[p. 535] Die Anfänge des städtischen Urkundenwesens in Sachsen
Die Erforschung des städtischen Urkundenwesens in Sachsen kann im Grundsatz von einer relativ guten Editionslage für die Urkundenüberlieferung der sächsischen Städte ausgehen1, jedoch fehlt es fast völlig an diplomatischen Arbeiten über die seit langen ediert zugänglichen Urkunden. Der folgende Beitrag will diese Lücke überblicksweise schließen, kann freilich angesichts der Vielzahl möglicher Fragestellungen im Grenzbereich zwischen Diplomatik und allgemeiner Geschichtswissenschaft das Thema bei weitem nicht ausschöpfen2. Er richtet sich in seiner Einteilung nach den Leitfragen, die den Teilnehmers des Kongresses durch die veranstaltende C.I.D. vorgegeben wurden.
Dem Überblick liegt die urkundliche Überlieferung der pleißenländischen bzw. sächsischen Städte Altenburg, Chemnitz, Dresden, Freiberg, Grimma, Leipzig, Meißen, Pirna und Zwickau zu Grunde. Erfaßt wurden Urkunden und Briefe, die von den jeweiligen Städten bzw. von städtischen Funktionsträgern augestellt wurden, nicht aber bloße Einträge in Stadtbüchern. Die Überlieferung umfaßt insgesamt 161 Stücke des 13. und 14. Jahrhunderts, [p. 536] deren ältestes eine Altenburger Urkunde des Jahres 1268 ist. 22 Stücke (= 14 %) entstammen noch dem 13. Jahrhundert, 57 (= 35 %) der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, 82 (= 51 %) den Jahren 1351-1400.
Abgesehen von Altenburg, Chemnitz und Zwickau gehören die übrigen Städte schon seit dem frühen 13. Jahrhundert als landesherrliche Städte unmittelbar in den wettinischen Herrschaftsbereich. Sie weisen zwar unterschiedliche Größe und Bedeutung auf, sind sich jedoch in ihrer Rechtsstellung im wesentlichen ähnlich, wenn nicht gleich3. Lediglich die drei genannten Städte unterscheiden sich von den übrigen deutlich : Es handelt um Städte des Reichsterritoriums Pleißenland, das zwar schon seit der Mitte des 13. Jahrhunderts unter wettinischen Einfluß und nach 1307 endgültig unter wettinische Oberhoheit kommt, dessen Städte jedoch vorher noch als Reichsstädte gelten und behandelt werden4. Sie treten dadurch in direkten Kontakt zum Königtum, eine Tatsache, die sich auch in den Urkunden bemerkbar macht und beachtet werden muß.
1. Das Auftreten der ersten Siegelurkunden sächsischer Städte
Die frühesten überlieferten Siegelurkunden liegen zeitlich auffallend dicht zusammen : Altenburg 1268, Leipzig 1287, Chemnitz und Zwickau jeweils 1290-1291, Grimma 1292, Freiberg 1298, Pirna 1299, Dresden 1308 und Meißen 13165.
[p. 537] Diese ersten überlieferten Stücke stehen in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Ausbau der Ratsverfassung in den Städten. Das wird deutlich, wenn man die Stationen der Stadtwerdung und insbesondere die frühesten Nachweise von Räten zusammenstellt : Leipzig erhielt zwischen 1156 und 1170 magdeburgisches Recht verliehen, verfügte 1215-1216 offensichtlich bereits über eine gewisse Form von Organisation seiner Bürgerschaft, jedoch wird erst 1270 ein Rat erwähnt6. In Grimma wird die Ratsverfassung offensichtlich zwischen 1267 und 1292 eingeführt7, in Pirna ist erstmals 1292 ein Bürgermeister nachweisbar, 1299 dann der gesamte Rat8. In die gleiche Zeit führt der erste Beleg eines Dresdner Rater (1292)9, während die bereits genannte Meißener Urkunde von 1316 gleichzeitig den überhaupt ersten Nachweis von Bürgermeister und Rat darstellt.
Auffallend anders waren die Verhältnisse in der Bergstadt Freiberg sowie in den pleißenländischen Reichsstädten Altenburg, Chemnitz und Zwickau. Freiberg dürfte auf eine Gründung des Jahres 1175 zurückgehen, wird urkundlich erstmals 1221 genannt und verfügte bereits 1227 über einen Rat (hii, qui XXIIIIor dicuntur de civitate), der gleichzeitig das früheste Siegel einer sächsischen Stadt überhaupt führte (sigillum burgensium) und dessen Angehörige 1241 erstmals als consules bezeichnet werden10. Bis zur ersten Ausstellung einer städtischen Siegelurkunde 1298 ist in Freiberg also annähernd ein Dreivierteljahrhundert vergangen11.
Wiederum anders verhielt es sich im Pleißenland : Die Schwäche des Königtums seit dem Ende der Staufer ließ für Jahrzehnte ein Machtvakuum entstehen, in das im Falle Altenburgs die Wettiner hineinzustoßen vermochten. Mit der Stadtrechtsverleihung durch Heinrich den Erlauchten im Jahre 1256 wurde Altenburg zeitweise wettinisch und erhielt gleichzeitig einen Rat12. Erst die Versuche Rudolfs von Habsburg, die Reichspräsenz im Pleißenland wieder zu verstärken, näherten dann die Entwicklung Altenburgs an diejenige von Chemnitz und Zwickau wieder an : 1290-1291 schlossen die [p. 538] universi cives in Aldenburch universique in Kemnitz ac in Zvicov auf Anordnung König Rudolfs von Habsburg ein gegenseitiges Bündnis. Es enthielt unter anderem eine Proskriptionsklausel, derzufolge ein Rechtsverletzer aus seiner Stadt gewiesen werden sollte, quousque ab eiusdem loci iudice et consulibus revocetur13. Dies stellt für Chemnitz und Zwickau die erste Nennung eines Stadtrates überhaupt dar14.
Als Zwischenergebnis kann festgestellt werden, daß die erste Ausstellung städtischer Siegelurkunden im allgemeinen nicht lange nach der Ersterwähnung eines Stadtrates stattfindet, wenn nicht die erste Siegelurkunde überhaupt mit dem ersten Nachweis eines Rates identisch ist.
