[p. 203] Das öffentliche Kanzellariat in der Westschweiz (8.–14. Jh.)1
Das Gebiet, das heute „Suisse romande‟, „Romandie‟, „welsche‟ oder „französische Schweiz‟ genannt wird, das von 888–1032 die Kernlandschaft des Königreichs Burgund bildete, sich dann im lockeren Rahmen des Reiches [p. 204] in zahllose Herrschaften aufsplitterte und nacheinander unter zähringisch-kyburgischen, im 13. Jh. savoyischen und seit dem 15. Jh. zunehmend unter den Einfluß alemannischer Städte, insbesondere Berns geriet, ist erst nach den Kriegen gegen Karl den Kühnen von Burgund und den antisavoyischen Eroberungen der Reformationszeit (1536) zur Westschweiz geworden2. Im Raum zwischen Jura und Großem St. Bernhard3, zwischen Genfersee, Aare und Rhein gab es zu keiner Zeit ein einheitliches Kanzleiwesen4. Der meridionalen Ausrichtung der Nachbarbistümer Genf und Sitten nach Vienne und Tarentaise steht die nordburgundische von Lausanne und Basel nach Besançon gegenüber. Auch die von Norden nach Süden verlaufende Sprachgrenze – westlich von Basel über den Jurakamm nach Biel, Murten, Freiburg, die Vor- und Hochalpenketten bis ins mittlere Wallis – definiert keine geschlossene Urkundenprovinz5. Es ist nur der südliche, rhodanische Teil des Gebiets, zwischen Sitten und Genf, mit Ausstrahlungen über die Patria Vuaudi (Waadt)6, der das Terrain für eine regionale Diplomatik abgeben kann. [p. 205] Hier bestehen bei allen Verwandtschaften und Beziehungen, die mit Burgund, Savoyen, Piemont, Rätien und Alemannien zu jeder Zeit herstellbar sind, einige Originalitäten im Urkunden- und Aktenwesen. Man kann vereinfachend sagen, daß die Hauptimpulse über das erste Jahrtausend hinaus aus dem provenzalischen Rhoneraum stammen, die späteren aber mehr von Westen und Norden eindringen; charakteristisch bleibt jedoch – ablesbar an der Komposition der wichtigsten Bestände (Lausanne, Sitten, Saint-Maurice) – das ausgeprägt regionalistische Netz urkundlicher Beziehungen. Trotzdem findet man im lemanischen Raum, am konzentriertesten im Umfeld der Straße zum Gr. St. Bernhard, einen im Vergleich zu alemannischen Gebieten ungewöhnlich hohen Grad von Verwaltungsschriftlichkeit. Dabei handelt es sich – unter Berücksichtigung der katastrophalen Überlieferungslage bibliothekarischer Quellen im protestantischen Westschweizer Raum7 – nicht um einen höheren Schriftlichkeitsgrad schlechthin, eine größere Nähe francoprovenzalisch sprechender Menschen zur schriftlichen Latinität, und es gibt kein Indiz dafür, daß hier im hohen und späten Mittelalter mehr ‚Literatur‛ produziert worden wäre als in benachbarten alemannischen Gebieten8. Der höhere Schriftlichkeitsgrad ist trotz „droit coutumier‟ allein im Bereich von Recht und Verwaltung gegeben, in den Privaturkunden des 10.–12. Jh., im Notariat und in der Aktenführung seit dem 13. Jh.
Die Statistiken, die 1869 im Anhang zu Hidbers „Schweizerischem Urkundenregister‟ für die Zeit von 700–1200 publiziert wurden, lassen die regionale Verteilung des Überlieferten nicht erkennen9. Sieht man ab von der bis gegen 930 übermächtigen, dann aber fast gänzlich versiegenden St. Galler Provenienz, so stellt man für die Westschweiz eine wesentlich höhere Dichte von Privaturkunden fest als für die alemannische Schweiz. Zwischen 950 und [p. 206] 1100 machen Königs- und Kaiserurkunden etwa ein Drittel der Überlieferung aus, während die Papsturkunden vor dem Ende des 11. Jh. kaum ins Gewicht fallen. Schon von 951–1000 sind aber aus der Westschweiz doppelt soviele Privaturkunden erhalten wie aus der größeren alemannischen Schweiz. Für die Jahre 1001–1050 stammen 90 % der Binnenproduktion (80 % der Privaturkunden) aus der Westschweiz, und auch in der zweiten Hälfte des 11. Jh. überwiegt deren Anteil mit 60 % noch deutlich. Bei allen Zufällen der Erhaltung ist klar, daß die romanischen Gebiete der heutigen Schweiz einer anderen Urkundenlandschaft angehören als die alemannischen, daß hier keine Rede sein kann von einer urkundenlosen Zeit im 10. und 11. Jh.10.
Bemerkenswert ist dabei, wie längst nicht in allen, aber in zahlreichen Urkunden cancellarii und Schreiber, die vice cancellarii fertigen, genannt sind. Insgesamt erweist sich die Westschweiz damit als Teil einer breiten Zone, die sich von Tirol über den Zentralalpenraum nach Burgund, Lothringen und Flandern erstreckt11. Die regionale Besonderheit ist seit langem bekannt, [p. 207] doch bestehen trotz der Fortschritte, die Theodor Schieffers Untersuchungen im Zusammenhang mit der Monumenta-Ausgabe der „Urkunden der burgundischen Rudolfinger‟ gebracht haben, noch unklare Vorstellungen über das hochmittelalterliche Kanzleiwesen im burgundischen Raum. Für die Zeit nach 1032 ist die Forschung kaum über die Feststellungen hinausgelangt, die Oswald Redlich schon 1911 getroffen hatte12. Nach Redlich, der sich auf Arbeiten Bresslaus13, Voltelinis14 und Schiaparellis15 stützte, hielten sich die fränkischen cancellarii als amtliche Gerichtsschreiber im Reichsgebiet allgemein bis in die ersten Jahrzehnte des 9. Jh., an der romanischen Sprachgrenze auch ein Jahrhundert länger, nirgendwo im deutschsprachigen Raum jedoch länger als in Zürich (964), „viel länger und intensiver dagegen auf currätischem und burgundischem Gebiet‟. In Rätien fand er für Vintschgau und Unterengadin ein Fortleben bis ins 12., für das Oberengadin bis ins 13. Jh., „in Wallis, in Lausanne, Genf und Hochburgund‟ gar bis ins späte Mittelalter „in ganz ähnlicher Funktion‟, wobei das Kanzellariat in Sitten im 12. Jh. vom Bischof an das Domkapitel, in Lausanne und Genf im 13. Jh. an die Offizialate übergegangen sei.
