[p. 465] Brünner Stadtkanzlei und Diplomatik an der Schwelle der Neuzeit
Die königliche Stadt Brünn, die zu einer Lokalität des städtischen Typus im Verlaufe des ersten Drittels der 13. Jahrhunderts wurde, erwarb die Bestätigung ihrer Rechte durch das berühmte Privileg König Wenzels I (Václav I.) bereits im Jahre 1243. Brünn gehörte jederzeit zu den wichtigsten Städten Mährens, seit den 40er Jahren des 17. Jahrhunderts bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hatte es ununterbrochen den Posten der mährischen Hauptstadt inne.
Während des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit konkurrierte der Stadt Brünn vor allem die königliche Stadt Olmütz (Olomouc), das Zentrum der nördlich gelegenen Region Mährens und zugleich die Bischofsresidenz. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, wo die Einheitskodifikation der Stadtrechte in Mähren zur allgemeinen Geltung gelangte1, richtete sich Olmütz nach den Rechtsnormen, die denjenigen nahe kamen, welche derzeit in den norddeutschen Städten gültig waren. Demgegenüber neigte die südlich gelegene Stadt Brünn immer zum Donauraum und die Rechtspraxis des Brünner Gerichts basierte auf jenen Prinzipien, die auf ähnliche Weise in den Städten des sogenannten süddeutschen Rechtskreises zur Geltung kamen. Sowohl das Brünner als auch das Olmützer Stadtgericht waren seit der Mitte des 14. Jahrhunderts Appelationsinstanzen für die subalternen Ortschaften (die Städte, die Städtchen sowie die Dörfer) der zuständigen Rechtskreise2. Diese privilegierte Stellung der beiden Städte im Lande verursachte unter anderem auch die [p. 466] Tatsache, daß in denen während der drei Jahrhunderte nach der gegen Mitte des 14. Jahrhunderts durchgesetzten Verwaltungsreform die obersten Versammlungen der Landesstände, nämlich die Landesgerichte und die Landtage, abwechselnd stattfanden3. Wenn Brünn und Olmütz auch keine Residenzstädte des mährischen Markgrafen waren (mit Ausnahme der erstgenannten Stadt in der Zeitspanne von 1350 bis 1411)4, half doch die vorerwähnte Tatsache zweifellos zur Bildung der spezifischen Atmosphäre innerhalb der beiden Städte, die einigermaßen anders war als jene in den übrigen, sonst gedeihlichen königlichen Städten Mährens. Nicht nur während der eigenen Landestagungen konzentrierten sich hier zahlreiche Mitglieder des Hochsowie niederen Adels, deren Aufenthalt in Brünn und Olmütz durch ihre Beschäftigung in der Landesverwaltung, beziehungsweise durch andere verschiedenartige gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Interessen motiviert war5.
Richten wir jetz unsere Aufmerksamkeit auf die Stadt Brünn an der Wende des Mittelalters und der Neuzeit. Diese Epoche ist auf der politischen Ebene einerseits durch die Besteigung des böhmischen Throns durch das Haus Habsburg und anschließend durch den Beginn der Personalunion der Böhmischen Krone mit den österreichischen Ländern und Ungarn, anderseits durch die tragische, zur Verstärkung der Vorherrschaft dieses Hauses über die Bömischen Kronländer führenden Niederlage des Antihabsburgischen ständischen Aufstandes in der Schlacht am Weißen Berge im Jahre 1620 abzugrenzen. Die Ergebnisse der bisherigen Forschungen erwiesen einwandfrei, daß damals das pragmatische Bürgertum nur dann an den bedeutungsvollen politischen Geschehnissen teilnahm, wenn es dazu durch die äußeren Umstände gezwungen worden war. Sonst widmeten die Brünner Bürger ihre Aufmerksamkeit vorzugsweise dem Schutze eigener Wirtschaftsvorrechte, dem Anstreben der Entfaltung ihrer Handwerke und Gewerbe, wobei sie gleichzeitig versuchten, [p. 467] den vor allem während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer mehr und mehr offensichtlichen Wirtschaftsregreß durch die Ankäufe von neuen Weinbergen in der unmittelbaren sowie weiteren Umgebung der Stadt zu kompensieren6. Doch setzt sich im Brünner Milieu in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts der vielfälltige Renaissancelebensstil durch, dessen greifbare Ausdrücke in zahlreichen Umbauten der Bürgerhäuser und in der Austattung ihrer Interieure merkbar sind7. Da in dem Stadtkern, der bereits seit dem 14. Jahrhundert dicht verbaut war, die Möglichkeiten des weiteren Aufbaues von neuen Häusern eingeschränkt waren (nur selten hat man mehrere bestehende Grundstücke vereint, beziehungsweise eine alte Parzelle verteilt), gab es innerhalb der Brünner Stadmauer (auf der Fläche von ca. 37 ha) während der ganzen Epoche vor der Schlacht am Weißen Berge stabil rund 485 Häuser (inklusive 50-70 Häuser im Besitz der Adeligen, darunter höchstens 7 Freihäuser)8. Daraus ergibt sich, daß man (bei Annahme von üblichen Koefizient fünf Personen je Haus) ca 2500 Innenstadteinwohner aller Schichten der Gesellschaft voraussetzen kann. In den Vorstädten, wo für diese Zeitspanne mittels mehrerer Quellen 220-230 Wohnhäuser belegt sind, nehmen wir ca 1200 Einwohner an (die Bürger, die außer den Häusern in der Innenstadt auch andere Wohnungen in den Vorstädten besaßen, eingerechnet)9.