Der einzige signifikante Ausnahmefall ist Freiberg, dessen Rat wesentlich früher nachweisbar ist als die älteste, von ihm ausgestellte Urkunde. Das mag mit der Tatsache zusammenhängen, daß erst 1294 wesentliche Rechte städtischer Autonomie an Freiberg verliehen wurden und das Stadtrecht dann seit 1296 kodifiziert worden ist15. Stadtbrände des Jahre 1375 und 1386 könnten überdies zu Überlieferungsverlusten geführt haben16.
2. Die Inhalte der frühen Stadturkunden
Wesentliche Teile der frühen städtischen Überlieferung, sei es urkundlicher Art, sei es in Form von Stadtbucheinträgen, gelten im allgemeinen der Regelung innerstädtischer Verhältnisse durch Urkunden für andere Institutionen im Stadtbereich oder durch Beurkundungen im Interesse der eigenen Bürger im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Hinzu treten Zwecke der Kommunikation nach außen, also insbesondere in Sachen des Stadtherrn, aber auch im Schriftverkehr mit anderen Städten.
Im wettinisch-sächsischen Bereich bilden die Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die interne und die externe Kommunikation im 13. und 14. Jahrhundert drei im wesentlichen gleich starke Überlieferungsblöcke, während städtische Satzungen in diesem Gebiet nur in verschwindend geringer Anzahl in Form von Siegelurkunden niedergelegt worden sind.
Differenziert man diese Verteilung in zeitlicher Hinsicht, dann fällt auf, daß die externe Kommunikation im Laufe des 13. Jahrhunderts noch deutlich das Schwergewicht der Überlieferung bildet, während im Laufe des [p. 539] 14. Jahrhunderts die Urkunden eher internen Angelegenheiten und Fällen der freiwilligen Gerichtbarkeit gewidmet sind. Dieser Befund kann darauf zurückgeführt werden, daß sich im wettinisch-sächsischen Bereich erst im Laufe des 14. Jahrhunderts endgültig bürgerliche Strukturen in den Städten ausbilden : Der Grundbesitz in den Händen einzelner Bürger und die Vergabungen von Grundbesitz innerhalb der Familien oder durch Schenkungen an geistliche Institutionen innerhalb der Stadt gewinnen erst in dieser Zeit an Bedeutung für die Entstehung von Urkunden.
Die externe Kommunikation tritt dagegen an Bedeutung durchaus zurück. Sie betrifft im wesentlichen zwei Bereiche : zum einen die Kontakte zu den Stadtherren, zumeist also zu den Wettinern, zum anderen die Verbindungen mit benachbarten Städten im Rahmen von Bündnissen oder zur Regelung von Einzelfällen und -problemen der Rechtsbeziehungen zwischen ihnen.
Diese Kommunikation nach außen, die beispielsweise die Stadt Dresden im Laufe des 14. Jahrhunderts durch Siegelurkunden betreibt, besteht aus einer Eventualhuldigung gegenüber dem meißnischen Markgrafen Friedrich im Jahre 1309, der Regelung einer Zinszahlung an den Bischof Johann von Merseburg im Jahre 1379, einer Huldigung gegenüber der Markgräfin Elisabeth sowie einer Eventualhuldigung gegenüber dem Markgrafen Balthasar, beide von 1387, und schließlich einer Regelung in Sachen der Elbschiffahrt mit der benachbarten Stadt Pirna sowie den Landesherren 139217. Dieses Bild entspricht im wesentlichen der externen Kommunikation auch in anderen Städten ; freilich tritt dort gelegentlich auch noch die Beurkundung für auswärtige geistliche Einrichtungen hinzu, wie man das etwa bei Grimmaer Beurkundungen zugunsten des Klosters Altzelle beobachten kann18.
Die wenigen Fälle von Satzungen in Form von Siegelurkunden zeigen deutlich, daß solcherlei Normierungen üblicherweise in Städtbuchern festgelegt worden sein dürften. Satzungen in Urkundenform sind überhaupt nur aus Chemnitz, Dresden, Freiberg und Pirna überliefert. Die Satzungen regeln im einerseits Fragen des öffentlichen Rechtes : das Gerichtsverfahren bei Fällen von Tötung, Verwundung oder Bedrohung von Ratsherren (Freiberg 1305), Geschoß-, Feuer- und Bauordnung (Chemnitz 1352), Geschoßzahlungen sowie Erbrecht von Ehefrauen am Nachlaß des Mannes (Chemnitz 1367), Sondervermögen von Frau und Mann in der Ehe (“Gerade und Heergewäte”, Pirna 1389). Andererseits betreffen sie Angelegenheiten von Handel und Handwerk : Handel mit Wein und Bier sowie Aufgaben der Büttner und [p. 540] Becherer (Dresden 1308), Rechte von Bergbaugewerken (Freiberg 1368), Innungsartikel für Kürschner und Weißgerber (Freiberg 1390)19.
3. Der Wettbewerb städtischer Kanzleien mit anderen Beurkundungsstellen
Über den Vorgang des Entstehens städtischer Kanzleien im sächsischen Raum herrscht völlige Unkenntnis. Untersuchungen zur Schrift- und Diktatherkunft städtischer Urkunden des ausgehenden 13. und 14. Jahrhundert gibt es bisher nur für Altenburg. Hier stammen Schrift und Diktat der meisten, im Original überlieferten Stadturkunden bis weit in das 14. Jahrhundert hinein entweder von Schreibern des ortsansässigen Benediktinerklosters (“Bergerkloster”) oder aus der Altenburger Deutschordenskomturei20. Einen eindeutigen Hinweis auf das Vorhandensein einer städtischen Beurkundungsstelle gibt erst die Nennung eines Altenburger Stadtschreibers im Jahre 136321.
Für einige frühe Urkunden sächsischer Städte liegen Schriftzuweisungen durch Otto Posse vor, die freilich im einzelnen nicht begründet werden und teils auch nicht nachvollziehbar sind. So weist er die erste Leipziger Urkunde von 1287 einer Hand des dortigen Nonnenklosters St. Georgen zu22, zwei spätere Stücke von 1293 und 1294 dem Augustinerchorherrenstift St. Thomas23. Diese Zuweisungen zu überprüfen, setzt Untersuchungen klösterlicher Skriptorien voraus, wie sie bisher für diese Region und diese Zeit nicht vorliegen. Die folgenden Überlegungen zur Konkurrenz städtischer Beurkundungsstellen mit sonstigen Kanzleien stehen deswegen unter dem generellen Vorbehalt weiterer, größerflächig ansetzender Untersuchungen.