Bei der ungleichmäßigen Überlieferung läßt sich der Vorgang kaum verallgemeinernd beschreiben. Während die St. Galler Tradition für den rätischen Urkundenkreis bis ins 8. Jh. zurückreicht, beginnen die Quellen in Lausanne erst um die Mitte des 9. Jh. zu fließen, bis um 1050 ausschließlich in kopialer Überlieferung. Für das Jahrhundert von ca. 950 bis 1050 sind vor allem die Bestände von Romainmôtier und St. Maurice bedeutend. Kurz nach 1000 setzen die bis 1150 spärlichen Belege in Sitten und Aosta ein, erst im letzten Drittel des 11. Jh. dagegen in Genf. Überall klafft zwischen 1050 und 1180 eine unterschiedlich ausgeprägte Lücke, die nicht Verlusten zuzuschreiben ist, wie sie für die Frühzeit angenommen werden müssen. Wo Kartulare sich erhalten haben wie für Romainmôtier (12. Jh.)16, Lausanne (ca. 1200–1240)17 [p. 208] und St. Maurice (um 1400)18, bleibt die frühe Dokumentation dichter19. Sie ist im 11. Jh. vorwiegend cluniazensisch und betrifft hauptsächlich Romainmôtier – nur marginal Payerne –, so wie sie unter diplomatisch neuen Charakteristika seit dem zweiten Drittel des 12. Jh. überwiegend zisterziensisch (Bonmont, Lucelle, Hauterive, Hautcrêt, Montheron, Frienisberg) und in viel geringerem Maß prämostratensisch sein wird (Lac-de-Joux, Humilimont, Fontaine-André, Bellelay).
Außer einigen Tälern im Süden Graubündens, wo cancellarii bis ins 14. Jh. auftreten20, bleiben die Kanzellariate nach 1250 einzig in den alpinen Reliktzonen [p. 209] des Wallis mit der chartra (chertre) der Kapitelskanzlei von Sitten und der Siegelurkunde von St. Maurice sowie in der charta augustana für das Aostatal von Bedeutung21. Im Zuflußgebiet des Rheins, zu dem die ganze nördliche Waadt und die nördlichen, sehr schlecht dokumentierten Teile des Königreichs Burgund gehören, verschwinden sie vor 110022. Im reichen Bestand [p. 210] von Romainmôtier ist um 1050 ein abruptes Erlöschen der Einrichtung zu konstatieren. Alle späteren Erwähnungen wurden den bischöflichen Kanzleien von Genf, Lausanne und Sitten oder der Kapitelskanzlei von St. Maurice zugeschrieben. Man findet cancellarii in Genf und Savoyen bis ins letzte Drittel des 12. Jh., in Lausanne bis ins letzte Drittel des 13. Jh., in St. Maurice bis ins 14. Jh., in Aosta bis ins 15. Jh. und in Sitten bis in die frühe Neuzeit. Es scheint ein Rückzug von Norden nach Süden, von der Rhein- zur Rhonelinie, dann ein solcher von Westen nach Osten stattgefunden zu haben.
Der folgende Versuch, einen ersten Überblick über die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Kanzellariats in der Westschweiz zu gewinnen, kann bei der Fülle des Materials und dem Mangel an kritischen Editionen und Studien nur ein vorläufiger sein. Es soll zuerst die Rolle der Kanzler in den wichtigsten Urkundszentren skizziert, die Unterscheidung von weltlichem und kirchlichem Kanzellariat verdeutlicht und herausgestellt werden, wie der cancellarius nicht als Kanzleichef, sondern als Rechtsfigur zu verstehen ist, die am besten mit ius cancellariae umschrieben wird23. Abschließend geht es um die Frage, warum die alten Kanzellariate um 1050 verschwinden und auf welchen Grundlagen die neuen um 1180 errichtet werden.
[p. 211] Romainmôtier und der Norden: cancellarii als öffentliche Gerichtsschreiber
Die reichste Originalüberlieferung der hochmittelalterlichen Westschweiz stammt aus dem seit dem 5. Jh. bestehenden Kloster Romainmôtier am waadtländischen Jurafuß24. Wenn auch ihre paläographisch-diplomatische Kritik noch aussteht und einige vor 1100 datierte Stücke (wie in St. Maurice) Nachschriften des 12. Jh., vermutlich aus der Zeit der Kartularanlage sind25, so bleiben doch allein für die Jahre von ca. 980 bis 1050 mehr als fünfzig originale Privaturkunden, die in der Regel den Schreiber26, kaum je und erst nach 1000 einen Kanzler nennen, obwohl sie sich dann meist als vice (a vice, ad vicem) cancellarii geschrieben vorstellen. Wo Kanzler wie Genoerius [p. 212] (1003–1005)27, Senbertus (1008)28, Durandus (1013–1042)29 und Wicardus (1046)30 namentlich genannt sind, geben sie sich mit wenigen Ausnahmen auch als Schreiber aus.
Romainmôtiers Usanzen sind zu vergleichen mit jenen Burgunds und Clunys, deren Skizze Jean Richard vorgelegt hat31. Im Jahr 888 von König Rudolf I. im ersten Rudolfingerdiplom an seine Schwester Adelheid32 und von ihr 928/29 dem jungen Cluny übergeben33, wurde das Priorat fortan von dessen Äbten in Personalunion verwaltet. Schon die Übergabeurkunde von 928 – sie bedürfte einer gründlichen diplomatischen Kritik – schließt nach dem Kalendertag mit Ego Ildebrannus sacerdos ad vicem cancellarii scripsi et subscripsi (folgen Regierungsjahr und Indiktion) Actum publice in villa Bolaco; Ildebrand, [p. 213] von 928–944 als Urkundenschreiber in Cluny bezeugt, stand unter der Aufsicht des Grafschaftskanzlers von Mâcon34. Wenn nach Richards Ansicht hinter den in Cluny ad vicem cancellarii firmierenden Schreibern gar kein Kanzler der großen Abtei und hinter den in anderen nichtbischöflichen Privaturkunden Burgunds auftretenden Kanzlernamen immer derjenige der zuständigen Kathedralkirche gestanden hat35, so ist dies für die Westschweiz im 11. Jh. nicht der Fall. Es läßt sich zwar mangels ähnlich dichter Lausanner Überlieferung nicht nachweisen, daß die genannten Kanzler nicht auch im Dienst des Bischofs wirkten, aber man wird kaum einen ‚bischöflichen‛ Kanzler Reginold im Jahr 1031 neben einem ebenfalls bischöflichen Kanzler Durandus (1013–1042) postulieren dürfen. Wie hätte Durandus, der 1037 seine Distanz zum deutschen Königtum in einer Datierung mit annorum V post hobitum regis nostri Rodulfi manifestiert36, gleichzeitig Kanzler der Lausanner Bischöfe Hugo (1019–1037) – des einzigen Sohnes König Rudolfs III.37 – und Heinrichs II. von Lenzburg (1039–1050?) sein können, der 1039 der Beisetzung Konrads II. in Speyer beiwohnte?38
Die Gau- und Grafschaftsgliederung der Westschweiz und insbesondere der Waadt ist in rudolfingischer Zeit im einzelnen schwer erkennbar, aber es besteht kein Zweifel an ihrem Bestand in der ersten Hälfte des 11. Jh.39. Die Kompetenz der für Romainmôtier wirkenden cancellarii beruhte kaum auf der trotz der Übergabe an Cluny fortdauernden königlichen Herrschaft über das frühere Eigenkloster40; gerade ihr Auftreten nach dem Jahr 1000 ist angesichts des Verhältnisses Rudolfs III. zum Regionaladel ein Indiz dafür, daß sie – anders als in St. Maurice – nicht „Klosterkanzler‟ waren. Als solche wären sie öfter persönlich in Klostergeschäften tätig gewesen oder mit Namen [p. 214] genannt worden. Sie werden aber zitiert oder wirken persönlich bei Grundstücksbewegungen und Freilassungen in einem bestimmten pagus oder comitatus und nicht in verschiedenen Distrikten; als Zeugen ihrer Geschäfte fungieren Grafen und Gerichtsherren. Es besteht kein Grund, in ihnen etwas anderes als öffentliche Gerichtsschreiber zu sehen. Die letzte mir bekannte Schreiber- und Kanzlernennung im Bestand Romainmôtier betrifft Guitelmus bzw. Tetmarus in einem meist zu 1059 datierten, weltlichen Geschäft, durch das ein Heberinus seinem Bruder Anselm Erbbesitz in der Gegend von Morges sowie Leibeigene vermacht41, der klassische Fall von alienatio perpetua und testamentum, wie er dem ius cancellariae unterliegt42; bei der Namensgleichheit mit einem gleichzeitig in St. Maurice auftretenden Kanzler-Dictator-Paar wird die Urkunde aber noch genauer untersucht werden müssen, auch weil nach 1050 in den weiterhin zahlreichen Urkunden von Romainmôtier nicht nur keine Kanzler-, sondern auch keine Schreibernennungen mehr zu finden sind. Wie in Burgund herrscht bis um die Mitte des 12. Jh. die siegellose, meist mit Zeugenliste versehene Notitia vor, die dann von der Siegelurkunde abgelöst wird43.