Was die nationale Struktur der Bevölkerung Brünns betrifft, aus den gegenwärtigen Forschungen (unter Berücksichtigung der geographischen Lage dieser Stadt) geht hervor, daß hier die Anzahl von Tschechen und Deutschen zu Beginn der frühen Neuzeit im Grunde genommen ausgeglichen war. Erst in nachfolgender Zeit setzten sich die Deutschen tatkräftiger durch10. Obzwar [p. 468] die meisten Quellen städtischer Provinienz auf deutsch stilisiert wurden11, die nähere Beobachtung lehrt, daß sich diese Sprache vor allem in den Schriftstücken der Stadtverwaltung (nachdem das Deutsche allmählich während der 40er Jahren des 16. Jahrhunderts das bis dahin führende Latein verdrängt hatte) und in der alltäglichen Korrespondenz der Stadt Brünn mit anderen königlichen Städten Mährens durchsetzte. Demgegenüber wurde in den Angelegenheiten des “öffentlichen Interesses” — in der Korrespondenz mit den Landesverwaltungsbehörden, mit der königlichen Kanzlei und mit vielen Angehörigen der höheren Stände sowie mit den Städten — im Einklang mit den Prinzipien des Landesrechts die tschechische Sprache bevorzugt. Während bei den Jahresgerichten (bei den anhängigen sowie den außerordentlichen Prozessen), deren Verfahren bereits seit der Wende des 15. und 16. Jahrhunderts durch die erhalten gebliebenen Protokolle dokumentiert sind, das Deutsche sowie das Latein zur Geltung kam, bei den sogenannten täglichen Gerichten, deren Agenda mittels der seit dem Beginn der 40er Jahren des 16. Jahrhunderts vollständig erhaltenen Stadtrichterbücher dokumentiert ist, war vorwiegend die deutsche Sprache, bloß gelegentlich das Tschechische, benutzt. Zahlreicher sind die auf tschechisch geschriebenen Eintragungen in den Urteilsbüchern vertreten, die im Zusammenhang mit der Wirksamkeit des Stadtgerichts als oberer Justizstelle entstanden. Die Angestellten der Brünner Stadtkanzlei mußten also alle drei Sprachen beherrschen (explizite ist die Entlassung eines der tschechischen Sprache nicht mächtigen Stadtratsschreibers aus dem Dienst belegt). Zufriendenstellende Kenntnisse der erwähnten Sprachen waren jedoch auch für die Ausübung des Ratsherrenamtes notwendig, da die Ratsherren außer ihrer mit der Stadtverwaltung zusammenhängenden Tätigkeit auch die Kommunikation der Stadt mit den obgenannten höheren juristischen Subjekten gewährleisteten.
[p. 469] Die angegebenen Behauptungen sind nachweisbar für die Zeit seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gültig, wo in Brünn zahlreiche neue, für die einzelnen Verwaltungsbereiche bestimmte Stadtbüchertypen entstanden, von denen manche in einer vollständiger chronologische Reihe bis heute erhalten blieben12. Dank dieser günstigen Quellengrundlage städtischer Provenienz war es möglich, eine komplexe Inhalts- und diplomatische Analyse der Schriftstücke auszuführen. Die Ergebnisse scheinen — im Einklang mit dem Obererwähnten — vornehmlich für die Zeit nach der Mitte des 16. Jahrhunderts von ausschlaggebender Bedeutung zu sein. Die Forschung stützte sich unter anderem auf eine (in der bisherigen tschechischen Geschichtsschreibung einzig dastehende) systematische paläographische Analyse von 407 erhalten gebliebenen Stadtbüchern, die im Brünner Stadtarchiv aufbewahrt werden, sowie von ca 1000 Urkunden, Briefen und anderen Einzelstücken, die ebenda im Rahmen der sogenannten Sammlung der Urkunden, Mandate und Briefe und im Fonds mit dem Namen Überreste der Registraturen zu finden sind (bei den letztgenannten Schriftstücken handelte es sich vor allem um das Verfolgen der Konzepte und der nicht expedierten Reinschriften sowie der Kanzleibemerkungen auf der Rückseite der aufgenommenen Originale).
Auf Grund der erwählten Methode gelangten wir zur tieferen Erkenntnis der vielfältigen Skala der vor der Stadt für den inneren Gebrauch sowie “pro foro externo” produzierten Schriftstücke und zur zuverlässigen Bestimmung des Anteils verschiedener Personen an ihrer Entstehung. Die paläographische Analyse ermöglichte es, nicht nur die Gesamtzahl der im Verlaufe der ganzen besprochenen Zeit sowie der einzelnen Zeitabschnitte als Stadtschreiber wirkenden Personen zu erkennen, sondern sogar auch zur unbestreitbaren Identifikation mancher in den Schriftstücken vorkommenden Scheiberhände zu gelangen. So entdecken wir schließlich die Organisationsstruktur [p. 470] der Brünner Stadtkanzlei, deren Tätigkeit in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berge bisher nicht wissenschaftlich verfolgt wurde13.
Von besonderer Bedeutung ist die Entdeckung der für das städtische Milieu bisher völlig unbekannten Tatsache, daß die innere Wirtschaftsverwaltungsagenda spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts von den genügend ausgebildeten und im nahen Dienstverhältnis zu der Stadt stehenden, jedoch in der Stadtkanzlei keinesfalls tätigen Personen versehen wurde. Die fragmentarisch erhaltenen Rechnungsbücher ermöglichen es leider nicht, die Verhältnisse in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eingehend zu erkennen (die ältesten Ratsrechnungen sowie die parallel erscheinenden Kammermeisterrechnungen entstanden zwar bereis in der Mitte der zweiten Jahrzehntes des 16. Jahrhunderts, ihre Rubriken sind jedoch nicht mit der erforderlichen Regelmäßigkeit geführt, die es möglich machte, die Kompetenzen der einzelnen an der Agenda beteiligten Personen zu unterschieden). Demgegenüber die Untersuchung der beiden seit den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts vollständig erhalten gebliebenen Reihen von Finanzbüchern erwies eindeutig die Entstehung eines (wenigstens zu dieser Zeit wirkenden) Zentralfinanzamtes, das auf der Personalebene von der Stadtkanzlei abgesondert war (gegen Ende der 70er Jahren des 16. Jahrhunderts begann der betreffende Beamte Buchhalter genannt zu werden)14. Diese Amt — die Zentralbuchhalterei — war der Stadtkammer übergeordnet15. Es beaufsichtigte die ganze Stadtwirtschaft, [p. 471] deren einzelne Betriebe und Vorrichtungen (mit Hilfe von niederen Ämtern und Unterämtern)16, ferner die Einhebung der Steuern und der königlichen Gebühren17 sowie die obrigkeitliche Wirtschaftführung der Stadt auf dem Lande18.
