[p. 37] Derzeitige Lage und künftige Aufgaben der Diplomatik
Der ehrenvolle Auftrag, den mir das „Bureau‟ der „Commission internationale de diplomatique‟ erteilte, auf dem diesjährigen VI. internationalen Kongreß der Kommission in München gemeinsam mit Präsident Bautier ein Grundsatzreferat über „Derzeitige Lage und künftige Aufgaben der Diplomatik‟ zu halten, hat zwiespältige Gefühle in mir ausgelöst: mit dem Gefühl der Dankbarkeit für das entgegengebrachte Vertrauen verband sich sogleich die Besorgnis, ob meine notwendig knappen Darlegungen zu einem Thema, das vorzüglich für ein mehrtägiges Kolloquium geeignet wäre, die Akzente nicht vielleicht zu einseitig setzen und so statt einer wohlausgewogenen Übersicht womöglich ein Zerrbild vermitteln würden. Ich bin mir dieses Dilemmas stets bewußt geblieben und bitte daher, meine Ausführungen nicht als eine „deliberatio ex cathedra‟, sondern als einen Diskussionsbeitrag aufzufassen, der gewiß noch der Ergänzung und Vertiefung bedürfen wird.
Doch bevor wir den Blick in die Zukunft richten, gilt es zunächst, über den gegenwärtigen Stand der Diplomatik Klarheit zu gewinnen, was uns unweigerlich vor die Frage nach dem woher stellt, die dem Historiker ja ohnehin die vertrauteste ist. Natürlich kann es nicht meine Absicht sein, hier die altbekannten historischen Fakten noch einmal aufzuzählen1. Erinnern wir uns lediglich der Tatsache, daß die Diplomatik von Hause aus eine juristische und keine historische Hilfswissenschaft war und daß die „bella diplomatica‟ des 17. und 18. Jahrhunderts als Prozeßhilfen und nicht als Beiträge zur Erforschung der historischen Wahrheit verstanden sein wollen. Diese juristischen Ahnen im Stammbaum der Diplomatik sind nicht so bedeutungslos, wie es heute vielleicht scheinen mag; sie haben dieses Fach stärker geprägt als viele Historiker sich selbst einzugestehen bereit sind. Die politischen Umwälzungen im Gefolge der Französischen Revolution beseitigen allenthalben in Europa die materiellen Voraussetzungen für eine Diplomatik als juristische [p. 38] Hilfswissenschaft, konkret gesprochen: die alten Urkunden hatten ihren prozessualen Zeugniswert verloren und waren fortan nur noch von antiquarisch-historischem Interesse.
Nicht beseitigt wurde damit jedoch die Denkweise des Diplomatikers, dem es nach wie vor einseitig um das „discrimen veri ac falsi‟ ging, wobei die zu untersuchende Urkunde häufig genug in die Rolle eines seine Unschuld zu beweisen habenden Angeklagten gedrängt wurde, derweilen der Diplomatiker sich die Rolle des unerbittlichen Staatsanwalts anmaßte. Um es mit den Worten des Historikers zu sagen: die diplomatischen Untersuchungen beschränkten sich im 19. Jahrhundert vorzugsweise auf den reinen Fälschungsnachweis; war dieser erbracht, so interessierte das Stück nicht mehr, denn es war ja „falsch‟. Diese Mentalität wurde noch gefördert durch das sich gerade im 19. Jahrhundert durchsetzende Editionsprinzip der „Editionen nach Herrschern‟, die einer sorgsamen Untersuchung großer archivalischer Fonds natürlich hemmend im Weg standen2. Auch die globale Einteilung der Diplome in Königs-, Papst- und „Privat‟-Urkunden läßt noch die juristische Denkweise erkennen, orientiert sich diese Klassifizierung doch noch eindeutig an der Beweiskraft der Urkunden im mittelalterlichen Prozeß.
So sehr sich aber auch juristische Denkkategorien als ein Hemmschuh bei der völligen Integration der Diplomatik in die Historie erwiesen – ein Hemmschuh übrigens, dessen sich die Zeitgenossen kaum bewußt waren –, so bleibt es dennoch eine Tatsache, daß das 19. Jahrhundert ein wahres „siècle des lumières‟ der Diplomatik gewesen ist. Und dies aus zwei Gründen: einmal bewirkte die Öffnung fast aller bedeutenden Archive, nicht zuletzt des vatikanischen vor fast genau hundert Jahren – im Jahre 1881 –, eine wahre Flut von Editionen, deren wissenschaftlicher Wert in den meisten Fällen zwar noch sehr zu wünschen übrig ließ, denen aber nichtsdestoweniger das Verdienst zukam, die gelehrte Welt mit einer Fülle bis dahin unbekannten Materials vertraut gemacht zu haben.