Nicht nur für die Kanzler, auch für manche Schreiber ist die Zugehörigkeit zum Konvent von Romainmôtier sogar da nicht selbstverständlich, wo sie sich als Priester oder Leviten bezeichnen. Die seit 964 mit dem Priester Ebbo belegte Formel Ego in dei nomine N. (rogi[ta]tus seit 996) scripsi(t) datavi(t)44 hilft nicht weiter, da sie allgemeinem Usus entspricht. Auch die Priester Adzo (966)45 und Genoerius46, die untitulierten Schreiber Pontius (1004/05)47, Meinardus (1005–1017)48, Ioannes [p. 215] (1009–1017)49 und Salaco (1039)50 sowie der Kanzler Senbertus (1008) verwenden sie, und zumindest für Genoerius, Meinardus, Ioannes und Senbertus ist die Zugehörigkeit zum Konvent von Romainmôtier mehr als zweifelhaft. Auch für den notarius Herenbert, der zwischen 981 und 986 ohne geistlichen Titel fünf Urkunden firmiert, drei Freilassungen (ingenuitates) und zwei Grundstücksverkäufe im pagus Lausanne, ist sie nicht anzunehmen51; er präsentiert sich ohne Devotio mit bloßem Namen, dem er wie andere nach ihm manchmal ein einfaches (et) Ego voranstellt. Für Klosterschreiber halte ich dagegen den Priester Teutbald (996)52 und die Leviten Humbert (1008)53, Adalbert (1013)54 und Syronus (1013)55, die als einzige die data per manu(m)-Formel benutzen, ausschließlich in vice cancellarii gefertigten Stücken. Klosterschreiber sind auch der Priester Petrus (996)56 [p. 216] und die Mönchspriester Hugo und Warnerius (1026/27)57, Ingelbert – qui et praenomine vocito Rigizo – (1028)58, der Priester Langerius (1041)59 und der Levite Stephanus (1042–1051)60, der letzte mir namentlich bekannte Schreiber, wenn man von sporadischen Ausnahmen wie Benedictus (1084) absieht, deren Namensnennung keinen Beglaubigungscharakter mehr zu haben scheint61. Schieffer hält auch Rotbertus notarius (1009/10)62 für einen Klosterangehörigen; daß sich Ebrardus 1015 mit dem auf das Signum folgenden scribsit et subscribsit, das die Zeugenreihe einleitet, als Urkundenschreiber ausweist, ist anzunehmen63.
Schrift- und Formularvergleich wird manche der angeschnittenen Fragen klären; hier geht es darum, das Erlöschen der weltlichen Kanzellariate in der Waadt um die Mitte des 11. Jh. zu konstatieren. Die älteste Privaturkunde für das an frühen Stücken sehr arme Priorat Payerne schließt noch 1085 mit Ego frater Pontius vice cancellarii scripsi ut vidi et audivi anno MLXXXV indictione VIII, regnante gloriosissimo imperatore Heinrico IIII°, temporibus domni Hugonis abbatis Cluniac(‹i›ensis)64. Es ist möglich, daß es sich bei der vom bisherigen [p. 217] Brauch abweichenden Formel um paterniazensisches Gewächs und beim Verweis auf den Kanzler um eine Fiktion handelt, doch ist die Frage ebensowenig zu entscheiden wie jene nach der Bedeutung der Kanzler- und Schreibernennung in der bekannten Gründungsurkunde für Payerne, dem erst im 12. Jh. geschriebenen sog. Testament der Königin Berta aus dem Jahr 961/2: Ego Sunehardus hanc cartam ad vicem Ponezoni cancellarii scripsi data die …, actum vero Lausona civitate65. Nachdem unmittelbar vorher genannte Zeugen dieser Urkunde um 961 im Raum Lausanne nachweisbar sind, gibt es keinen Grund, den sonst nicht belegten Kanzler Bonizo abzutun als „einen jener mönchischen Urkundenschreiber, die sich gerne cancellarius nannten‟66, dies umso weniger, als in der Westschweiz vor dem Jahr 1000 keine solchen zu finden sind. Da Bonizo als königlicher Kanzler nicht in Betracht zu fallen scheint67, wird man ihn als Lausanner Grafschaftskanzler für das Jahr 961 annehmen.
In den nördlichen Teilen des Königreichs Hochburgund, im Aareraum, im Jura und im Fürstbistum Basel, ist die Quellenlage vor dem 12. Jh. schlecht68. Ein vereinzeltes Zeugnis für das öffentliche Kanzellariat gibt die Schenkung des Teinardus an das königliche Jurakloster Moutier-Grandval von 969: Ego in dei nomen Ruhodolfus cancellarius subscripsi et subscripsi69. Die ungewöhnlich schöne Buchminuskel des mangelhaft formulierten Stücks stammt von einem Mönch, der Kontext, Signateil und Datum in einem Zug [p. 218] abschrieb, aber wie in anderen Fällen weist das scripsi auch hier nicht auf den tatsächlichen Schreiber, und Rudolf muß als cancellarius nicht der Abtei, sondern des pagus betrachtet werden.
Im burgundisch-schwäbischen Grenzbereich sind cancellarii nach 964 nicht mehr belegt70, aber die Tradition des öffentlichen Schreibertums lebte auch hier bis über 1000 hinaus weiter. Davon zeugt Graf Ulrichs von Lenzburg Übergabe des Stifts Beromünster an seinen Enkel Arnolf vom Februar 1036, die – wiewohl nach Form und Sprache ein Stiftsprodukt – in Rohr bei Aarau vor dem Grafengericht gefertigt wurde: Hec carta traditionis advocati acta et levata est in publico mallo Rore, sub comite Ůlrico et testibus, quorum nomina hec sunt (…). Ego igitur Ozo scripsi et sub (Signum) scripsi, notavi diem et annum71. Vom Kanzellariat ist auch in einer gleichzeitigen Urkunde (1036/37) aus Zürich, die als letztes Zeugnis für „die alte Geschäftsurkunde öffentlich-rechtlichen Charakters‟ im schwäbischen Bereich gilt72, nicht die Rede: Actum est in lapidea domo castri coram advocato Ǒdelrico et comite Eberhardo subnotatis aliis testibus (…) Ego Adalhardus scripsi (Signum) et subscripsi, notavi diem (…)73. Die Subskriptionen der Mönche Otino, Giselbert, Ebbo, Wernher und Markward, die zwischen 1083 und 1116 die Traditionen für Allerheiligen in Schaffhausen schrieben74, illustrieren aber deutlich genug, wie auch im alemannischen Bereich alte Urkunds- und Beurkundungsformen fortleben konnten.