Einstweilen lassen wir die Frage beiseite, unter welchen Bedingungen man in der Buchhalterei angestellt werden konnte. Vorzugsweise konzentrieren wir uns jetzt auf die Klassifikation der Gattungen und Typen derjenigen Schriftstücke, welche die kontinuierliche Wirkung der Stadtverwaltungs- und Gerichtsorgane sowie die Kommunikation der Stadt mit anderen juristischen Subjekten sicherstellten, soll es sich um Schriftstücke vorübergehender oder dauerhafter Gültigkeit gehandelt haben. Als höchste diplomatische Kategorie werden die Urkunden angesehen, die entweder zugunsten der Stadt in ihrer Ganzheit (die gütterrechtlichen Verträge, die Steuerbekentnisse) oder zugunsten der einzelnen Einwohner (die Geburts-, Unbescholtenheits- und Entlassungsscheine, die Pässe) ausgestellt wurden. Diese Schriftstücke besonderer Wichtigkeit für ihre Empfänger sind offensichtlich in den Archiven der [p. 472] Adressaten zu suchen19, wobei wir von ihnen in den Quellen des Brünner Stadtarchivs nur dann benachrichtigt werden, wenn Sie ursprünglich in doppelter (beziehungsweise mehrfacher) Ausfertigung erschienen und ein Exemplar der Aussteller behielt oder wenn ihre Abschriften in den Registerbüchern der alltäglichen Korrespondenz20, der Steuerbekenntnisse21 oder in den speziellen Registerbüchern der in verschiedenen Rechtsangelegenheiten ausgestellten Schriftstücke (unter den letztgenannten Schriftstücken wurden diejenigen, welche die Stadt zum Schutze ihrer Wirtschaftsvorrechte gegen die Ansprüche der höheren Stände brauchte22, von jenen, die Brünn als obere Justitzstelle ausfertigte23, unterschieden) erhalten blieben. Während man bei den güterrechtlichen Verträgen, die meistens in einem größeren Zeitabstand ausgestellt wurden, aus leicht begreiflichen Gründen nicht feststellen kann, wie sich an ihrer Ausfertigung die Stadtkanzlei und de Kanzlei des “Partners” beteiligten, läßt sich bei den übrigen Urkundentypen ihre Provenienz ganz zuverlässig bestimmen. Von dem Gesichtspunkt der Diplomatik aus betrachtet, konnten wir vor allem die zahlreichen Urkunden, welche die Stadt in den Privatrechtsangelegenheiten ausgestelt hatte, analysieren. Es handelte sich jedoch vorwiegend um die Analyse der stilistischen Seite dieser Schriftstücke, weil im Archiv des Ausstellers nur ihre Abschriften aufbewahrt werden. Die üblichen Urkunden wurden nachweisbar nach den Formelbüchern (die leider nicht erhalten sind) verfaßt. Zum Beispiel bei den Geburts- und Unbescholtenheitsscheinen [p. 473] sind vier Hauptvarianten des Formulars zu unterscheiden24. Ein einfaches, in den allgemeinen Teilen stereotypes Formular, das sich zweifellos an eine Vorlage anlehnte, weisen unter anderem die Steuerbekenntnisbriefe auf25.
Während wir es nicht wichtig finden, uns mit den üblichen Schriftstücken vorübergehender Gültigkeit (unter welche die in den Registerbüchern erhalten gebliebenen Abschriften von gebräuchlichen Briefen — den Schreiben oder Missiven — für die verschiedensten Empfänger einzureihen sind)26 vom Gesichtspunkt der Diplomatik aus näher zu beschäftigen, halten wir es für notwendig, der fortschreitenden Entstehung einer anderen neuzeitlichen diplomatischen Kategorie besonderer Wichtigkeit, nämlich der Aktenstücke, unsere Aufmerksamkeit zu widmen. Das allmähliche Anwaschen dieses Materials ist vor allem im Zusammenhang mit der Wirksamkeit des Brünner Stadtgerichts als oberer Justitzstelle zu verfolgen. Die Gültigkeit dieser Behauptung kann man zwar bereits für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts berechtigt veraussetzen27, beweisbar ist sie jedoch erst für die Wende des 16. und 17. Jahrhunderts, wo es möglich ist, die erhaltenen von den subalternen Ortschaften ausgestellten Reinschriften der Rechtsbelehrungsgesuche mit den Antworten der Stadt (den Urteilen, Zwischenurteilen und Rechtsratschlägen), die zu ein paar Dutzenden, also in einer ziemlich großen Zahl, bereits seit dem Jahre 1547 als Konzepte oder nicht expedierte Reinschriften erhalten geblieben sind, zu vergleichen. Manche Antworten der Stadt sind auch in den speziellen Registerbüchern der Rechtsbelehrungen, beziehungsweise in den [p. 474] allgemeinen Registerbüchern zu finden28. Von den unkonsequenten Bestrebungen der Brünner Stadtkanzlei (beziehungsweise der Stadtregistratur), die mit den angedeuteten Angelegenheiten zusammenhängenden Schriftstücke von denen, die sich auf andere Sachen bezogen, zu unterscheiden, zeugen die Kanzleibemerkungen auf den erhaltenen Briefen29.
Die Entstehung der Aktenstücke ist jedoch auch im Rahmen der mit anderen Angelegenheiten verbundenen Agenda verfolgbar, insbesondere dort, wo das Stadtgericht die Rechtmäßigkeit verschiedener Besitzübertragungen (der Liegenschaftsankäufe und -verkäufe, der Verpfändungen, der Darlehen usw.) unter den Ortsbevölkerung, auf die sich die Brünner Gerichtsbarkeit bezog, garantierte. Auf den betreffenden Schriftstücken (den Quittungen, den Schuldverschreibungen, den Belegen der jährlichen Schuldabzahlungen, den Verzeichnissen der Erbschaftsforderungen usw.), die wahrscheinlich wenigstens für eine gewisse Zeit in einem Exemplar in der Stadtregistratur aufbewahrt wurden, finden wir manchmal auch die unregelmäßig vorkommenden dorsalen Bemerkungen, die darauf hinweisen, daß die erwähnten außerstrittigen Angelegenheiten als eigenartiger Bestandteil der Stadtverwaltungs- und Stadtgerichtsagenda angesehen wurden.