Im Falle Leipzigs kann man dabei aus der Analyse der inneren Merkmale der Urkunden und der Umstände ihres Entstehens gewisse Plausibilitäten ableiten : Die früheste Urkunde von 1287, ausgestellt zugunsten des Georgennonnenklosters24, entzieht sich einer Bestimmung von Diktat und [p. 541] Schrift weitgehend. Auch gemessen an den nächstfolgenden Siegelurkunden des Rates, die freilich im Gegensatz dazu in Buchschrift gehalten sind, steht sie vereinzelt da. Es mag diese Tatsache sein, die Posse zur Schriftzuweisung an das empfangende Kloster veranlaßte, jedoch ist über die Existenz eines eventuellen Skriptoriums im Kloster und seine Produkte nichts bekannt25.
Die folgenden Leipziger Ratsurkunden bis in die ersten Jahre des 14. Jahrhunderts hinein entstammen ausnahmslos Überlieferungen im Zusammenhang mit dem Leipziger Stift St. Thomas26. Das ließ frühzeitig den Gedanken daran aufkommen, man habe es hier mit Empfängerausfertigungen zu tun27, die in ihrer Summierung dann die Feststellung erlaubten, St. Thomas habe in der Frühzeit der Beurkundungstätigkeit in Leipzig gewissermaßen die Funktionen einer städtischen Kanzlei wahrgenommen.
In der Tat läßt sich für Einzelstücke unter den frühen Leipziger Urkunden die Diktat- und Handgleichkeit mit gleichzeitigen Stücken aus St. Thomas erweisen. Ein Beispiel soll dies belegen : 1293 September 1 macht Landgraf Dietrich der Jüngere von Thüringen dem Thomasstift eine Schenkung28. Diese Schenkung wird elf Tage später, am 12. September, wörtlich in eine Ratsurkunde inseriert, deren einziger Zweck die zusätzliche Beglaubigung der landgräflichen Schenkung durch Schultheiß, Bürgermeister und Rat Leipzigs sowie 17 weitere Zeugen gewesen zu sein scheint29. Beide Urkunden sind äußerlich absolut identisch im Aussehen : Von gleicher Hand vorgerichtet, mit doppelten Blindlinien links und rechts am Zeilenende versehen, sind sie beide mit einer völlig identischen Buchschrift geschrieben. Dies führt auf die einzig mögliche Erklärung, daß hier eine Landgrafenurkunde und eine Ratsurkunde Leipzigs, beide für denselben Empfänger, von einer Hand geschrieben worden sind, die man mit größter Wahrscheinlichkeit im empfangenden Stift St. Thomas suchen darf30.
[p. 542] Argumente für die Ausfertigung von Leipziger Ratsurkunden im Stift St. Thomas liegen auch für andere Stücke vor : so wird 1301 einer Ratsurkunde die ungewöhnliche Corroboratio Et quia hoc a nostris successoribus sicut a nobis inviolabiliter volumus observari, praesentem litteram super eo conscriptam dominis de sancto Thoma dedimus sigilli nostri munimine communitam angefügt31, die in dieser Form sicherlich auf Einfluß des Empfängers zurückgeht. 1315 wird eine Ratsurkunde auf einen Festtag des Apostels Thomas, des Stiftpatrons, datiert, obwohl der Merseburger Festkalender für diesen Tag ein Marienfest vorgesehen hätte32.
Freilich gibt es aus diesen frühen Jahren des Leipziger Urkundenwesens auch andere Stücke : 1301 wird eine Entscheidung über Besitzrechte an einer Hufe herbeigeführt, die dem Stift St. Thomas geschenkt worden war. Als erster Zeuge dieser Beurkundung firmiert Johannes von Burchardshain, Notar des Landgrafen Dietrich des Jüngeren von Thüringen, der auch als Schreiber dieses Stückes zu vermuten ist. Die Urkunde wird am Ende, obwohl nicht eigentlich eine Ratsurkunde, mit dem sigillum civitatis Lipzk als einzigem Beglaubigungsmittel gesiegelt33.
Dennoch würde es zu weit gehen, St. Thomas gewissermaßen für den Vorläufer der späteren Leipziger Ratskanzlei zu halten. Das Stift verfolgte in vielerlei Beziehung eher der Stadt entgegengesetzte Interessen und stand eher auf Seiten des Landesherrn als auf Seiten der Stadt selber. Freilich ist hier über Plausibilitäten einstweilen nicht hinauszukommen.
Nicht viel anders sieht es mit dem Verhältnis städtischer Beurkundungen zu anderen Kanzleien anderenorts aus : Im Falle Grimmas ist eine erhebliche Nähe der frühen Stadturkunden zu denen des Zisterzienserklosters Altzelle auszumachen34. Überhaupt dürfte Altzelle als eines der Zentren der Urkundenproduktion im meißnisch-sächsischen Bereich erheblich ausgestrahlt haben. Nicht nur in Grimma lassen sich Spuren von Altzeller Schrift und Diktat finden, sondern allem Anschein nach auch in Freiberg : 1300 beurkunden Bürgermeister und Geschworene Freibergs eine Schenkung eines ihrer Bürger an das Kloster Altzelle in einer so ungewöhnlichen Form, daß auch hier an eine Empfängerausfertigung zu denken ist35. Das Stück ist in Buchschrift gehalten, die Zeilen sind in schwarz vorgezeichnet worden. Die Urkunde weist überdies ein auffallend elaboriertes Latein auf, das in dieser [p. 543] Form in Freiberg sonst keine Parallelen hat, dafür aber deutliche Hinweise auf geistliches Diktat verrät36.
Von einer “Konkurrenz”, einem “Wettbewerb” zwischen verschiedenen Beurkundungsstellen kann in Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts hinsichtlich der wettinisch-sächsischen Städte kaum die Rede sein. Auch wenn das insgesamt verschwommene Bild nur hier und da aufgehellt werden kann, wird man doch wohl eher sagen können, daß im allgemeinen geistliche Institutionen Rolle und Funktion städtischer Kanzleien ausgefüllt haben. Der Anteil der nachweisbaren Empfängerausfertigungen ist in der Frühzeit des städtischen Urkundenwesens in diesem Raum so auffallend hoch, daß eine funktionierende eigene Beurkundungsstelle von hinreichender Dauerhaftigkeit kaum bestanden haben wird. Dies gilt ausnahmslos und für alle hier untersuchten Städte bis zum ersten Drittel des 14. Jahrhunderts.