Lausanne: Das kirchliche Kanzellariat der Dekane und Kantoren
Die Schreiber- und Kanzlerliste der bischöflichen Kirche von Lausanne ist insofern die interessanteste, als sie, von der Mitte des 9. bis ins späte 13. Jh. reichend, die Zeitspanne von fast einem halben Jahrtausend umfaßt75. Als [p. 219] Schreiber begegnen Ayriboldus diaconus (852/75)76, Lanpertus presbyter (881)77, Rodovuinus presbyter (885)78, zweimal Bernardus diaconus (890–892)79, der als erster kirchlicher Schreiber der Westschweiz – in einer Urkunde des Grafen Manasses von Genf für das Domstift – den Kanzlertitel führt (diaconus sive cancellarius, 890). Da auch sein oft erwähnter Nachfolger Saturninus presbyter (896–921?)80 den Kanzlertitel (presbyter sive cancellarius u. ä.) nie allein und nur unregelmäßig benutzt – meist in Urkunden von Laien für das Domstift, darunter auch einem Diplom König Rudolfs I. von 90881 – dürfte dieses Kanzellariat nicht ein fest an die Person gebundenes Amt, sondern ein von Fall zu Fall aus dem weltlichen Bereich entlehnter Titel gewesen sein, dies umso mehr, als einige als Schreiber bekannte Domstiftsangehörige in Zeugenlisten von Urkunden auftreten, für die andere Schreiber firmieren. Auch spätere Schreiber führen den Kanzlertitel nur sporadisch: Evo nennt sich presbyter (900/923)82, Berold83 schreibt 929 als levita sive sacrista84, ein namenloser Nachfolger 943 als sacrista sive cancellarius85, Hiringus dagegen zweimal als presbyter (961–963)86, einmal als presbyter cancellarius (968)87, Adalvuinus endlich zweimal als presbyter (971–972)88.
Nach ihm wird die Liste der Lausanner Schreiber und cancellarii für zwei Jahrhunderte so lückenhaft, daß die grundlegenden Wandlungen des Kanzellariats [p. 220] im Dunkel bleiben; für die Zeit um 1000 wird abzuklären sein, ob die in Romainmôtier belegten Schreiber nach Lausanne gehören. Ich sehe in den ohne geistlichen Titel in nicht bischöflichen Urkunden firmierenden cancellarii Reginold (1031)89 und Othelm (1056–1059)90 Grafschaftskanzler, wobei offen bleibt, wieweit die 1011 von König Rudolf III. an den Lausanner Bischof übergebenen Grafschaftsrechte in der Waadt reichten, ausgeübt werden konnten und die Bestallung des öffentlichen Gerichtsschreiberamtes implizierten91. Kaum zufällig stammt die letzte Kanzlernennung aus der Zeit, da auch im Bestand von Romainmôtier das Institut verschwindet; als es achtzig Jahre später wieder auftaucht, liegt es in der Hand von Dekanen.
Weitere Untersuchungen sind nötig, bevor der Übergang öffentlicher Kanzellariatsrechte an die Kirche geklärt ist; er ist nicht begründbar mit dem Hinweis auf Karls d. Gr. Verfügung von 805, nach der neben Grafen auch Bischöfe und Äbte Notare engagieren sollten92, sondern mit dem viel älteren Ausbau bischöflicher Jurisdiktion im Immunitätsbereich93. Schon in der ersten [p. 221] Hälfte des 9. Jh. tragen Priester, Diakone und Leviten in Lothringen, im Rheinland und in Rätien den Kanzlertitel, seit 887 in Langres, seit 890 in Lausanne und kurz nach 900 auch in Mâcon94. Es ist zu beachten, daß der Kanzlertitel in der Region vorher gar nicht begegnet, daß er sich andererseits um das Jahr 1000 nicht nur in der päpstlichen Kanzlei95, sondern auch in südlichen Bistümern einbürgert, um die gleiche Zeit, da auch die weltlichen Kanzellariate in der Westschweiz aufzuleben scheinen. Deren baldiger Zerfall ist aber, wenn die Institutionen des Königreichs dafür den Rahmen geboten haben sollten, weder in diesen noch in der Angliederung Burgunds an das Reich begründet, sondern in der Aushöhlung der öffentlichen Geltung der Grafschaftsgerichte in der ersten Hälfte des 11. Jh., die in den reichen Beständen von Mâcon und Cluny deutlicher erkennbar ist als in der Waadt96. Die Treuga Dei, die um 1040 in Lausanne verkündet worden sein soll97, gehört zu den Versuchen, einen Ersatz für die öffentlich garantierte Sicherheit zu schaffen, eine Bewegung, von der kirchliche Institutionen nur profitieren konnten.
Für die Entwicklung der kirchlichen Kanzellariate ist die in Lausanne 929 erstmals belegte Verbindung des Schreiberamtes mit der Sakristei, d.h. mit Tresor, Archiv, Skriptorium und Bibliothek wegweisend. Der erste im 12. Jh. bekannte Kanzler der Lausanner Kirche, Dekan Petrus de Ponte [p. 222] (1140–1147), war zugleich Thesaurar98, sein Nachfolger, Dekan Gerald Carbo (ca. 1154–1168), vorher Kantor99. Alle Anzeichen – vom gemeinsamen Auftreten der cancellarii mit den Dekanen in Genf zur Verbindung von Dekanat und Kanzellariat in Sitten und der Kanzlerfunktion der genannten Dekane in Lausanne – weisen darauf hin, daß Befugnisse öffentlicher Kanzellariate über die Dekanate (bzw. Archidiakonate) in die Hände der Domkapitel gelangt sind. Es ist auch für die Westschweiz nicht geklärt, wo und wieweit die Dekanatssprengel mit den pagi übereinstimmten, aber es gibt keinen Zweifel an der (etwa in Cluny früh dokumentierten) Bedeutung der dekanalen Jurisdiktion100, die um 1180 in allen Westschweizer Bistümern in Konflikten mit der bischöflichen Autorität sichtbar und – beginnend in Genf – seit 1225 mit der Schaffung der Offizialate zugunsten der Bischöfe geschwächt wird, ohne deshalb als regionale Trägerin der fides publica auszuscheiden. Die Übernahme von Kanzellariatsrechten durch die Dekane dürfte im 11. Jh. erfolgt sein, und schon früh scheint sich auch eine Delegation vom [p. 223] Dekan an den in der Dignitätenfolge hinter ihm stehenden Kantor angebahnt zu haben. Die Verbindung Kantorei-Kanzlei ist für Kapitelskanzellariate sowohl in der Westschweiz wie in Frankreich charakteristisch; in Besançon ist der Kapitelskantor von St. Etienne schon seit der Mitte des 11. Jh. erzbischöflicher cancellarius101. Damit scheinen die literarischen Kompetenzen der cancellarii in den Vordergrund zu treten, doch sind die arithmetischen Kenntnisse mittelalterlicher cantores nicht zu vergessen; es ging um die Güterverwaltung, und das Kantorenkanzellariat darf auch im 12. Jh. nicht gleichgesetzt werden mit der Leitung des bischöflichen Urkundenwesens102. Die Vorstellung einer Kanzleiorganisation mit Chef und Schreibern ist ohnehin abwegig bei einer jährlichen Produktion von drei bis vier Urkunden.