Ebenso sah es auch dann aus, falls die führenden Stadtorgane zum Beispiel an der Durchführung der als Unterlage für die Besteuerung dienenden Schätzungen der Weingärten direkt interessiert waren, oder falls sie über die Entlassung der Stadtbewohner oder der zur Brünner landtäflichen Herrschaft zugehörigen Untertanen aus der Stadtvorherrschaft entschieden. Während man bei den Schätzungen der Weingärten wenigstens in einigen Fällen den ursächlichen Zusammenhang der die Schätzungsgesuche beinhaltenden Korrespondenz mit den dorsalen Bemerkungen auf den Reinschriften der Schätzungsprotokolle, die dem Empfänger (einer Stadt oder einem Einzelnen) der Weinbergmeister (perkmistr) absandte, beziehungsweise auch mit den zusammenfassenden Eintragungen in den Stadtsteuerbüchern (Losungsbüchern) finden kann, die Entstehung der die Entlassung aus der Stadvorherrschaft betreffenden Schriftstücke wird nur indirekt mittels Umschriften der Entlassungsgesuche, beziehungsweise der eigentlichen Entlassungsscheine in den obererwähnten Registerbüchern dokumentiert.
Durch die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts regelmäßiger vorkommenden und systematischer ausgefertigten dorsalen Bemerkungen auf denjenigen [p. 475] Schriftstücken, welche in der Stadtregistratur aufbewahrt wurden30, werden die Bestrebungen der Stadt um eine bessere Übersichtlichkeit ihrer Gerichts- (sowohl der strittigen als auch der außerstrittigen) und Verwaltungsagenda ganz zuverlässig nachgewiesen. Die erhalten gebliebenen Registerbücher jener von der Stadt ausgestellten Schriftstücke (der Briefe und der Urkunden), deren Ausfertigung offensichtlich dem Empfang anderer Schriftstücke folgte, zeugen von ihrer verhältnismäßig beträchtlichen Produktion (250-300 Einzelstücke pro Jahr)31. Von den an die Stadt in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berge adressierten Schriftstücken sind jedoch bis auf den heutigen Tag nur höchstens 20 Stücke aus einem geläufigen Jahr erhalten geblieben. Die angedeutete Relation zeigt den Umfang der Verluste, beziehungsweise der bewußten Skartierungen der Schriftstücke vorübergehender Gültigkeit, wobei sie sich ebenfalls auf die obererwähnte Korrespondenz, die mit den Rechtsbelehrungen und -beratungen des Brünner Stadtgerichts als oberer Justitzstelle zusammenhängt, bezieht32.
Die umfangreichste erhaltene Quellengrundlage städtischer Provenienz stellen die Stadtbücher dar33. Was die Bücher der Stadtgesetzgebung betrifft, stehen für die Zeit vor der Schlacht am Weißen Berge die Bücher der Privilegienabschriften34 und drei gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstandene Übersetzungen des berühmten Brünner Rechtsbuchs, die bereits wissenschaftlich behandelt wurden, zur Verfügung35. Auch dem sogenannten Manipulus, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstanden war (Manipulus seu directorium iuris civilis ist eine nach der Mitte der 70er Jahren des 14. Jahrhunderts angefertigte kürzer gefaßte Sammlung der Brünner Schöffen-sprüche), widmeten die Historiker vor nicht langer Zeit ihre Aufmerksamkeit36. Während die ersten drei der erwähnten Bücher der Privilegienabschriften älter sind37, für die Entstehung der im 16. und 17. Jahrhunderts verfaßten sechs jüngeren war nicht das Rechts- sondern das Evidenzbedürfnis ausschlaggebend38 ; deswegen werden die letztgenannten im vorbereiteten [p. 476] Katalog der Brünner Stadtbücher nicht stricto sensu als Bestandteile der Gruppe von Büchern der Stadtgesetzgebung, sondern der Gruppe von Büchern der Stadtverwaltung im engeren Sinne betrachtet. Unter die normativen Bücher werden auch die sogenannten “Brünner Stadtrechte” aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, welche die Rechtsbelehrungen des Brünner Gerichts für die Stadt Uherské Hradistě/Ungarisch Hradisch beinhalten39, und die Instruktionen für die Mauteinnehmer40 eingereiht.
Was die Bücher der Stadtwirtschaft (inklusive einzelner Betriebe und Vorrichtungen) betrifft, steht vor allem eine Menge Rechnungsbücher zur Verfügung, die sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in zwei fast komplett erhalten gebliebene Hauptreihen, nämlich die Rats-41 und Kammermeisterrechnungen42, gliederten. Eine ausgeprägte Untergruppe stellen hier die ebenfalls beinahe vollständig erhaltenen Benefitziatamtsrechnungen dar43, in denen die Geldeinnahmen für die einzelnen Altäre in der Pfarrkirche sowie die gewährten Darlehen von dieser Einnahmsquelle in Evidenz gehalten und verrechnet wurden44. Was die verschiedenen Rechnungsbüchertypen betrifft, die zur endgültigen amtsjährlichen Abrechnung vorgelegt wurden, haben wir an zahlreichen konkreten Beispielen das auf Teilrechnungen und anderen Unterlagen (die in damaliger Terminologie “auszug”, “rabusch”, “spanzettl” oder “gegenzettl” genannt wurden ; die Teilrechnungen hat man mit dem häufig vorkommenden Ausdruck “haderbüchlein” bezeichnet) beruhende Verfassen dieser Handschriften nachgewiesen.