4. Formale Aspekte der Urkunden
Die städtischen Urkunden Sachsens aus dem 13. und 14. Jahrhundert sind in formaler Hinsicht durchaus typisch für die Entwicklung des städtischen Urkundenwesens ihrer Zeit. Sie weisen, insgesamt gesehen, alle Anzeichen zunehmender Vereinheitlichung äußerer und innerer Merkmale auf, von der Verwendung der obligaten inneren Bestandteile der Urkundentexte bis hin zu den eingesetzten Beglaubigungsmitteln. Freilich zeigen sich auch hier gewichtige Unterschiede im Detail, die einen genaueren Blick auf die Überlieferung nötig machen und ertragreich werden lassen. Dabei soll das Augenmerk zunächst den inneren Merkmalen gelten, sondann den äußeren Merkmalen und dabei vor allem der städtischen Siegelführung. Schließlich wird dem Übergang vom Lateinischen zum Deutschen als Urkundensprache auführlicher nachzugehen sein.
Die inneren Merkmale spätmittelalterlichen Privaturkunden werden nach allgemeiner Ansicht im Laufe der Zeit immer mehr standardisiert. Ganze Formelgruppen, die die Herrscherurkunden noch des 13. Jahrhunderts enthalten, fallen ersatzlos fort. Es bildet sich eine Form einfacher Beurkundung heraus, die auf das Wesentliche reduziert ist und deren Reduktion auf das inhaltlich Unerläßliche ihr Pendant in einer zunehmenden äußeren Einfachheit der Urkunden besitzt. Diese allgemeine Vorstellung bedarf der Überprüfung.
Im allgemeinen weisen die sächsischen Stadturkunden des 13. und 14. Jahrhunderts folgende Bestandteile auf : Intitulatio, Promulgatio, Dispositio, [p. 544] Corroboratio und Datum. In relativ wenigen Fällen werden Invocatio (25 Belege = 16 %) und Arenga (29 Belege = 18 %) verwendet. Gelegentlich werden zur Beglaubigung neben den Siegeln auch Zeugen genannt (43 Belege = 27 %).
Interessant ist die Feststellung, daß sich diese Abweichungen vom Normalschema der Urkunden auf relativ wenige Städte konzentrieren : Neun der 27 Urkunden Freibergs weisen Zeugennennungen auf. Vier der 18 Urkunden aus Grimma besitzen eine Invocatio, sechs eine Arenga, sechs nennen Zeugen. Die vier frühesten Pirnaer Urkunden haben Invocationes. In Zwickau sind acht der 27 dortigen Urkunden mit einer Invocatio versehen, sechs besitzen eine Arenga und elf nennen Zeugen. In Altenburg schließlich weisen insbesondere die Urkunden des 13. Jahrhunderts Abweichungen vom späteren Normalschema der städtischen Urkunden Sachsens auf.
Das Tastende und Vorläufige des frühen städtischen Urkundenwesens dieser Region zeigt sich an der durchlaufenden Tendenz von größeren Abweichungen hin zu ansteigender Standardisierung. Die ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts zeigen eine deutliche Abnahme der formalen Abweichungen vom Grundschema, das um die Mitte des 14. Jahrhunderts in fast allen Städten gleichmäßig praktiziert wird.
Dennoch bleiben Variationen des Formelstandards auch über diese Zeit hinaus erhalten. In Freiberg betrifft dies die Heranziehung von Zeugen zu den Ratsurkunden. Sie werden offensichtlich erst dann nicht mehr herangezogen, als um die Mitte des 14. Jahrhunderts der endgültige Wechsel der Urkundensprache zum Deutschen vollzogen wird37. Ganz ähnlich vollzieht sich die Entwicklung der Zwickauer Ratsurkunden. Auch hier sind Zeugen bis um die Mitte des 14. Jahrhunderts häufig, danach auffallend selten genannt worden38.
Die einzelnen Formeln sind insgesamt überraschend einförmig, auch dort, wo Berührungen des Diktats untereinander nicht auszumachen und auch nicht sonderlich wahrscheinlich sind. Invocationes weisen durchweg den Typus In nomine domini amen bzw. die deutsche Entsprechung In gotis namen amen auf39. Über eine Inscriptio verfügen grundsätzlich nur [p. 545] Briefe40, die im übrigen undatiert zu sein pflegen.
Die Arengen variieren in der Mehrzahl den Topos von der Vergänglichkeit alles menschlichen Tuns und der Notwendigkeit, es deswegen schriftlich zu fixieren. Einzelfälle weichen von dieser generellen Feststellung kennzeichnend ab : Die erste Meißner Ratsurkunde von 1316, ausgestellt für das dortige Dominikanerkloster, beginnt mit einer Invocatio und läßt dann die gängige Ablaßarenga Quoniam ut ait apostolus (2. Kor. 5, 10) päpstlicher und bischöflicher Urkunden seit dem beginnenden 13. Jahrhundert folgen41. Am Ende dieser Urkunde wird dann in die Corroboratio nochmals ein aus Arengen vielfach bekannter Gedanke eingearbeitet : Et ne ea, quae gerunter in tempore, cum tempore pariter evanescant, contra oblivionis incommodum praesentium permanentia duximus et sigillo nostrae civitatis rationabiliter confirmare volumus. Insgesamt zeigt dieses Stück beispielhaft, daß gerade Abweichungen bei frühen städtischen Siegelurkunden einerseits durch das Fehlen fester städtischer Kanzleigebräuche bedingt sind und andererseits ein recht sicheres Indiz für das Vorliegen von Empfängerausfertigungen sein dürften.
Diese Beobachtung kann man fast durchweg an allen Arengen der frühen Ratsurkunden Sachsens machen. Die Urkunden der Kleinstadt Grimma stehen in engem Zusammenhang mit dem Zisterzienserkloster Altzelle, das am Orte begütert gewesen ist. Diktatoren aus Altzelle wird die Tatsache zu verdanken sein, daß die frühen Grimmaer Urkunden von 1292, 1297, 1308 und 1327 mit Arengen versehen sind, die starke Anklänge an Altzeller [p. 546] Urkunden aufweisen42.