In Lausanne hat dieses neue Kanzellariat, dessen erste bekannte Vertreter Petrus und Gerald sind, nur allmählich feste Formen angenommen, und hier wie anderswo ist der entscheidende Umbruch vom dekanalen zum Kapitelskanzellariat erst nach dem dritten Laterankonzil (1179) erfolgt. Wir begegnen 1179–97 dem Kantor-Kanzler Wilhelm103, 1182–84 dem bischöflichen camerarius und Vizekanzler Abicellus104, 1196 dem Vizekanzler und 1199–1209 dem Kantor-Kanzler Enguicius Dapifer105, aber die meisten [p. 224] Urkunden des mit dem Kapitel auf Kriegsfuß lebenden Toskaners Roger von Vico Pisano (1178–1212) nennen weder Schreiber noch Kanzler; der Genfer Bischof Arducius (1135–85), der zeitlebens Dompropst in Lausanne blieb, dürfte seinen Mitbruder kaum zu Konzessionen an das Kapitel ermuntert haben. Erst unter Bischof Berthold von Neuchâtel (1212–1220), verstärkt aber erst seit 1224 unter (dem früheren Sittener Dekan) Wilhelm von Ecublens (1221–29) beginnt die nunmehr sehr dichte Kette der Belege für die Kantor-Kanzler, den nachmaligen Bischof von Genf (1215–60) Aimo von Grandson (1210–15)106, den Kreuzfahrer Rudolf von Fruence (1215–28)107, den späteren Bischof (1240–73) Johann von Cossonay (1231–1240)108, den Grafensohn Wilhelm von Gruyère (1240–72), den späteren Bischof von Verdun (1284–89) Heinrich von Grandson (1275–76), nach dessen Ausscheiden das Kanzleramt kaum mehr genannt ist. Zur selben Zeit, als in Sitten das Kanzellariat von der Kantorei gelöst wird, verschwindet es in Lausanne. Die Auseinandersetzungen zwischen Bischof und cancellarius, die in Genf mit dem Sieg des Bischofs, in Sitten mit dem Sieg des Kapitels enden, bleiben in Lausanne längere Zeit unentschieden, gehen auch nur vordergründig zugunsten des Bischofs aus, denn die von ihm als cancellarii nostri bezeichneten und ausschließlich unter dem Bischofssiegel firmierenden Kantoren stehen nicht für bischöfliche Kanzleikontrolle, sondern für die Kontrolle des Kapitels über die bischöfliche Vermögensverwaltung109. [p. 225] Das Kanzellariat der Dekane, Sakristane und Kantoren ist kein öffentliches und bleibt auf das bischöfliche Urkundenwesen beschränkt, aber ihr im 12. Jh. auf bestimmte Geschäfte begrenztes Wirken beweist, daß Attributionen des früheren Grafschaftskanzellariats in den Kapitelskanzellariaten aufgegangen waren, und die Anweisung, die der Churer Bischof 1244 seinem weltlichen cancellarius im Oberengadin gibt, trifft dem Sinn nach – wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen – die Aufsichtsrolle des Kantor-Kanzlers: nec permittat extra societatem eiusdem comitatus predium aliquod alienari110.
Wie in Sitten ist das Kanzellariat des Kantors im 13. Jh. vor allem eine Pfründe; eine direkte Beteiligung an der Kanzleiarbeit ist – im Unterschied zum 12. Jh. – nicht mehr nachzuweisen. Als Vizekanzler erscheint 1221–22 der Propst und Kartularredaktor Cono von Estavayer111, 1228 der Subkantor Joseph112, 1255 der Subkantor Lambert113. Aber das wesentliche Attribut sowohl des frühmittelalterlichen cancellarius wie des spätmittelalterlichen Kanzleichefs, die Kontrolle über die Authentifikationsmittel, bleibt in Lausanne in der Hand des Kantor-Kanzlers, wie er selbst im Jahr 1236 dem Bischof entgegenhält: Dicebat enim quod ille qui sigillum episcopi portabat, debebat cantori iurare quod sigillum custodiret bona fide ad opus episcopi et cantoris et non dimitteret carta de manu sua exire sine licencia cantoris114. Auf die letztere Bestimmung verweist die Formel data (datum) per manum N. cantoris et cancellarii nostri (bzw. Lausannensis) anno …, die stereotyp die vom Kantor-Kanzler firmierten bischöflichen Urkunden des 13. Jh. beschließt. Es sind nun zwar die meisten bischöflichen Urkunden firmiert – wo das nicht der Fall ist, liegt in der Regel Empfängerfertigung durch Zisterzienser, Domstift u. a. vor, oder der Bischof tritt nur als Siegler/Mitsiegler auf –, aber das Kanzellariat erstreckt sich keineswegs auf das Kapitel. In dessen zahlreichen Urkunden treten [p. 226] Kantoren oft als Zeugen, aber nie als cancellarii auf; für seine Urkunden beanspruchte das Kapitel Kanzleihoheit, und es scheint, daß man dabei (wie später in St. Maurice) in der Zeit von ca. 1210–1240 mit der Registratur der Rechtsakte im Kapitelskartular experimentierte. Wie in Aosta, Sitten, St. Maurice und Genf war auch in Lausanne die Kathedralkirche mit Kreuzgang und Kapitelssaal ein locus publicus des Urkundenwesens, und so wie die öffentliche Schreibstätte in St. Maurice 1168 neben dem monasterium liegt, lassen sich auch in Lausanne die Schreiber um die Kathedrale nieder. Zum 27. August 1235 notiert Propst Cono im Kartular: ad preces amicorum P. Eliot sustinuit capitulum quod ipse faceret quoddam scriptorium ante monasterium in loco ubi P. de Arraz habuerat fabricam ad faciendas ad opus monasterii vitreas fenestras, et debet edificium suum inde auferre quam cito capitulo placeret115.
Wieweit aber der Bischof und sein cancellarius, wieweit andererseits das Kapitel Organe freiwilliger Gerichtsbarkeit waren, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht geklärt werden. Jedenfalls war der Offizial nicht der Vollerbe des cancellarius: Galther von Prangins, der erste bekannte Offizial des Bistums, wirkt seit 1244 neben dem Kanzler Wilhelm von Gruyère als Inhaber des kleinen Siegels, während dem Kanzler die Obhut über das große verbleibt116.
Genf: Die unterdrückung des Kanzellariats durch den Bischof
In Genf vermochte sich ein Kapitelskanzellariat nicht zu entfalten; seine Spuren verschwinden hier schon, bevor es in Lausanne festere Formen gewinnt, gegen Ende des 12. Jh., und 1225, als die Lausanner Kanzler-Kantoren – vermutlich auch in Abwehr der Genfer Neuerungen – ihre Ansprüche erst richtig durchzusetzen beginnen, sitzt in Genf schon ein bischöflicher Offizial117. Die Situation ist im 12. Jh. gekennzeichnet durch ständige Auseinandersetzungen [p. 227] zwischen dem Bischof und dem Grafen von Genf, dessen Macht sich über die Vogtei auch auf das Bistum Lausanne erstreckt.