Vom Gesichtspunkt der Diplomatik aus betrachtet, kann man von der sogenannten Endform bezüglich aller Rechnungsbücher, respektive Register außer den Ratsrechnungen, die als durchlaufend (also nicht einmalig auf Grund der zu einem gewissen Termin versammelten Unterlagen) verfaßte Reinschriften entstanden, sprechen. Dementsprechend wurden ursprünglich von allen Rechnungsbüchertypen einzig und allein die Ratsrechnungen Manuale genannt (“manual zum buchhalten”).
[p. 477] Von den Büchern der Stadtwirtschaft analysierten wir überdies drei Brünner Stadtsteuerbücher45, in denen (in jedem Buch für eine Zeitspanne von ca 40 Jahren) die Schätzungen der dem Bürgerrecht zugehörigen Besitztümer (in der Reihenfolge von den Häusern, über die Weingärten, die Fleisch- und Brotbänke, die Mälzereien, zu den vorstädtischen Objekten inklusive Gärten und vereinzelt eingetragener Höfe und Behälter) sowie die besteuerten Gewerbe (die Handwerke ‘de artificio’, das Handeltreiben ‘de negotio’46 verzeichnet worden waren. Da sich die Grundbesitzverhältnisse häufig änderten, kommen in den erwähnten Verzeichnissen viele Beischriften, Randbemerkungen und Korrekturen vor, die jedoch nicht immer die zeitgemäßen Ergebnisse aller auf Grund des Stadtgerichtsverfahrens in die Stadtrichterbücher eingetragenen Besitzübertragungen widerspiegeln. Aus dem Zeitabschnitt von 1537 bis 1567 sind außerdem acht Steuereinnahmeregister erhalten geblieben, in denen zum Unterschied von den Steuerbüchern auch die Mietsleute verzeichnet wurden.
Von den Büchern der sogenannten engeren Stadtverwaltung sind für die Zeit vor der Schlacht am Weißen Berge die bereits erwähnten 13 allgemeinen Registerbücher der Urkunden und Briefe47 sowie das spezielle Registerbuch für die Weinrechtssachen aus den Jahren 1576-1615 im Betracht zu nehmen48. Diese weisen ebenfalls die diplomatische Endform auf, denn die in ihnen enthaltenen Umschriften mehrerer Unterlagen wurden auf einmal in gefälliger Schrift angefertigt (öfters wurde die Zeitfolge der Schriftstücke verletzt, manchmal sind in einer kontinuierlich ausgefertigten Eintragung zwei Handschriften verschiedener Schreiber zu unterscheiden). Für die Umschriften der Briefe wurden als Unterlagen vermutlich die Konzepte benutzt, für die der Urkunden wahrscheinlich die Reinschriften.
Das Gebiet der Stadtverwaltung im engeren Sinne vertreten außer dem obenangeführten Material nur noch drei Stadtbücher, und zwar das einzige [p. 478] Buch des Stadtratserneuerungen aus den Jahren 1591-159949, das selbständige Buch der Aufnahmen unter die Stadtbürger aus den Jahren 1559-161950 und das Buch der Stadtratsbeschlüsse (“bescheidbuch”). Weil das letzgenannte Buch die Streitfälle aus dem ein Hundert Jahre überschreitenden Zeitraum von 1540 bis 1660 umfaßt51, ist die Tatsache offenkundig, daß es nur die wichtigeren, verschiedene Zivilrechts- und Strafsachen betreffenden Beschlüsse der Ratsherren beinhaltet52.
Die Gewalt über die Rechtsprechung hatten in der besprochenen Zeit ausschließlich die Ratsherren. Die Rolle des Stadtrichters, der diesem Kollektivorgan untergeordnet war, bestand nur im Vorsitz der täglichen sowie der (anhängigen, beziehungsweise außerordentlichen) Jahresgerichte und im Vollzug der Urteile. Während die anhängigen Gerichte (‘iudicium peremptorium, iudicium bannitum’), die in Brünn ungewohnt bis tief in die Neuzeit überdauerten, nur ausnahmsweise mehrmals in einem Jahr stattfanden, entscheidend für die Gewährleistung der kontinuierlichen Rechtsordnung waren die sogenannten Stadtrichtergerichte, die im Bedarfsfalle alltäglich tagten. Von den anhängingen Gerichten sind aus dem 16. Jahrhundert nur fragmentarisch die sogenannten Gerichtsbücher erhalten geblieben53, die zum Unterschied von den im Rahmen der Agenda der täglichen Gerichte entstandenen Stadtrichterbüchern das ganze Prozeßverfahren (die Anklagen, die Einreden, die Zeugenaussagen usw.) umfassen. Demgegenüber die Stadtrichterbücher, die für jedes Amtsjahr neu angelegt wurden, sind in einer merkwürdig ununterbrochenen Reihe seit dem Jahre 1542 erhalten geblieben54. Ebenso wie die Gerichtsbücher beinhalten Sie die dem (sowohl strittigen als auch außerstrittigen) Zivil- sowie Strafrecht gehörigen Streitfälle. Es handelt sich jedoch um keine während des Gerichtsverfahrens aufgenommenen Protokolle, sondern um definitive, auf Grund der Unterlagen verfaßte Handschriften. Die Unterlagen (flüchtige Notizen vom Gerichtsverfahren, Bemerkungen über die Geschäftsbedingungen, beziehungsweise über die jährlichen Abzahlungen usw.) wurden übrigens in diese Bücher manchmal hineingelegt. Da in den Stadtrichterbüchern lange ein selbständiges Kapitel für die Transaktionen mit den dem Bürgerrecht zugehörigen Häusern geführt wurde (‘emptio et venditio domorum’), entstanden in Brünn abgesonderte Bücher für diese Agenda erst im [p. 479] vorgerückten 17. Jahrhunderte55. Ähnlich gegliederte Bücher produzierten auch die Stadtrichtergerichte der Brünner Vorstädte, von deren Agenda für die besprochene Zeit sechs Bücher geblieben sind56.