Besondere Aufmerksamkeit unter den inneren Merkmalen der Urkunden zieht schließlich die Veränderung der Datierungsgewohnheiten auf sich : die Frage nach dem Zeitpunkt des Wechsels vom römischen Kalender zum Fest- bzw. Heiligenkalender im Laufe des 13.-14. Jahrhunderts43. Die ältesten Belege für Festdatierungen städtischer Urkunden im sächsischen Bereich stammen aus Leipzig 1287, Altenburg 1296, Grimma 1297-1298 und Chemnitz 129844. Teilweise wird in der damit beginnenden Übergangsphase noch doppelt datiert, also gemeinsam nach dem römischen und den Heiligenkalender (Grimma 1297-1298, Chemnitz 1298, Zwickau 1303, Freiberg 1318)45.
Die letzten Belege für die Datierung nach dem römischen Kalender liegen spätestens um 1330. Lediglich in Freiberg werden noch bis 1351 alle lateinischen Urkunden römisch datiert, allein die drei deutschen Urkunden der Jahre 1305, 1318 und 1334 erscheinen schon mit Datierungen nach dem Festkalender. Dieses Phänomen der generellen Zuordnung des römischen Kalenders zu lateinischsprachigen Urkunden und des Festkalenders zu volkssprachigen Stücken entspricht völlig den auch anderweit in Europa auftretenden Datierungsgewohnheiten46.
Gelegentlich vermögen Datierungseigenheiten auch indirekt über das Entstehen von Urkunden Aussagen zu ermöglichen : Am 2. Juli 1315 stellt der Leipziger Rat zugunsten des Nonnenklosters St. Georgen eine Urkunde aus47. Sie wird datiert in vigilia translationis beati Thome apostoli, obwohl der 2. Juli nicht nur in Leipzig, sondern allgemein eher als das Fest der Heimsuchung Mariens begangen worden ist. Die eher unübliche Datierung auf die Vigil der Translation des Apostels Thomas wird mit der Tatsache zusammenhängen, daß die Urkunde im Augustinerchorherrenstift St. Thomas in Leipzig entstand, in dem dieser Festtag naturgemäß als Hochfest begangen wurde.
[p. 547] 5. Der Übergang von der lateinischen zur deutschen Urkundensprache
Die frühesten deutschsprachigen Urkunden der behandelten Städte sind aus folgenden Jahren überliefert : Freiberg 1305, Dresden 1308, Chemnitz 1324, Meißen 1329, Zwickau 1334, Leipzig und Pirna je 1335, Grimma 1344 sowie Altenburg 134748.
Jedoch stehen diese frühen Stücke zum Teil innerhalb der Überlieferung noch vereinzelt da. Vielfach vergeht noch mehr als ein Jahrzehnt, bis die überhaupt nächste deutschsprachige Urkunde folgt, und noch längere Zeiten, bis deutschsprachige Urkunden die Mehrheit der Überlieferung bilden.
Freilich umschreiben schon die Nachweise der ersten volkssprachigen Stücke zwischen 1305 und 1347 ziemlich genau den Zeitraum, innerhalb dessen der Sprachwechsel in den städtischen Urkunden stattgefunden hat. Der Blick auf die Gesamtüberlieferung läßt dies deutlicher hervortreten :
Überlieferung deutschsprachiger Urkunden in sächsischen Städten (vor der Klammer = Zahl der deutschsprachigen Stücke, in der Klammer = Gesamtzahl überlieferter Urkunden) | ||||
bis 1300 | 1301-1333 | 1334-1366 | 1367-1400 | |
Altenburg | 00 (07) | 00 (05) | 02 (04) | 03 (03) |
Chemnitz | 00 (02) | 01 (01) | 03 (03) | 05 (05) |
Dresden | 00 (00) | 02 (04) | 02 (02) | 11 (11) |
Freiberg | 00 (03) | 02 (05) | 03 (11) | 08 (08) |
Grimma | 00 (03) | 00 (03) | 03 (03) | 09 (09) |
Leipzig | 00 (04) | 00 (05) | 02 (04) | 04 (04) |
Meißen | 00 (00) | 01 (03) | 02 (03) | 06 (06) |
Pirna | 00 (01) | 00 (00) | 05 (07) | 05 (05) |
[p. 548] Zwickau | 00 (02) | 00 (08) | 05 (07) | 08 (10) |
Summe | 00 (22) | 06 (34) | 27 (44) | 59 (61) |
0 % | 18 % | 61 % | 97 % |
Diese Zusammenstellung zeigt, daß bereits im zweiten Drittel des 14. Jahrhundert die Urkundensprache mehrheitlich das Deutsche ist. Im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts sind lateinische Urkunden eine verschwindend geringe Ausnahme geworden : Lediglich eine Seelenheilstiftung des Zwickauer Schulrektors Johannes von Merseburg aus dem Jahre 1384 und eine Meßstiftung in der dortigen Heilig-Geist-Kapelle aus dem Jahre 1390 sind noch in Latein abgefaßt49.
Interessant ist der Blick auf die einzelnen Städte. Es zeigt sich schnell, daß sich der statistische Mittelwert aus zwei unterschiedlich gelagerten Extremtypen ergibt. Einerseits gehen einige Städte sehr schnell und ohne größere Ausnahmen zum Deutschen über. Das gilt etwa für Chemnitz, aus dem in gesamten 14. Jahrhundert nicht eine einzige Urkunde in lateinischer Sprache mehr überliefert ist, während aus Dresden, Grimma, Meißen und Pirna immerhin mehr als 80 % der urkundlichen Überlieferung in deutscher Sprache vorliegen. Das andere Extrem markieren Freiberg, Zwickau und vor allem Leipzig. Hier sind im 14. Jahrhundert deutsche und lateinische Urkunden scheinbar etwa gleich stark vertreten.
Sieht man freilich wieder näher auf die Überlieferung, so wird das Deutsche als Urkundensprache in Freiberg gewissermaßen von einem Tag auf den anderen zur Regel : 1353 wird die letzte lateinische Urkunde ausgestellt, 1362 die erste deutsche, der dann nur noch weitere deutsche Urkunden folgen50. Im Falle Leipzigs vollzieht sich dieser Übergang zwischen 1335-134251, im Falle Zwickaus zwischen 1334 und 133652. Das statistische Bild vermittelt also den falschen Eindruck eines prozeßhaften Vorgangs, während der Blick auf die Überlieferung im einzelnen durchaus fühlbare punktuelle Einschnitte der Überlieferung deutlich macht.