Darüber hinaus erlaubte der freie Zugang zu den Archiven und in Verbindung damit die ungewöhnlich hohe Zahl neu veröffentlichter Urkunden erstmals eine doch wenigstens angenäherte Übersicht über die vorhandenen und zumindest potentiell noch zu edierenden Urkundenbestände. Daß man sich dabei im Überschwang der ersten Begeisterung der Schwierigkeiten für [p. 39] so manche kritische Edition nicht recht bewußt war, war eher von Vorteil, denn die heutigen Diplomatiker kennen diese Schwierigkeiten nur zu genau, und man wird schwerlich behaupten wollen, daß sich dieses Wissen befruchtend auf ihre Editionstätigkeit ausgewirkt habe, wovon noch zu sprechen sein wird.
Neben den Urkundeneditionen im vollen Wortlaut begann man sehr bald auch mit größeren Regestenpublikationen, die z. T. neben, z. T. an Stelle vollständiger Texteditionen einen selbständigen Rang behaupteten; es sei hier nur an Namen wie Ph. Jaffé, A. Potthast, P.F. Kehr, die „École Française de Rome‟ für die Papst-, J.F. Böhmer und seine „Regesta Imperii‟ für die Kaiser- und Königsurkunden erinnert3. Die ungeheure Fülle neuen Materials forderte diplomatische Detailstudien ja geradezu heraus, die sich mit der Zeit nicht mehr allein auf das „discrimen veri ac falsi‟ beschränkten, sondern diplomatische Fragestellungen allgemeiner Natur, wie etwa der nach Entstehung der Urkunde, dem Funktionieren einer Kanzlei usw., aufgriffen und so die Diplomatik erst zu einer historischen Hilfswissenschaft machten.
Und dies scheint mir der zweite Grund, warum gerade das 19. Jahrhundert zu einem „klassischen‟ Jahrhundert der Diplomatik geworden ist. Ich muß es mir an dieser Stelle naturgemäß versagen, auf Einzelheiten einzugehen4 und mich auf die großen Linien der Entwicklung beschränken, doch kann es nicht zweifelhaft sein, daß die historisch-kritische Methode der Diplomatik erst im 19. Jahrhundert ausgebildet und seitdem ständig verbessert worden ist. Der deutschen Geschichtswissenschaft fiel hierbei unstreitig die führende Rolle zu, doch sollen daneben die großen Leistungen der französischen Diplomatik, [p. 40] die sich mit dem Namen der „École des Chartes‟ verbinden, nicht vergessen werden5. Es war auch ein deutscher Diplomatiker, Theodor v. Sikkel, der erstmals die für kritische Editionen literarischer und historiographischer Texte seit langem gültigen Regeln auf Urkundeneditionen übertrug und mit seiner Ausgabe der Diplome Heinrichs I. und Ottos I. (1879/84) für die neue Diplomata-Serie der „Monumenta Germaniae Historica‟ bahnbrechend wirkte6. Die Editionstechnik konnte seither laufend verfeinert werden mit dem Ergebnis, daß gerade die Sickelschen Diplomata-Editionen am dringendsten einer Neubearbeitung bedürfen, doch ändert dies nichts an der Tatsache, daß er es war, der die bis heute unangefochtenen Grundlagen diplomatischer Editionen schuf7 und so wesentlich zur „Historisierung‟ der Diplomatik beitrug.
Nach diesen notwendig knappen Bemerkungen zur Geschichte der Diplomatik sei nunmehr die Frage nach der gegenwärtigen Lage unserer Disziplin gestellt. Es versteht sich, daß ich mich hierbei auf die Herausarbeitung bestimmter „Trends‟ beschränken muß. Was die Editionen anbelangt, so ist leider zu sagen, daß ihre Zahl im Vergleich zu der Blütezeit in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg nicht unbeträchtlich zurückgegangen ist. Diese Tatsache kann nicht genug bedauert werden, und es verlohnt sich daher wohl, die Frage nach den Gründen für diese Fehlentwicklung zu stellen, zumal man ja gerade hier Ursachen für eine Krise der Diplomatik gefunden zu haben glaubte8. Jeder Versuch einer monokausalen Antwort wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt angesichts der vielfältigen Erklärungen, die sich hierfür anbieten. Da ist zum einen der unstreitig gesunkene Stellenwert von Editionen – und keineswegs nur der diplomatischen – in einer Zeit, die im Zeichen einer übersteigerten Geistes- und Kulturgeschichte nur allzu leicht geneigt war, in Editoren nichts weiter als „primitive‟ Positivisten zu erblicken. Es erfordert daher von einem jungen Gelehrten ein hohes Maß an Selbstüberwindung [p. 41] und geistiger Askese, viele Arbeitsjahre in eine Edition zu investieren, wenn er befürchten muß, daß diese weniger gewürdigt wird als eine aus zweiter Hand geschriebene Darstellung. Hinzu kommt ein weiteres: die Anforderungen, die heute an kritische Editionen gestellt zu werden pflegen – in erster Linie natürlich von Gelehrten, die noch nie eine Edition vorgelegt haben – übersteigen oft jedes vernünftige Maß und führen so zu unberechtigt harten und negativen Rezensionen9, die ihre abschreckende Wirkung nicht verfehlen.