Ebenfalls das einzige Bürgschaftsbuch aus den Jahren 1513-157457 betrifft mehrere Rechtsgebiete : Es umfaßt sowohl die mit den Angelegenheiten der Stadtbewohner zusammenhängenden Bürgschaften, als auch diejenigen, welche in betreff der Einwohner der Brünner landtäflichen Herrschaft geleistet wurden. Außer den Bürgschaften für die Waisenerziehung, für die Einhaltung der Verpflichtungen (unter anderem auch in den Zunftangelegenheiten), wurden hier auch die Bürgen in den Strafrechtssachen (meistenteils handelte es sich um verschiedene Insulationen) erwähnt. Überdies beinhaltet das Buch einige Stadtratsstatuten sowie manche Diensteide. Auch diese Handschrift ist vom Gesichtspunkt der Diplomatik aus als definitiv anzusehen, denn hier kommen nicht nur die mit einer Hand und gleichfarbiger Tinte geschriebenen zu mehreren Terminen gehörigen Eintragungen (öfters mit verletzter Zeitfolge) vor, sondern auch die hineingelegten Schrftstücke, die als Unterlagen für die endgültigen Formulierungen dienten (nicht datierte Notierungen der Zeugenaussagen).
Was die außerstrittige Stadtgerichtsagenda betrifft, aus der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berge sind drei Bücher der Testamente von Brünner Bürgern und Stadtbewohnern erhalten58. Als Unterlagen für die Eintragungen dienten hier die originellen Testamente, eventuell die Aussagen der bei der mündlichen letzwilligen Verfügung des Sterbenden anwesenden Zeugen. In die Bücher wurden diese Verfügungen nicht nach ihrem Ausstellungstage umgeschrieben, sodern nach dem Datum ihrer Erörterung vor dem Stadtrat (zu den Eintragungen wurden dann die Bestätigungsformeln, wie zum Beispiel ‘ratificatum et confirmatum’, ‘approbatum et confirmatum’, ‘ratificatum’, ‘confirmatum’, hinzugefügt). Mit der Testamentspraxis hängen die durch den Brünner Stadtrat innerhalb der Stadt sowie auf ihrer landtäflichen Herrschaft gewährleistete Pflege des Waisenbesitzes und die Verlassenschaftsinventarisierungen eng zusammen. Selbständige Bücher der Brünner Verlassenschaftsinventare sind jedoch nicht erhalten geblieben (wahrscheinlich wurden sie in Brünn nie geführt) ; nur selten kommen die vereinzelt erhaltenen Reinschriften [p. 480] der Verlassenschaftsinventare in der Urkundensammlung vor59. Ganz allgemeine Verzeichnisse der beweglichen und umbeweglichen Güter der Testatoren beinhaltet das sogenannte Waisenbuch, das für die Zeitspanne von 1517 bis 1569 auch die Eintragungen betreffs der Waisenbesitzübertragungen inklusive Waisengelddarlehen für den Stadt-, sowie Privatgebrauch umfaßt60.
Richten wir nun endlich unsere Aufmerksamkeit auf die Personen, die an der Entstehung der Schriftstücke städtischer Provenienz beteiligt waren, soll es sich um die Ebene der Konzepte oder die der Reinschriften gehandelt haben. Wie oben bereits vorerwähnt, unsere Erkentnisse auf diesem Gebiete wurden besonders durch die Ergebnisse der paläographischen Analyse vermehrt, die es ermöglichte, nicht nur die Gesamtzahl der im Verlaufe der ganzen besprochenen Zeit sowie der einzelnen Zeitabschnitte als Stadtschreiber wirkenden Personen zu erkennen, sondern sogar auch zur unbestreitbaren Identifikation mancher in den Schriftstücken vorkommenden Schreiberhände zu gelangen. Die mit den bisher ungenannten Schreibern neu identifizierten Personen waren überraschend nicht “offiziell” als Stadtschreiber angestellt, sondern sie gehörten zu den Ratsherrenkollegium. Die Vermutung, daß selbst die Ratsherren an dem Verfassen verschiedener Schriftstücke städtischer Provenienz beteiligt sein konnten, erschien zwar bereits in der bisherigen tschechischen Geschichtsschreibung, bis jetzt blieb sie jedoch keinerseits nachgewiesen. Mittels paläographischer Analyse entdeckten wir auch die Beteiligung der sonst unbekannten und unerkennbaren Personen : die Wirksamkeit jener Stadtschreiber, deren Namen und Profession in den Quellen explizite erwähnt sind, konnten wir auf Grund dieser Methode von dem Gesichtspunkt der Qualität sowie der Zeit aus allseitig erfassen.
