werk von 1482 bis 1517, also 36 Jahre lang führte, als Vizearchidiakon in Höxter identifiziert und fungierte als kaiserlicher Notar152. Die westfälischen Stadtschreiber des 15. Jahrhunderts waren Kleriker, oft öffentliche Notare mit zumindest [p. 353] rudimentärer Universitätsbildung153. Die Höhe ihrer Einkünfte läßt bereits darauf schließen, daß das Stadtschreiberamt nur eine ihrer Geldeinkünfte war und die Stadtobrigkeit damit rechnete, daß sich ihre Schreiber noch anderweitig ihre Brötchen verdienten. Sie wurden mit geistlichen Pfründen versorgt, oft unter Mitwirkung der Stadt154, und lehrten gleichzeitig als Schulmeister an der städtischen Lateinschule, wie es für Soest, Coesfeld und Lemgo nachgewiesen ist155. Nicht selten wechselten sie ihre Dienstherren. So war der seit 1441 nachgewiesene Soester Stadtschreiber Bartholomäus von der Lake seit 1432 notarius communis des Arnsberger Offizialats156.
Die Etablierung des Stadtschreiberamtes, dem die kontinuierliche Führung bestimmter Stadtbücher auferlegt war, bedeutete einen wichtigen Schritt der Professionalisierung. Der personalen Verfestigung mit der Herausbildung des Stadtschreiberamtes folgte die lokale auf dem Fuße : so sind für viele Städte für das 15. Jahrhundert besondere Schreibstuben oder — kammern belegt157. Professionalisierung bedeutete jedoch nicht Bürokratisierung. Kennzeichnend für das im 15. Jahrhundert erreichte Organisationsniveau war, daß der neue Stadtschreiber nicht eine ausgebildete Schriftgutorganisation und -tradition übernahm und weiterführte, sondern eigene Schwerpunkte setzte. Die enge Verknüpfung des Amtes mit der Person ihres Amtsträgers schlug sich deutlich in der Schriftproduktion nieder. Jeder Amtswechsel bedeutete einen Konzeptwechsel bei der Führung der Stadtbücher. Der Coesfelder Schreiber Hermann von Hagen begann, die städtischen Urkunden zu registrieren, begann ein neues Bürgerbuch, fertigte ein Kopiar der ältesten und wichtigsten Urkunden der Stadt an und übersetzte sie in die Volkssprache158. Mit dem Amtsantritt des Peter Emmerich in Soest 1417 beginnen die [p. 354] Ratsprotokolle und das Ratswahlbuch. Die Überlieferung der Soester Missivenbücher beginnt mit dem des Jasper van der Borg 1500159.
Im Bereich der Kommunikation mit Landesherren, anderen Städten und der Hanse hatte sich, wie im 15. und frühen 16. Jahrhundert deutlich erkennbar wird, ein ganzes System unterschiedlicher Kommunikationsmittel, vor allem in Briefform und auf Papier, entwickelt : Ladungsschreiben, Zirkulare, Vollmachten und Berichte. Vor allem Prozeßakten, die aus Klageschriften, Repliken und Schiedssprüchen bestehen konnten, liegen als meterlange Papierrotuli vor und wurden zum Teil durch aufgedrückte Siegel von Beteiligten und Schiedsmännern beglaubigt160. Der inneren Verfestigung des städtischen [p. 355] Schriftwesens dürfte es zu verdanken sein, daß nun auch Konzepte, Entwürfe und Verwaltungsnotizen auf Einzelblättern erhalten sind161.
Auf einen letzten Aspekt öffentlicher städtischer Schriftlichkeit, der bisher kaum untersucht wurde, sei noch hingewiesen. Im spätmittelalterlichen Soest kannte man ein “schwarzes Brett” für öffentliche Verkündigungen : Item op sunte Laurencius dage des morgens anno etc. 92 wort dusse vorgen. overkumpst des eirberen raidz opgesclagen an dat raithuyß162. 1487 wurde ein freier Marktttag am Mittwoch eingerichtet. Im Protokollbuch findet sich neben dem entsprechenden Eintrag ein Zettel mit dem Entscheid in feierlicher, sorgfältiger Schrift mit kleinen Verzierungen. Vermutlich war der Zettel für den Aushang gedacht163. In der Münsteraner Stadtrechnung 1448-1449 heißt es : Item to scryven ende to negelen dee ordinancien van den beire 2 s. Item dee ordinancien van der wage 2 1/2 s164.
Am Ende dieses Überblicks sollen noch kurz einige Punkte hervorhoben werden, die über das westfälische Beispiel hinaus Bedeutung haben. Ein Bürokratisierungsmodell ist bei der Analyse spätmittelalterlicher Verhältnisse nicht weiterführend. Wir müssen uns von den im 19. Jahrhundert entwickelten Denkmodellen lösen und zu adäquaten historischen Beschreibungsformen kommen, um die Hinterlassenschaften des 14. und 15. Jahrhunderts zu deuten165. Es bedürfte eines umfassenden, diplomatisch-verwaltungs- und verfassungsgeschichtlichen Ansatzes auf landschaftlich vergleichender Basis, um mit Hilfe verschiedener Methoden, etwa von Schriftvergleich und Prosopographie, ohne Rückbindung an überholte Paradigmen zu einer adäquaten Wertung zu kommen. So kann ich keine eigentliche städtische Kanzlei im spätmittelalterlichen Westfalen ausmachen, sondern sehe verschiedene Schreiber in unterschiedlichen Dienstverhältnissen und Funktionen am Werke, deren Produktion wenig von institutionellen Traditionen beeinflußt ist166. Die für das [p. 356] Früh- und Hochmittelalter entwickelten Methoden der Diplomatik, Schreiberund Diktatvergleich, bieten auch im Spätmittelalter noch wichtige Zugangsmöglichkeiten, doch tritt ihr Nutzen stärker in der Analyse des Geschäftsschriftgutes zutage als bei den Urkunden167. Die von der frühen Neuzeit her blickende Aktenkunde bietet keine geeigneten Instrumente zur Analyse dieser Epoche. Gerade für das spätmittelalterliche Geschäftsschriftgut muß und kann die Diplomatik noch vieles erarbeiten, und zwar in enger Führung mit Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Für der Materialflut des Spätmittelalters braucht die Diplomatik nicht verzweifeln, sie muß nur adäquate Zugangsweisen nutzen und damit die in der Masse des Verfügbaren liegenden Chancen wahrnehmen.