Schließlich ist gerade unter den jüngeren Historikern die Meinung weit verbreitet, daß ja eigentlich schon alles getan und für sie nichts mehr übrig sei. So grundfalsch diese Ansicht auch ist, wovon sogleich noch ein Wort zu sagen sein wird, ihre negative Auswirkung auf die Bereitschaft, eine Edition zu übernehmen, sollte nicht unterschätzt werden. Ich habe mit Absicht zuerst von den Editionen gesprochen, weil hier die Diplomatik gegenüber der Geschichtswissenschaft im Wort steht: Verfassungs- und Rechts-, Wirtschafts- und Sozialhistoriker harren gleichermaßen des enormen Materials, das noch der Erschließung durch den Diplomatiker bedarf. Es ist die vornehmste Aufgabe der Diplomatik, das ihrer Kompetenz anvertraute Quellenmaterial den Historikern aller Sparten möglichst rasch und möglichst umfassend zugänglich zu machen10. In diesem Sinne ist und bleibt die Diplomatik eine echte Hilfs wissenschaft der Geschichte.
So sehr ich auch an diesem „hilfswissenschaftlichen‟ Aspekt der Diplomatik festhalte, so wenig verkenne ich doch den eigenständigen Charakter des Fachs, dessen nur ihm eigene Methodik es in den Rang einer selbständigen Wissenschaft erhebt, zu der neben den Editionen bedeutende literarische Untersuchungen wesentlich beigetragen haben; sie im einzelnen zu würdigen, kann hier nicht der Ort sein. Es war jedoch gewiß keine positive Entwicklung, daß die diplomatische Methode im 19. Jahrhundert von übereifrigen Adepten als eine Art wissenschaftlicher Heilslehre mißverstanden worden ist, deren Anhänger H. v. Fichtenau mit feinsinniger Ironie als den „ordre de la stricte observance‟ charakterisiert hat11.
Glücklicherweise ist die Zahl der „strikten Observanten‟ seit geraumer Zeit rapide im Abnehmen begriffen, und die überwältigende Mehrheit der heutigen Diplomatiker betrachtet die von ihnen angewandte Methode ganz nüchtern als eine wissenschaftliche Methode unter vielen, die weder eines [p. 42] besonderen Charismas bedarf noch ein solches verleiht. Als ein deutliches Kennzeichen dieser Nüchternheit im Umgang mit der diplomatischen Methode werte ich die Tatsache, daß das wissenschaftliche Oeuvre auch und gerade der führenden Vertreter des Fachs einen beträchtlichen Anteil nicht-diplomatischer Arbeiten aufweist, m.a. W., der wissenschaftliche Stil eines Julius v. Ficker12 hat sich gegenüber dem Absolutheitsanspruch eines Theodor v. Sickel und noch eines Paul Fridolin Kehr heute allgemein durchgesetzt.
Umfassende Handbücher in der Art eines Bresslau oder Giry, eines Redlich oder de Boüard sind heute kaum noch vorstellbar13. Im übrigen sind der diplomatischen Literatur die Wege weitgehend von der Sache her gewiesen: zum einen Abhandlungen zur Vorbereitung oder Erläuterung einer Edition, wobei das „discrimen veri ac falsi‟ auch heute noch eine beträchtliche Rolle spielt, wie natürlich auch bei den an zweiter Stelle zu nennenden Untersuchungen einzelner Urkundengruppen oder -fonds. Schließlich kommt den Kanzleistudien nach wie vor zentrale Bedeutung zu. Unter diesen drei Oberbegriffen läßt sich mindestens 90 % der literarischen Produktion subsumieren. Es war daher ein besonderes Verdienst H. v. Fichtenaus und seiner Schule, eine neue Fragestellung in die Forschung eingeführt zu haben. Aber so anregend und wertvoll Fichtenaus Studien zur Arenga, Wolframs Untersuchungen zur „Intitulatio‟ u.a. zweifellos sind14, so können sie doch aus Gründen, die ich schon anderwärts dargelegt habe15, eine Neuorientierung der Diplomatik nicht bewirken, und es scheint mir überdies sehr die Frage, ob dies überhaupt wünschenswert wäre. Mit allgemeinem Krisengerede, [p. 43] von dem auch die Diplomatik nicht verschont geblieben ist16, werden die Probleme nicht gelöst, und damit komme ich zum Kern meiner Ausführungen, zu den künftigen Aufgaben der Diplomatik.