Für die etwa hundert Jahre von der Schlacht am Weißen Berge haben wir 314 eigenartige Schreiberhände festgestellt, von denen allerdings nur ungefähr ein Zehntel den sozusagen “offiziellen” Stadtschreibern — den 11 Stadtschreibern (verfolgbar für die Jahren 1520-1619), den 3 Unterschreibern (1570-1614), den 5 Kanzelisten61 und den 12 Stadtgerichtsschreibern [p. 481] (1542-1619)62 — gehörte. Ein charakteristischer Schreiberausdruck ist bei den anderen 86 Stadtschreibern bemerkbar, die wir in mehr als einem Stadtbuch oder einem anderen Schriftstück fanden, was man zweifellos als Beweis einer nich nur zufälligen Amtswirkung der betreffenden Personen in Diensten der Stadt betrachten darf63. Für einen besonderen Beitrag halten wir die Tatsache, daß es uns gelang, etwa ein Viertel von denen mit konkreten Personen zu identifizieren sowie ihre Biographien aufzusetzen64. Während sich die bisherige Literatur mit der aus der umfangreichen Agenda der Stadtkanzlei deduzierten Behauptung, daß dort auch viele sogenannte Gelegenheits- oder Hilfsschreiber hätten arbeiten müssen, zufriedengab, die erwähnte Methode ermöglichte es, diese unbestätigten Annahmen durch die Feststellung, daß es unter den 21 ihrem Namen nach identifizierten Personen nachweisbar 17 Ratsherren gab, zu korrigieren. Bei 16 von ihnen gaben sich in den verschiedenen Rechnungsregistern eigenartige Handschriften kund65, diese Personen waren also keine Angestellten der Stadtkanzlei, sondern als “beeidete” Teilnehmer an der Stadtverwaltung leisteten Sie die Finanzagenda der Stadtbuchhalterei von dem Verfassen der Teilrechnungen betreffs einzelner Stadtbetriebe und -vorrichtungen bis zur Führung der Hauptbücher [p. 482] (respektive Register) gewähr66. Sind die Ergebnisse der paläographischen Analyse auf diesem Gebiete so beredt sowie nachweislich, bedeutet es allerdings nicht, daß die Ratsherren ihre Rechtserudition und Tauglichkeit zur Konzeptarbeit67 auf dem Gebiete des Gerichtswesens, vor allem beim Protokollieren der Jahresgerichtsverhandlungen, nicht betätigen konnten (dies Tätigkeit stellen wir ganz zuverlässig bei einem der dem Namen nach identifizierten Ratsherren fest). Es wäre bestimmt widersinnig, wenn die für die Stadtverwaltung persönlich verantwortlichen, in Eid und Pflicht genommenen Menschen einen gewissen Teil ihrer Agenda, handelte es sich nur um eine Umschreibung, den lediglich “gelegentlich” angestellten Schreibern anvertrauten68. Erwähnen wir die Tatsache, daß die Ratsherren für ihre Amtswirkung im Stadtrate sowie beim Stadtgericht nicht nur materiell, sondern auch professionell ausgestattet waren, man kann analogisch voraussetzen, daß auch die übrigen 65 Schreiberhände, die wir für die untersuchte Zeit in mehr als einem Schriftstück feststellen, wobei es sich sicher nich um die Hände der Stadtschreiber ‘ex officio’ handelt, den in naher Beziehung zu den Stadtverwaltungsorganen stehenden Personen, höchstwahrscheinlich direkt den führenden Repräsentanten der Stadt, gehört [p. 483] hatten. Dementsprechend kann man bloß einen Teil aller festgestellten Schreiberhände — einschließlich der vereinzelt vorkommenden 19769 — als Hände der wirklichen Hilfsschreiber betrachten, die in den Quellen nur selten (als den höheren Beamten “zur Verfügung” stehende Vertreter der niedrigsten Schicht des Kanzleipersonals) erwähnt sind (unter den Bezeichnungen “junge”, “knab”, “schreibersknab”, “schreiber”, eventuell “kanzleischreiber”)70. Die Annahme, daß die meisten eigenartigen Schreiberhände eher direkt den Stadtherren gehört hatten, wird sowohl unmittelbar durch das Vorerwähnte, als auch indirekt durch die Tatsache unterstützt, daß es für die Zeit vor den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts keineswegs möglich war, die Besetzung der Brünner Stadträte zu rekonstruieren71. Die Ratsherren waren jedoch offensichtlich nicht befugt, einzelne Schriftstücke im Namen der Stadt auszustellen.
Verweilen wir jetzt noch bei der Nomenklatur und beim Arbeitsgang der eigenen Stadtkanzleischreiber. Die höchste Stelle in der Hierarchie der Kanzleibeamten nahm der Stadtratsschreiber ein, der seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als “stadtschreiber” bezeichnet wurde. Die bis dahin alternativ benützten Benennungen “notarius” und “actuarius” drücken treffender seine ursprüngliche “Monopolstellung” aus, nämlich die gleichwertigen Kompetenzen auf den Gebieten des Verwaltungs- und Gerichtsschreiberdienstes. Seit dem Beginn der 50er Jahren des 16. Jahrhunderts zweigten sich für die Sphäre der Gerichtsscheiberarbeit die selbständigen, spezialisierten “gerichtsschreiber” ab, die vorzugsweise die Agenda der sogenannten täglichen Gerichte besorgten, wobei sie auch die bei diesen Gerichten entstehenden Stadtrichterbücher konzipierten. In diejenigen Bücher, welche bei den Jahresgerichten geführt wurden, trugen diese Schreiber nur ausnahmsweise ein72. Unserer Meinung nach ist die Feststellung zu betonen, daß es überhaupt keinen Übergriff der Kompetenzen der Stadtgerichtsschreiber in die Verwaltungsebene gab.
[p. 484] Wenn wir auch bei einigen Stadtratsschreiber nachwiesen, daß Sie selbst an der eigenen Kanzleiarbeit (auch als Ingrossatoren) teilgenommen hatten, vorzugsweise waren sie mit der sozusagen diplomatischen Vertretung ihres Arbeitsgebers — der Stadt als juristischer Person — beschäftigt worden. Diese wichtige Rolle spielten sie ununterbrochen, wenn auch während der ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts die Bezeichnung ihrer Profession anscheinend den bisherigen Glanz verlor ; sie wurden dann “kanzleischreiber” genannt obwohl so in der vorigen Zeit die gewöhnlichen Kanzleihilfskräfte bezeichnet wurden73.
Das Auswahl der zur Ausübung der Funktion des Stadtkanzleichefs tauglichen Personen schenkten die Brünner ihre besondere Aufmerksamkeit, wobei sie sich keinesfalls nur auf die Adepten aus der nahen Umgebung Brünns, beziehungsweise aus dem eigenen Rechtskreis beschränkten, sondern, zweifellos auf Grund der Referenzen, sie nahmen unter Umständen auch die Bewerber aus den fernliegenden Ortschaften Mährens, Böhmens oder Schlesiens auf74. Die verlangte professionelle Tüchtigkeit der Stadtschreiber wurde einerseits unter den damaligen Verhältnissen sehr gut belohnt75, anderseits erfreuten sich die vorderen Stadtschreiber eines hohen gesellschaftlichen Prestiges76.