[p. 549] Man könnte daraus einen Typus eher konservativen Kanzleigebrauchs in den größeren Städten ableiten53. Die kleineren Städte wären danach eher zur deutschen Urkundensprache übergegangen. Nun bleibt auch diese Gegenüberstellung naturgemäß zunächst ein bloß statistischer Befund, der mit weiteren Argumenten unterbaut werden muß, um aussagekräftig zu sein.
Maßgeblich für die Verwendung einer Urkundensprache dürfte in den Städten des 14. Jahrhunderts die Frage gewesen sein, an welcher Stelle die Urkunden entstanden. Angesichts der Unklarheit, die auf diesem Gebiet noch zu verzeichnen ist, kann nur darauf hingewiesen werden, daß das Verharren beim Gebrauch der lateinischen Urkundensprache zwei Gründe haben dürfte, die einander teils ergänzen, teils aber auch gegenläufig sind.
1. Noch ausgangs des 15. Jahrhunderts urkunden die meisten geistlichen Institutionen in den sächsischen Städten auf Latein. Unterstellt man, daß geistliche Diktatoren und Schreiber für das Entstehen städtischer Urkunden verantwortlich sind, so liegt es nahe, daß sie im allgemeinen auch diejenigen Urkunden in Latein ausfertigen, die sie im Auftrag Dritter diktieren und schreiben.
2. Gerade in den größeren Städten werden im Laufe des 14. Jahrhunderts Stadtschreiber nachweisbar, die zumeist Geistliche gewesen sind und nicht selten über eine universitäre Bildung verfügten. Auch ihnen ist die Verwendung des Lateins als Urkundensprache durchaus zuzutrauen, zumal etliche der Stadtschreiber des ausgehenden Mittelalters ohnehin gleichzeitig als öffentliche Notare arbeiteten54.
Für die städtische Überlieferung ist es kennzeichnend, daß keinerlei Differenzierung des Sprachgebrauches zwischen verschiedenen Adressaten auszumachen ist. Der Übergang zur deutschen Urkundensprache vollzieht sich, wo er überhaupt vonstatten geht, unterschiedslos.
6. Die Beglaubigungsmittel
Das übliche Beglaubigungsmittel der städtischen Urkunden Sachsens ist spätestens seit der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert das Siegel. Die frühesten Siegel sind in der Regel an den ersten Stadturkunden überliefert. [p. 550] Das gilt für Leipzig 1287, Chemnitz und Zwickau 1290-1291, Grimma 1292, Pirna 1299 und Dresden 130955.
Jedoch gibt es drei Städte, in denen städtische Siegel schon deutlich vor der Überlieferung der ersten, von der Stadt ausgestellten Urkunde bezeugt sind : In Freiberg ist bereits 1227 ein Siegel der Bürger bzw. der Stadt in Gebrauch, in Altenburg seit 1264 und in Meißen immerhin seit 128556.
Die frühen Freiberger Belege stehen in engem Zusammenhang mit den Vertretern des Stadtherrn in der Stadt : 1227 führt der markgräfliche Freiberger Vogt Heinrich nicht nur sein eigenes, sondern auch das sigillum burgensium ; 1230 siegelt der Sohn des Stadtvogtes neben seinem persönlichen Siegel wiederum mit diesem Siegel. 1241 hingegen ist es dann schon in die Verfügung der 24 Ratsherren übergegangen, die es auf markgräfliche Anweisung einer Urkunde des Stadtherrn anhängen (preterea sigillum suum apposuerunt viginti quatuor consules sepe dicti). Als schließlich 1244 der Meißener Bischof Konrad dem Kloster Altzelle Einkünfte unter anderem in der Stadt Freiberg überschreibt, wird die Urkunde wiederum zusätzlich durch ein Freiberger Stadtsiegel beglaubigt57.
Erste Belege eines Altenburger Stadtsiegels stammen aus den Jahren seit 1264, liegen also unmittelbar vor der ersten überlieferten Siegelurkunde, die der Rat selber 1268 ausstellt. Sie führen auf eine Beobachtung, die sich auch anderenorts bestätigt : Teilweise vor den ersten Siegelurkunden des Rates, teilweise parallel zu ihnen werden die städtischen Siegel auch zur Beglaubigung von Urkunden Dritter benutzt, sei es, indem die städtischen Siegel zusätzlich angehängt werden, sei es, daß sie das überhaupt einzige Beglaubungsmittel darstellen.
Besonders charakteristisch ist dieses Vorgehen in Altenburg und Leipzig zu beobachten. Der erste Beleg des Altenburger Stadtsiegels aus dem Jahre 1264 findet sich an einer Urkunde, mit der der Propst des dortigen Bergerklosters eine Rentenschenkung zugunsten seines Klosters beurkundet. Das Stück liegt in zwei Ausfertigungen vor, deren eine, in Chirograph, zusätzlich mit den Siegeln von Propst und Kapitel des Bergerklosters besiegelt ist, deren [p. 551] andere Ratsherren als Zeugen aufweist und neben den beiden Klostersiegeln noch zusätzlich das der Stadt Altenburg zeigt58.
Mit dem städtischen Siegel mitbesiegelt werden in der Folge : eine schiedsrichterliche Entscheidung zwischen der Altenburger Geistlichkeit und deren Hintersassen in der Stadt aus dem Jahre 127359, eine Schenkung zugunsten des Bergerklosters von 1274, deren Schenker kein eigenes Siegel besitzen60, sowie einige weitere, vergleichbare Fälle aus den Jahren 1274-133161. Diesen Urkunden ist gemeinsam, daß es sich um Aussteller oder Empfänger aus den Bereich der Stadt Altenburg handelte oder daß die betroffenen Güter in Altenburg gelegen haben.
Man versprach sich von einer Mitbesieglung durch das Stadtsiegel offensichtlich ebenso eine Erhöhung der Glaubwürdigkeit wie eine Verbesserung der Rechtssicherheit. Kennzeichnend ist es, daß mit der Verfestigung der Kanzleigebräuche diese Praxis im Laufe des zweiten Drittels des 14. Jahrhunderts ihre Ende findet und daß statt dessen Siegelurkunden des Rates ausgestellt werden.
Nicht viel anders verhält es sich in Leipzig. Belege für die Mitbesieglung von Urkunden Dritter durch das Leipziger Stadtsiegel sind hier aus den Jahren 1288-1316 sowie von 1336 vorhanden62. In allen diesen Fällen wurde das sigillum civitatis von den Ratsherren pro testimonio suo (so 1309) erbeten, also als Nachweis der besonderen Verbindlichkeit ihrer Bezeugung der jeweils voranstehenden Urkunde. Wie in Altenburg, so endet die Phase der Mitbesieglung fremder Urkunden durch das Stadtsiegel auch in Leipzig mit der Stabilisierung einer städtischen Beurkundungsstelle63.