Präsident Bautier und ich haben das Thema dergestalt aufgeteilt, daß mir die Aufgabe zufiel, die Zeit bis ca. 1250 zu behandeln, während Präsident Bautier sich der Problematik der folgenden Jahrhunderte widmen wird. Es ist dies nicht nur eine Gliederung aus praktischen Erwägungen, vielmehr ist diese Aufteilung auch sachlich gefordert: der einzelnen Urkunde kommt im 14.–15. Jh. ein wesentlich niedrigerer quellenkritischer Stellenwert zu als im Früh- und Hochmittelalter, während die Bedeutung der Kanzlei als Behörde im Spätmittelalter unvergleichlich viel höher einzustufen ist als in den Jahrhunderten zuvor. Doch von alledem wird Präsident Bautier zu sprechen haben, ich beschränke mich im folgenden auf das Frühe und Hohe Mittelalter.
Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob das Frühe und Hohe Mittelalter mit kritischen Editionen besonders gut ausgestattet sei und gerade hier dem Gedanke, es sei schon alles getan, eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden könne. Doch bei näherem Zusehen ergibt sich ein differenzierteres Bild: zum einen bezieht sich dieser gute Eindruck vor allem auf die Editionen der Königsurkunden, und zum andern täuscht der scheinbar so gute Eindruck selbst bei diesen; denn lediglich für das Frankenreich und dessen Nachfolgestaaten Deutschland und Frankreich kann von einer annähernd vollständigen Editionsreihe der Herrscherurkunden bis ca. 1200 gesprochen werden, zumal die derzeit noch vorhandenen Lücken wohl in absehbarer Zeit geschlossen sein werden17. Richten wir den Blick jedoch auf die Staaten außerhalb des karolingischen Imperiums (die iberischen und die angelsächsischen [p. 44] Reiche, ferner Ungarn, Polen, die nordischen Staaten usw.), so harrt unser eine große Enttäuschung, denn hier ist bis zum heutigen Tag wenig oder nichts geschehen18.
Wenn also selbst am grünen Holz der Königsurkunden noch viele Wünsche offen bleiben, wie viel schlechter muß es da erst um die Fürstenurkunden bestellt sein, die nach der verfehlten Gliederung unserer Handbücher zu allem Überfluß der Kategorie der sogen. Privaturkunden zugerechnet werden. Man denke: die Urkunde eines Herzogs von Apulien, von Aquitanien, von Bayern, von Benevent, der Bretagne, von Burgund: eine „Privaturkunde‟! Die Absurdität dieser Unterscheidung läßt sich am Beispiel der Normannen besonders anschaulich verdeutlichen: eine Urkunde Wilhelms des Eroberers als Herzog der Normandie wäre nur eine Privat-, eine Urkunde als König von England dagegen eine Königsurkunde! Ähnlich steht es mit Roger II. von Sizilien: seine Urkunden aus der Grafen- und Herzogszeit wären allesamt Privat-, die nach der Krönung in Palermo selbstverständlich Königsurkunden. Es bedarf kaum des Hinweises, daß solch formalistische Distinktionen der historischen Realität keinerlei Rechnung tragen.
Die Bedeutung einer Edition etwa der Urkunden der Herzöge von Benevent19 stände der einer Edition der Urkunden eines angelsächsischen Teilkönigs, wenn es sie gäbe20, gewiß nicht nach, und dies gilt natürlich auch für die Urkunden der Grafen von Barcelona, der Champagne, von Flandern, von Sizilien, von Toulouse usw. usw. Von wenigen löblichen Ausnahmen abgesehen21, bleibt hier noch so gut wie alles zu tun, und ich kann nur hoffen, daß die MGH nach dem Abschluß der Diplomata-Reihe bis zum Jahre 1250 [p. 45] sich energisch den Urkunden der deutschen Territorialfürsten widmen werden22.