Die äußerst spärliche Überlieferung erlaubt kaum Einblicke in die frühere Entwicklung118. Es ist möglich, daß der in einem königlichen Placitum Rudolfs II. von 926 auftretende Maiolus, wie Schieffer vermutet, ein Grafschaftsschreiber war: Ego in dei nomine Maiolus cancellarius hanc iudicium scripsi, datavi die mercoris XV kal. februarii, anno XV regnante domno nostro Rodulfo rege119. Ihn jedoch zu identifizieren mit dem angeblich 912 belegten Leviten Maiolus scheint mir zu gewagt, weil die als ältestes Dokument des Genfer Staatsarchivs geltende Schenkung der Gräfin Eldegard für das Priorat Satigny kein Original, sondern im besten Fall eine Nachzeichnung ist, die nicht vor dem Ende des 11., vermutlich aber erst um die Mitte des 12. Jh. geschrieben wurde: Ego in dei nomine Maiolus levita ad vicem Uuidrici archicancellarii eo presente atque dictante hanc cessionem scripsi et datavi die veneris X kal. martii anno XXIII regnante donno nostro Rodulfo rege120. Obwohl man über die burgundische Königskanzlei zwischen 910 und 940 kaum etwas weiß, findet der sonst unbekannte Erzkanzler Widricus in ihr sicher keinen Platz121; der Erzkanzlertitel ist auch außerhalb ihrer in der Region zu treffen und meint den ersten Domkleriker, so in einer vom Herausgeber zu 929 gesetzten [p. 228] bischöflichen Urkunde von Mâcon: Ayminius cunctorum devotissimus clericorum atque archicancellarius dictando scripsit et datavit122.
Für 150 Jahre hören wir dann nichts mehr von bischöflichen oder grafschaftlichen Schreibern. Bei der um 1090 datierten Urkunde des Grafen Aimo für S. Michele di Chiusa, die als Schreiber den gräflichen Kaplan Andreas nennt, handelt es sich um eine Fälschung um 1200123; im Unterschied zu Savoyen ist mir vor dem 14. Jh. kein Fall bekannt, wo sich Notare des Grafen von Genf als cancellarii bezeichnet hätten124.
Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob die in Genf im späteren 11. und in der ersten Hälfte des 12. Jh. auftretenden cancellarii solche des pagus (nicht des Grafen), solche der civitas, solche des Bischofs oder solche des Kapitels waren. Maurice de Tribolet hat in seiner die Zeit von 1093–1197 umfassenden Untersuchung über die Kanzlei der Bischöfe von Genf das Problem nicht angesprochen125. Die Genfer cancellarii erscheinen zwar ausschließlich in bischöflichen oder für das Domstift ausgestellten Urkunden – es gibt kaum andere Genfer Privaturkunden vor 1150 –, aber die Tatsache, daß sie so selten auftreten und in den meisten Urkunden nicht genannt sind, ist mit der Vorstellung einer ständigen Kanzleileitung nicht vereinbar. Den ersten Beleg bietet m. W. eine in Genf ausgefertigte Güterschenkung Bischof Friedrichs (1030–1073) für Romainmôtier aus dem Jahr 1073: Ego Algodus advocatus cartam de terra levavi et scribere et firmare rogavi (folgen Zeugen und Sanctio). Ego Amselmus iussu Vuilelmi cancellarii regnante iuniore rege Henrico anno septimo decimo scripsi Geneve di veneris126. Anselm kann bischöflicher Schreiber gewesen sein, aber daß Wilhelm bischöflicher und nicht öffentlicher Kanzler war, ist keineswegs sicher. Dasselbe gilt für die späteren, von de Tribolet aufgeführten cancellarii, die alle Amaldricus heißen (1093–1167?). [p. 229] Ein Amaldricus cancellarius schreibt 1093 für St. Viktor in Genf zwei Schenkungen des Bischofs Wido (Guy) von Faucigny (1083–1119), die mit Zustimmung von Dekanen erfolgt waren, über Güter im pagus Genf127. Derselbe (?) Amaldricus cancellarius ist 1113 – nach drei Dekanen – Zeuge in einer Schenkung von Genfer Grundbesitz an die Abtei Ainay (Lyon), die der gleiche Bischof mit Zustimmung des Grafen Aimo gemacht haben soll128, und gibt in einer anderen, 1113 mit Zustimmung des Kapitels an das Kloster Aulps gerichteten, dem Schreiber Vivianus den Befehl zur Ausfertigung129. Ein Amaldricus cancellarius Gebennensis beauftragt 1148, gemeinsam mit Bischof Arducius (1135–1185)130, den Schreiber Witbertus mit der Ausfertigung der Tradition der Similia an das Domstift durch Aimo von Saint-Gervais131, und erscheint in einem undatierten Vergleich desselben Bischofs zwischen den Zisterziensern von Bonmont und den Kartäusern von Oujon um Weideländereien als erster Zeuge132, vermutlich in einer diplomatischen Mission von der Art, wie sie 1079 der Kanzler Vuitbert von Lyon zum Lob seines Vorgängers schildert: tractante hoc ipso et multum insudante Rainardo tunc temporis cancellario, qui haec omnia per multas familiaritates et magnas collationes rerum sibi commissarum diu praeparaverat133. Die Genfer cancellarii treten also als Schreiber oder solche Beauftragende nur in Urkunden auf, die zur Domäne öffentlicher Gerichtsschreiber gehören: alienationes von ‚steuerpflichtigem‛ Grundbesitz und Unfreien im Bereich des pagus, dessen gewählte Funktionäre sie ursprünglich waren134. Die Versuchung, eine bischöfliche Kanzlerdynastie der Amaldrici zu konstruieren und für 1093 (–1113?) einen ersten, für 1113–1148 (1167) einen zweiten Amaldricus anzunehmen, liegt um so näher, als von 1134–1167 ein Kantor [p. 230] und Dekan Amaldricus begegnet, der nach den vergleichbaren Verhältnissen in Lausanne und Sitten mit dem zweiten Amaldricus cancellarius identisch sein könnte135, deshalb aber nicht als bischöflicher Kanzleichef eingestuft werden darf. Vielmehr wird in keinem Bistum deutlicher, wie die dekanale Jurisdiktion sich mit den Kompetenzen der öffentlichen Gerichtsschreiber verband, zweifellos nicht im Interesse des Bischofs. Schon der Doppelauftrag von 1148 signalisiert, wie Bischof Arducius das Kanzellariat des Amaldrich höchstens duldete, und offensichtlich war er nicht bereit, nach dessen Ausscheiden eine Neubesetzung des Amtes zuzulassen, denn in den Jahren 1178–1181 tritt er persönlich als Vertreter des cancellarius auf: Ego N.N. scripsi (et feci) hanc cartam iussu domini Arducii Gebennensis episcopi gerentis (habentis) vices cancellarii136. Später ist der Titel nicht mehr belegt. Die bischöfliche Regie über das Kanzellariat, die möglicherweise schon nach dem Regalienstreit in den 60er Jahren begonnen hatte, nun aber – in einer Zeit schärfster Konflikte mit dem Grafen und wohl auch mit dem Kapitel – die endgültige Durchsetzung der Stadtherrschaft begleitete137, kann nur bedeuten, daß das Kanzellariat wie in Sitten und Aosta als Teil der Regalien galt und vorher nicht unter bischöflicher Kontrolle stand. Es ist deshalb wahrscheinlich, daß die Genfer cancellarii des 11. und 12. Jh. mit der fides publica ausgestattete Organe freiwilliger Gerichtsbarkeit in der Nachfolge der öffentlichen Gerichtsschreiber waren; wie die Verbindung mit dem Jurisdiktionsbereich der Dekane zustande kam und wie das Kanzellariat zum Grafen stand, bleibt aber unklar. Man muß annehmen, daß es sich unter Arducius (als beneficium?) in der Hand der Amaldrici befand und in ihrer Familie vererbt wurde; Dynastien von cancellarii sind auch hinter den Turumberti in St. Maurice, vielleicht auch hinter den Durandi in der Waadt zu vermuten138. Als aufstrebender Landesherr konnte der Graf den Fortbestand des Kanzellariats an sich ebenso wenig wünschen wie der Bischof, aber es ist wohl denkbar, daß er ähnlich wie der Graf von Savoyen mit Richardus cancellarius (1147–1173)139 in den Amaldrici nützliche Instrumente für den Ausbau der Herrschaft gefunden hatte.