Die Funktion des zweiten Stadtratsscheibers, der anfangs “subscriba” und erst später “unterschreiber” genannt wurde, kommt gelegentlich im Zusammenhang mit der Aufhebung der Steuer bereits in den Quellen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor, den festen Fuß in die Hierarchie der Stadtkanzleibeamten faßte sie jedoch erst während der 70er Jahren des 16. Jahrhunderts. Der Unterscheiber war die wirkliche rechte Hand seines Vorgesetzten, weil er an der eigenen Kanzleiarbeit hervorragend beteiligt war. Die eigenartigen Handschriften der Unterschreiber kommen sowohl in allen Stadtbüchertypen, als auch in den Registrierungsbemerkungen vor. Auch die Unterschreiber wirkten jedoch ad hoc als diplomatische Vertreter der Stadt in verschiedenen Angelegenheiten, beziehungsweise vertraten sie die Stadt oder die einzelnen Stadtbürger als Rechtsanwälte. Trotzdem sie ausnahmlos nicht [p. 485] aus Brünn gebürtig waren, errangen sie gewöhlich in der Stadtgemeinde rasch eine ausgezeichnete Stellung und Anerkennung, die bei einem ausgedienten Unterschreiber von seiner Aufnahme als Mitglied des Ratsherrenkollegiums gekrönt wurde77. Die Höhe ihres Lohns entsprach jedoch nur circa einer Hälfte der finanziellen Belohnung der führenden Stadtratsschreibers78.
Man kann sagen, daß die Gestaltung der Hierarchie und die Abgrenzung der Kompetenzen unter den “offiziellen” Stadtschreibern, nachdem sich vom Wirkungsbereich des Stadtgerichtsschreibers für einen speziellen Teil der außerstrittigen Agenda die selbständige Funktion des “waisenschreibers” abgezweigt hatte, für die Zeit vor der Schlacht am Weißen Berge zu Ende geführt wurden.
Bei vollzähliger Besetzung der Brünner Stadtkanzlei, deren Gefüge seit den 70er Jahren des 16. Jahrhundert verläßlicher verfolgbar ist, arbeiteten hier für ein fixes Jahresgehalt der Stadtschreiber, der Unterschreiber, der Gerichts- und der Waisenschreiber, beziehungsweise auch ein oder zwei Hilfsschreiber. Das Gros der wirtschaftlichen Angelegenheiten, die meistens durch die Stadtbuchhalterei als entsprechende höchste Instanz liefen, besorgten jedoch — einschließlich des Schreibens — meistens die einzelnen Ratsherren, der spezialisierte (gleichfalls von der Stadt bezahlte) Bierschreiber und auf der niederen Ebene auch die beeideten, zu der Stadtgemeinde gehörigen Personen (unter denen auch die gelegentlich angestellten Schreiber in der Stadttoren, ferner die Maut- und Waageschreiber sowie diejenigen, welche im Gebäude, das traditionsgemäß “Münzhof” genannt wurde, wirkten). In einem lockeren Verhältnis mit der Stadtkanzlei standen andere spezialisierte Schreiber, wie der vom Stiftungsfonds der Pfarrkirche belohnte Benefiziatsschreiber, dem wahrscheinlich die festgestellten Schreiber bei der Brünner Pfarrkirche untergeordnet waren. Reihen wir diese meistens anonymen Menschen ein, so erhöht sich die Anzahl der an der Führung der Stadtbücher, an der Ausstellung der anderen Schriftstücke städtischer Provenienz sowie an den Ordnerarbeiten in der Registratur beteiligten Personen offensichtlich mindestens um 10 für jedes Amtsjahr. Die mit der Stadtverwaltung sowie mit der Ausübung der Gerichtsbarkeit im weitesten Sinne zusammenhängende Schreiberagenda leisteten [p. 486] also in Brünn als Stadt, die eine hervorragende Stellung in Mähren innehatte, in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berge gleichzeitig 15-20 Personen gewähr, die teils direkt mit der Stadtkanzlei verbunden waren, teils zu ihr in einer lockeren Beziehung standen, jedenfalls in Eid und Pflicht genommene Menschen, die für vertrauenswürdig gehalten wurden79.
Die vorliegenden Feststellungen kann man bisher leider nicht mit den Ergebnissen einer methodisch gleich aufgefaßten Analyse der Personalbesetzung und Tätigkeit der Brünner Stadtkanzlei im Mittelalter vergleichen80. Für einzelne Zeitabschnitte sind uns zwar die Namen mancher einen charakteristischen Schreiberausdruck aufweisenden Stadtnotare sowie macher Verfasser der Rechts- und Verwaltungsbücher städtischer Provenienz bekannt, die Tatsache, daß die mittelalterlichen Quellen nur fragmentarisch erhalten geblieben sind, verhindert jedoch den erwünschten Gesamtüberblick81. Ebenso ist es heutzutage nicht möglich, die Ergebnisse unserer Forschung mit den Ergebnisse methodisch gleich aufgefaßter Erforschungen der Organisationsstruktur und Produktion in anderen damaligen Kanzleien derjenigen böhmischen82 und mährischen Städte, deren sozialökonomisches Potential als komparabel zu betrachten ist, also in erster Reihe der Brünn konkurrierenden königlichen Stadt Olmütz83, zu vergleichen.
Wir hoffen jedenfalls, daß unsere Arbeit die Verwendbarkeit und Nützlichkeit der klassischen Methode der Diplomatik des Mittelalters auch für die jüngere Zeit erwies, und zwar nicht nur bezüglich der Urkunden, sondern, natürlich in naher Wechselbeziehung mit der Verwaltungsgeschichte, auch betreffs [p. 487] weiterer frühneuzeitlicher Kanzleiprodukte, vor allem der Stadtbücher, beziehungsweise auch des Aktenmaterials, insbesondere gerichtlichen Charakters. Die Gesamtanalyse, die sich nicht nur mit der inhaltlichen Seite dieser Schriftstücke zufriedengibt, sondern die auch versucht, den Urheber ihrer Entstehung im Kontext der damaligen gesellschaftspolitischen und ökonomischen Gegebenheiten zu entdecken, kann uns zweifellos einerseits zur Enweiterung unseres Wissens von der fortschreitenden Bürokratisierung der Verwaltung84, anderseits zur Vertiefung unserer Kenntnisse von dem komplizierten Gefüge des Lebenslaufs der Stadtbewohner in unserer neueren sowie weitentfernten Geschichte behilflich sein.