Von den geistlichen Fürsten war dabei bisher noch nicht einmal die Rede, auch nicht vom Papsttum, dessen zentrale historische Bedeutung jedermann einsichtig ist. Um so mehr mag es den Laien überraschen, daß eine Edition der Papsturkunden für den hier interessierenden Zeitraum noch nicht einmal ernsthaft erwogen worden ist, was allerdings nicht überraschen kann, wenn man weiß, daß das um die Jahrhundertwende begonnene, gewaltige Regestenunternehmen von P.F. Kehr, das sich die Erfassung aller Papsturkunden bis 1198 zum Ziel gesetzt hat, bis heute noch nicht abgeschlossen ist und in diesem Jahrhundert auch mit Sicherheit nicht abgeschlossen werden wird23. Hier ist fraglos die Masse des vorhandenen Urkundenmaterials ein gewichtiges Hemmnis24, doch bleibt zu fragen, warum man sich noch nicht einmal dazu entschließen konnte, die Papsturkunden für einen engeren Zeitraum – etwa vom 7.–10. Jahrhundert – zu veröffentlichen. Die Initiative hierzu müßte allerdings vom Vatikanischen Archiv ausgehen. Ich möchte die Aufzählung der wünschenswerten, z. T. dringend erforderlichen Editionen nicht weiter vertiefen; sie könnte seitenlang fortgesetzt werden25.
Es bleibt mir noch, kurz auf zwei Aspekte einzugehen, die m. E. in der modernen Diplomatik nicht genügend beachtet worden sind. Alle bisher besprochenen [p. 46] oder als wünschenswert bezeichneten Editionen sind solche nach dem sogen. Ausstellerprinzip, d.h., der Editor ist bemüht, die Urkunden eines Königs, Herzogs, Erzbischofs usw. aus allen ihm zugänglichen Archivfonds zu sammeln und in chronologischer Folge zu edieren. Dies hat gravierende Konsequenzen für das Erkennen von Fälschungen, da das „discrimen veri ac falsi‟ notwendigerweise eine Beschränkung auf die jeweilige Persönlichkeit erfordert, der die Edition gewidmet ist. Jeder Editor befaßt sich folglich nur mit den Spuria, die „seinen‟ König, Papst, Herzog usw. betreffen. Diese Verengung des Blickfelds bedingt u. U. eine erhebliche Unsicherheit in der Beurteilung der für die Edition einschlägigen Stücke. Die Technik eines Fälschungsateliers, die Einordnung des betreffenden Spuriums in die Gesamtheit der Fälschungen, solche und ähnliche Fragen lassen sich bei der Beschränkung auf nur einen Aussteller häufig nicht oder nur sehr unvollkommen beantworten. So unbefriedigend dieser Sachverhalt aber auch ist, er sollte nicht als Vorwand dienen, dringend erforderliche Editionen „ad Kalendas Graecas‟ zu vertagen.
Aus dem Gesagten wird jedoch deutlich, daß die kritische Untersuchung großer Fälschungszentren eine zentrale Aufgabe der Forschung in den nächsten Jahrzehnten sein wird. Nach meinen bisherigen Erfahrungen bin ich zu der Auffassung gekommen, daß wir von den Urkundenfälschungen des Mittelalters bisher nur die Spitze des Eisbergs gesichtet haben. Mit dieser Feststellung will ich übrigens kein moralisches Urteil abgeben: in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle handelt es sich nicht um dolose, sondern um sogen. feststellende, d.h. zur Absicherung legitimen Besitzes angefertigte Spuria26. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache formaler Fälschungen, die nur allzu oft von der Forschung nicht erkannt worden sind. Große Fälschungszentren wie Montecassino, San Vincenzo al Volturno, St-Denis, St-Martin de Tours, Trier–St. Maximin, um einige herausragende zu nennen, bedürften umfassender, wahrscheinlich mehrbändiger Studien, die viele Jahre geduldigen Forschens erfordern; Montecassino allein könnte die Lebensarbeit eines Gelehrten sein27. Bei diesen Forschungen steht zugleich die Tragfähigkeit der diplomatischen Methode auf dem Prüfstand, doch bin ich guten Muts, daß die Diplomatik diese Probe bestehen wird.
[p. 47] Zusammenfassend wäre festzustellen, daß unser noch große Aufgaben harren, sowohl auf dem Felde der Editionen, als auch auf dem der kritischen Forschung. Ich hoffe und wünsche, daß sich künftige Forschergenerationen der Größe der Aufgabe gewachsen zeigen werden.