[p. 231] Andere Genfer cancellarii sind nicht bekannt, wohl aber einige Mitarbeiter an bischöflichen Urkunden. Unklar ist die Funktion eines von Edouard Mallet als Sakristan bezeichneten Mannes, der 1099 mit data manu Bernardi magistri Gebennensis ecclesie firmiert140. Unter Bischof Arducius diktiert 1156 ein Kaplan Galter141, in den kritischen Jahren 1178–1181 schreibt ein canonicus (et magister) Guitbertus (Gilbertus)142, der wohl identisch ist mit dem Schreiber von 1148 und mit dem 1191 als Domherr und Dekan und 1195 wiederum als magister titulierten Urkundenschreiber Guitbertus143, dazu 1181 ein Petrus144, der identisch sein kann mit dem Petrus Savers, welcher 1196 im Auftrag des Kantors Wilhelm von Clets eine Urkunde schreibt und damit den m. W. einzigen expliziten Nachweis liefert für die Kanzleiaufsicht durch den (auch hier ohne Kanzlertitel agierenden) Genfer Kantor145. Ähnlich wie dem Grafen von Savoyen war es den Genfer Bischöfen gelungen, die Kontrolle über das Urkundenwesen zu behalten und es in die Hände von Leuten zu legen, die ihnen persönlich verpflichtet waren. Eine doppelt ausgefertigte Schlichtungsurkunde der Bischöfe Nanthelm von Genf und Nanthelm von Sitten für Graf Thomas von Savoyen und die Abtei St. Maurice schließt 1198 mit: Ego Ubaldus episcopi Gebennensis capellanus hoc instrumentum dictavi (scripsi) ipso et domino Sedunensi iubente, wobei die eine, in der diplomatischen Minuskel von St. Maurice geschriebene Ausfertigung dictavi, die zweite, in moderner Kursive geschriebene aber scripsi sagt und damit Ubaldus als versierten Spezialisten ausweist146.
Saint-Maurice und Savoyen: cancellarius publicus – publicum sigillum
Die älteste Privaturkunde der Westschweiz, 765 für die über einem frühen Heiligtum vom Burgunderkönig Sigismund im Jahr 515 gestiftete Abtei St. [p. 232] Maurice (Agaunum)147 ausgestellt, ist nicht allein für die Kenntnis der vom König eingerichteten laus perennis148 und die Organisation der Mönche in turmae von Bedeutung; die Schenkung des Ayroenus bietet auch die erste Schreibernennung: Ego Uuandalmarus hanc donationem a sacrosancto loco rogitus scripsi et subscripsi149. Der Wortlaut läßt auf einen öffentlichen Schreiber schließen, aber die isolierte Urkunde erlaubt kaum weitere Aussagen über die Funktion des Wandalmar. Vor dem 10. Jh. bleibt das Kanzleiwesen des um 830 in ein weltliches Chorherrenstift umgewandelten Klosters umso schwerer faßbar, als auch die Produkte des Skriptoriums fehlen. Wenige Urkunden mit Nennungen von Schreibern sind schon aus der Zeit vor dem Sarazenensturm (um 940) überliefert, zuerst 878 – das älteste Original – mit Berthold, dem der Priester Balther diktiert150. Wie anderswo firmieren sie in der Folge als Presbiter, Diakone, Leviten und Kanoniker – in einem Fall als notarius (942/43)151 – und erst gegen Ende des 10. Jh. findet man cancellarii des Klosters, erst nach dem Jahr 1000 und nur vereinzelt Schreiber, die [p. 233] vice cancellarii N. subskribieren152, so daß hier eine Übernahme der Titulatur aus der rudolfingischen Kanzlei möglich ist. Spätere Berufungen auf altes Kanzleirecht dürften in der Stellung der Abtei als vornehmstem königlichem Eigenkloster begründet sein153.
Ich verzichte darauf, die ältere Geschichte der von ca. 940 bis 1032 weitgehend mit der burgundischen Königskanzlei identischen Klosterkanzlei zu erörtern154; die Reihe der von Schieffer genannten Schreiber und Kanzler läßt sich ergänzen und über 1032 hinaus fortführen. Belegt sind der Kanzler Turumbert (1043–46?) mit den Priestern Arnold und Poppo als Schreibern155, der Kanzler Tietmar (um 1070) mit dem Diakon Anselm, der [p. 234] einmal dem Diktat des Witelmus folgt156, nochmals ein Kanzler Turumbert (1108) mit dem Schreiber Odolricus157. Nach der Mitte des [p. 235] 12. Jh. bestand beim Kloster eine öffentliche Schreibstelle (scripta)158. Obwohl alle genannten Belege für das Kloster geschrieben sind, ist es unwahrscheinlich, daß das Kanzellariat der Turumberti und des Tietmar nur in klösterlichen Rechten verankert war, denn nachdem die Grafen von Maurienne (Savoyen) 1034 mit den sakralen auch die politischen Zentralortfunktionen des rudolfingischen St. Maurice übernommen hatten, blieb jede Autonomie des Stifts aufgehoben. Graf Amadeus III. (1103–1148) machte es 1128 zum regulierten Augustinerstift, gab ihm 1143 die von seinem Bruder okkupierte Propstei zurück und stellte 1147 den Abtstitel wieder her, bevor er zum Kreuzzug aufbrach, aber die Konflikte dauerten unter seinem Sohn Humbert III. (1147–1189) an, und wenn das Skriptorium in der Folge aufblühte, so sind doch kaum Elemente eines stiftischen Kanzleistils zu erkennen, die die spätere Entwicklung andeuten würden.