Zur äußeren Form und zur Ikonographie der Stadtsiegel ist folgendes zu bemerken. Bei den runden Siegeln von Leipzig, Chemnitz, Zwickau und Grimma handelt sich um Stadtabbreviaturen, die unterschiedlich gestaltete Abbildungen von Stadttoren, -türmen und -mauern aufweisen, jedoch keinen [p. 552] Hinweis auf den Stadtherrn enthalten64. Das Freiberger Siegel enthält unter dem offenen Stadttor noch zusätzlich den Wappenschild der Markgrafschaft Meißen (links den steigenden Löwen Meißens, rechts die Landsberger Pfähle).
Ausnahmen von dieser allgemeinen Feststellung stellen die Siegel der Städte Altenburg, Meißen, Pirna und Dresden dar : Das Meißener Stadtsiegel zeigt im Siegelbild eine stehende Figur, die in ihrer rechten Hand einen Wappenschild mit dem markmeißnischen Löwen, in der linken Hand eine Wappenschild mit dem burggräflich-meißnischen Andreaskreuz trägt65. Diese Kombination verweist auf die komplizierte Zwischenstellung der Stadt Meißen zwischen den Wettinern und den Burggrafen von Meißen.
Von der Form her fallen die Siegel des pleißenländischen Altenburg (1264) sowie der Städte Pirna (1299) und Dresden (1309) gegenüber den übrigen Stadtsiegeln des wettinischen Bereiches auf : Sie sind schildförmig und weisen damit eine äußere Form auf, die eher Niederadelssiegeln vorbehalten ist, bei Stadtsiegeln aber nur ausgesprochen selten belegt ist66. Im Falle Pirnas zeigt das Siegelbild einen Birnbaum67 ; es handelt sich also um ein (volksetymologisch) redendes Siegel, das auf den Stadtnamen verweist. Die Umschrift + SIGILLVM CIVITATIS PIRNENSIS bietet gegenüber älteren Formulierungen (sigillum civium, sigillum burgensium) bereits die modernere Form. Das Dresdner Stadtsiegel zeigt als Siegelbild das markmeißnische Wappen und trägt die Umschrift + SIGILLVM BVRGENSIVM IN DRESEDENE68.
Eine Sonderstellung kommt — vor allem wegen des rechtlichen Status der Stadt — dem 1264 erstmals belegten Adlersiegel Alterburgs zu : Es zeigt den heraldisch rechts gewendeten Reichsadler im Bild69. Damit ist die Reichsstadt Altenburg die einzige der ehemals drei pleißenländische Reichsstädte, deren Stadtsiegel noch Reichsbezüge aufweist. In Gebrauch geblieben [p. 553] ist dieses ikonografisch deutlich auf das Reich verweisende Siegel bis mindestens 1321.
Für die Institutionalisierung städtischer Kanzleien kommt dem eigenständig verwendeten Sekretsiegel in seiner Funktion als Geschäftssiegel für minder bedeutende Angelegenheiten eine erhebliche Bedeutung zu70. Die frühen Belege dieser Sekretsiegel fallen durchweg in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts. Freilich stellt sich bei der Belegzusammenstellung ein gewisses Problem ein. Die ersten überlieferten Exemplare von Sekretsiegeln sind nicht selten Jahrzehnte jünger als ihre anzunehmende Erstverwendung. Überdies werden in den Urkundeneditionen Sekretsiegel meist nicht als solche, sondern als “kleine Siegel” oder ähnlich bezeichnet.
Ein Beispiel soll dies deutlich machen : Im Dresdner Urkundenbuch wird die Abbildung des SECRETVM CIVITATIS DRESSEDEN mit der Erklärung “Mittleres Siegel der Stadt Dresden, zuerst 1404” versehen71. Andererseits findet sich erstmals in einder Ratsurkunde des Jahres 1362 die Siegelankündigung habe wir vnsir grosir ingisigil gehangin an desin brif72, woraus man doch wohl wird schließen dürfen, daß es zu diesem Zeitpunkt noch ein anderes als dieses große Siegel, eben das Sekretsiegel gegeben haben muß.
Akzeptiert man diese methodische Überlegung, dann ergibt sich folgende Reihe der Erstnachweise städtischer Sekretsiegel im sächsischwettinischen Raum : Chemnitz 1352, Leipzig 1354, Grimma 1360, Zwickau 1361, Dresden 1362, Freiberg 1362, Meißen 1371, Pirna 1386 und Altenburg 139973. Aus Freiberg liegt zum Jahre 1379 sogar eine Stadtbuchnotiz über [p. 554] die Anfertigung eines neuen silbernen Sekrettypars vor : preparatum et presentatum est sigillum civitatis scilicet secretum argenteum. Et quidquid post hoc scriptum erit, sive sigillo civitatis hujus communi scribetur sive hujusmodi secreto74.
Aus diesem Eintrag wie auch aus den Belegen für die Verwendung sächsischer Stadtsekretsiegel ist keine präzise Abgrenzung der Verwendung dieser Siegel anstelle der großen Stadtsiegel abzuleiten. Allenfalls wird man davon ausgehen können, daß Urkunden für auswärtige Empfänger in der Regel mit dem großen Siegel versehen wurden, während stadtinterne Beurkundungen häufig das Sekretsiegel aufweisen. So trägt in Freiberg seit der ersten Nennung eines Sekretsiegels nur noch die Erbhuldigung der Stadt gegenüber den meißnischen Markgrafen 1387 das große Stadtsiegel75.
Neben den Siegeln sind andere Beglaubigungsmittel kaum von Bedeutung. Chirographe scheinen offenkundig eine rare Seltenheit darzustellen ; bekannt ist nur das bereits genannte Altenburger Stück von 126476. Die Tätigkeit öffentlicher Notare ist seit den Jahren um 1340 hier und da belegt, gewinnt offensichtlich aber erst in den drei letzten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts an Bedeutung, freilich auch dann allem Anschein nach überwiegend im Bereich geistlicher Institutionen77.
7. Die Entstehung städtischer Kanzleien im wettinisch-sächsischen Raum
Die bisherigen Befunde haben gezeigt, daß in der Mitte des 14. Jahrhunderts wesentliche Veränderungen im Urkundenwesen der sächsischen Städte zu verzeichnen sind. Die generelle Zunahme der Siegelurkunden, der Übergang von der lateinischen Urkundensprache, der Beginn der Führung von [p. 555] Stadtbüchern, das Aufkommen von Sekretsiegeln neben den großen Stadtsiegeln können als äußere Anzeichen für eine zunehmende Verstetigung der städtischen Schriftwesens angesehen werden.
Diesen Beobachtungen ist eine letzte Tatsache anzufügen : Um die Mitte des 14. Jahrhunderts setzen auf breiter Front und annähernd gleichzeitig in den sächsischen Städten Erwähnungen von Stadtschreibern ein78. In Meißen amtiert Nikolaus von Uebigau 1340 als notarius civitatis Misnea79. Grimmas Stadtschreiber Johannes von Leisnig nennt sich selber bei der Anlage eines Stadtbuches im Jahre 134680. In Zwickau wird Heinrich, der alte Schriber, als Schreiber des dortigen Rechtsbuches von 1348 angesehen, gleichzeitig ein Hinweis darauf, daß seine Tätigkeit früher eingesetzt haben dürfte81. 1363 taucht in Altenburg der Stadtschreiber Bothelung in zwei Urkunden auf82. Erst 1368 wird mit Johannes [von Wolfen] notarius der erste Leipziger Stadtschreiber namhaft gemacht83. 1369 wird Nicolaus antiquus civitatis Friberch notarius erwähnt, der anschließend noch bis 1406 als Bergschreiber amtiert hat84. Seit 1380 schließlich amtierte in Dresden Peter Bernher als Stadtschreiber85. Lediglich der Erstbeleg eines Stadtschreibers in Chemnitz aus dem Jahre 1432 fällt aus diesem Rahmen chronologisch heraus, jedoch ist anzunehmen, daß die Stadt schon um 1345 über einen eigenen Schreiber verfügte86.
Damit ergeben sich für die Erstbelege von Stadtschreibern die Jahrzehnte zwischen 1340 und 1380 als Rahmen. Es ist diese Zeit, in der die verschiedenen genannten Erscheinungen im städtischen Urkundenwesen des wettinisch-sächsischen Raumes gehäuft auftreten. Selbst wenn man Überlieferungsverluste in Rechnung stellt, die das eine oder andere Datum eines Erstbelegs verschoben haben, wird man konstatieren können, daß das zweite [p. 556] Drittel des 14. Jahrhunderts derjenige Zeitraum ist, innerhalb dessen die Entwicklung städtischer Kanzleien auf breiter Front einsetzt.
Für diese These lassen sich die bisherigen Beobachtungen folgendermaßen zusammenfassen :
1. Das frühe Urkundenwesen der wettinisch-sächsischen Städte, dessen erste Zeugnisse seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert nachweisbar sind, scheint stark an die Urkundenproduktion geistlicher Institutionen, zumeist in den Städten selber, angelehnt zu sein. Freilich urkunden die Stadträte seit der Verfestigung der Ratsverfassung gegen Ende des 13. Jahrhunderts unter eigenem Namen ; Vorformen von Ratsurkunden in Gestalt von Schöffen- oder Gerichtsurkunden spielen keine bedeutende Rolle.
2. In den Jahrzehnten zwischen 1340 und 1380 vollziehen sich wesentliche Veränderungen im städtischen Urkundenwesen. In allen Städten sind Stadtschreiber nachweisbar. In mehreren Städten werden Stadtbücher geführt. Neben das bisher einzige (große) Stadtsiegel tritt ein zweites, das Sekretsiegel, als Geschäftssiegel. Der Übergang von der lateinischen zur deutschen Urkundensprache findet statt. Das Formular der Urkunden vereinfacht sich bis hin zu einem allen Städten gemeinsamen Standard, der auf das Nötigste reduziert ist.
3. Der Zeitraum zwischen 1340 und 1380 ist folgerichtig derjenige Zeitraum, für den das Vorhandensein städtischer Kanzleien postuliert werden kann. Für das Schriftwesen in den wettinischen Städten bis an diesen Zeitraum wird man kaum von fest institutionalisierten städtischen Schreibstellen ausgehen können87.
4. Im Moment zunehmender Verfestigung der Kanzleibräuche geht gleichzeitig die Bedeutung der Siegelurkunde graduell zurück. Einträge in Stadtbüchern und — wenngleich mit starken Einschränkungen — auch Urkunden öffentlicher Notare laufen den Siegelurkunden den Rang ab. Im Laufe des 15. Jahrhunderts hat das städtische Urkundenwesen bereits einen völlig anderen Charakter gewonnen als ein Jahrhundert vorher. Städtische Amtsbücher und Akten bestimmen das Bild.
[p. 557] Daten zur frühen Entwicklung des städtischen Urkundenwesen in Sachsen | |||||||
Rat | Erste Siegelurkunde | Großes Siegel | Sekretsiegel | Übergang lat.-dt. | Stadtbuch | Schreiber | |
Altenburg | 1256 | 1268 | 1264 | 1399 | 1347-1360 | 1344 | 1363 |
Chemnitz | 1290/1291 | 1290/1291 | 1290/1291 | (1352) | 1298-1324 | (1367) | ca. 1345 |
Dresden | 1292 | 1309 | 1309 | (1362) | 1329-1337 | 1404 | 1380 |
Freiberg | 1227/1241 | 1298 | 1227 | 1379 | 1353-1362 | 1378 | 1369 |
Grimma | 1267/1292 | 1292 | 1292 | 1360 | 1327-1344 | 1346 | 1346 |
Leipzig | 1270 | 1287 | 1287 | 1354 | 1335/1342-1354 | (1292), 1359 | 1368 |
Meißen | 1316 | 1316 | 1285 | (1371) | 1355-1356 | 1351 | 1340 |
Pirna | 1292 | 1299 | 1299 | (1386) | 1335-1352 | 1432 | 1432 |
Zwickau | 1290/1291 | 1290/1291 | 1290/1291 | (1361) | 1334-1336 | 1352/1367 | vor 1348 |
Angeführt werden in jedem Falle die Erstbelege. Wo eingeklammerte Zahlen verwendet werden, sind diese Belege heute nur noch erschließbar. Nachweise zu den Daten finden sich im voranstehenden Text ; Nachweise zu den frühen Stadtbüchern bei Ermisch, Stadtbücher (wie Anm. 87). |