Die Kanzellariatsrechte von St. Maurice erstreckten sich im 13. Jh. auf das Chablais ([pagus] caput laci) und dürften schon im 11./12. Jh. nicht nur auf sakral und grundherrlich begründeten Privilegien der Abtei, sondern auch auf pagus-Rechten beruht haben. Die Humbertiner versuchten schon früh, die alten Kanzellariatsrechte zu vereinen und auf ihren ganzen, die pagus-Ordnung durchkreuzenden Herrschaftsbereich im Westalpenraum auszudehnen. Die Bestrebung steckt hinter dem Ego Ricardus cancellarius scripsi einer am 16. Januar 1147 in Turin von Graf Amadeus III. für Aosta ausgestellten Urkunde159; derselbe Ricardus cancellarius erscheint 1150 zweimal als Zeuge im Gefolge Graf Humberts III. in St. Maurice160, 1172 als erster Zeuge und comitis capellanus in einer von Willelmus notarius domini comitis für Staffarda geschriebenen Urkunde161 und 1173 als Richardus comitis cancellarius [p. 236] und Unterhändler des ersten Vertrags zwischen Savoyen und England162. Wenn eine Urkunde des Grafen Thomas für den Gr. St. Bernhard im April 1189 mit Datum Aquaebellae per manus Bernardi capellani et Mauritii cancellarii nostri schließt163, so handelt es sich bei Mauritius, der noch im gleichen Jahr und später nur als comitis notarius auftritt164, genauso wie bei Aymo capellanus et cancellarius Sedunensis episcopi, der im selben Jahr 1189 in St. Maurice begegnet165, um den Versuch des Landesherren, die öffentliche cancellaria zu einem Hofamt zu machen, die Garantie der fides publica, die das alte Kanzellariat impliziert, den Funktionen seines Kanzleichefs einzuverleiben. Dem Grafen ist der Versuch gelungen, dem Bischof von Sitten nicht. Vor diesem Hintergrund ist auch der Titel Auguste cancellarius zu sehen, den Stephanus (1149–90) und Petrus (1190–95) als Schreiber der chartae augustanae führen166. Es ist ausgeschlossen, daß die Savoyer in Aosta ein Kanzellariat duldeten, das lehensrechtlich von ihnen unabhängig war, aber sie ließen bis ins 14. Jh. Gewohnheitsrechte gelten, die auch später die [p. 237] Sonderstellung Aostas (und der Waadt) im Rahmen der Statuta Sabaudiae begründen sollten167. Die Richterfunktion, die seit der zweiten Hälfte des 10. Jh. in der Titulatur norditalienischer Notare (iudex et notarius) und seit der zweiten Hälfte des 12. Jh. in derjenigen der cancellarii der Grafen von Toulouse in ihren provenzalischen Territorien (iudex/causidicus et cancellarius) öfter zum Ausdruck kommt, dürfte auch in Savoyen im 12. Jh. – in St. Maurice vermutlich schon im 11. Jh. – ein wesentliches Attribut der cancellarii gewesen sein. Und nicht zu übersehen ist bei Ricardus cancellarius die politischdiplomatische Funktion, die auch bei den Amaldrici in Genf und in den Bistumskanzellariaten gegeben ist; sie wird, verbunden mit der des Siegelbewahrers und Ratspräsidenten, den savoyischen cancellarius im 14. Jh. zum eigentlichen Ministerpräsidenten machen168.
Die Bedrohung der Kanzleirechte im savoyischen Unterwallis ging vom Bischof von Sitten aus. Anlaß war vermutlich die 1187 gegen Graf Humbert III. verhängte Reichsacht, die Abt Wilhelm (ca. 1179–1184?) die Mittel in die Hand gab, auch nach seiner Erhebung zum Bischof von Sitten (?1184–1196) das Regiment über das von einem gleichnamigen Abt geleitete St. Maurice zu behalten169. Sobald sie um 1189 konkreter faßbar wird und bis 1224 steht die Stiftskanzlei unter dem Diktat von Sitten, während umgekehrt die Sittener Kanzlei – wie Leisibach beim Vergleich der Codices richtig vermutete170 – unter dem Einfluß der im Skriptorium von St. Maurice gepflegten Minuskel steht. Es ging um die Kontrolle über die einzige Abtei in dem bei seinen knappen Landreserven von den monastischen Reformbewegungen unberührten Bistum. Erste Versuche der Emanzipation fallen in das Abbatiat des Gunther (?1198–1203), eines Chorherren von St. Ursus in Aosta, und wie in Sitten wird auch hier das auf lange Tradition bauende Valdostaner Kanzellariat Anregung geboten haben. Schon 1199 firmiert der Stiftskantor mit Ego Aymo sanctae Agaunensis ecclesie cantor scripsi hoc cyrographum [p. 238] sigillo Agaunensis capituli praemunitum171; es ist vielleicht der gleiche Aymo, der schon 1179 als Stiftsherr unter Abt Wilhelm von Ecublens auftrat172, sicher derselbe, der 1189, nachdem sein Abt Bischof in Sitten geworden war, im Chablais als dessen capellanus et cancellarius firmiert173 und dann bis 1199 im Dienst des Sittener cancellarius das Urkundenwesen im Unterwallis bestimmt174, wenn auch in der Zwischenzeit andere Schreiber wie der canonicus Girold Quartery für das Kloster schrieben175. Zwischen 1199 und 1202 zeichnet Aymo als Agaunensis ecclesie cantor et cancellarius176. Ob er identisch ist mit Gunthers Nachfolger im Abbatiat (1204–1223) oder mit dem seit 1203 als Kantor und 1207 als Kanzler in Sitten bekannten Aymo, vermag ich nicht zu entscheiden. Unter dem Abt Aymo scheint es in St. Maurice kein Stiftskanzellariat gegeben zu haben177; es taucht erst unter seinem Nachfolger Nanthelm (1224–58) wieder auf, und man kann annehmen, daß die 1224 zwischen Graf Thomas und Bischof Landrich getroffenen Vereinbarungen hinter dieser Entwicklung stehen178. Unter Nanthelm war die Abtei wieder savoyisch; erst unter ihm entstand in St. Maurice ein von Sitten unabhängiges Kanzellariat.
Wie in Genf, Lausanne und Sitten war eine wichtige Entscheidung in St. Maurice um 1180 gefallen. Bis zu diesem Jahr scheint es kein Abteisiegel gegeben zu haben; die Urkunden sind entweder unbesiegelt – was für das Fortleben einer früheren Kanzellariatstradition sprechen mag – oder mit Siegeln von Bischöfen und weltlichen Herren bekräftigt. Seit 1180 erscheinen Siegel sowohl des Kapitels (ein rundes Reitersiegel des hl. Mauritius)179, mit dem [p. 239] jedoch vor 1230 nur wenige Urkunden versehen sind, wie auch der Äbte, die manchmal gemeinsam mit dem Kapitelssiegel verwendet werden180. Auch in St. Maurice wird die übliche Rivalität zwischen Abt und Konvent in diesen Jahren ausgetragen, doch ist sie sekundär gegenüber der Tatsache, daß die Stiftsurkunden vor 1224 in aller Regel vom Bischof von Sitten besiegelt oder gar als Sittener Kanzleiurkunden gefertigt sind181. Die Entscheidung für das Siegel machte die Klosterurkunden zu authentischen Instrumenten, die des cancellarius eigentlich nicht bedurften. Die seit 1232 gängige, seit 1224 bisweilen verwendete Beglaubigungsformel Ad maiorem huius rei (facti u.a.) firmitatem (oder: ad preces vero utriusque partis) appositum est huic scripto sigillum capituli Agaunensis182 macht denn auch das Siegel zum alleinigen Beglaubigungsmittel und nennt in der Regel weder Kanzler noch Schreiber; die stark spatiiert geschriebenen Worte sigillum capituli Agaunensis, die die letzte Zeile oft in so auszeichnender Weise ausfüllen wie das N. episcopante N. imperante der siegellosen Sittener Kanzleiurkunde, betonen eine Eigentümlichkeit, die beim Vergleich mit den ähnlich gestalteten Kapitelsurkunden von Lausanne viel von ihrer Originalität verliert. Mit Berufung auf „alte und bewährte Gewohnheit‟ gelang es dem Kloster 1245, seine auctoritas conficiendi sive creandi cartas seu publica instrumenta durch Amadeus IV. für das ganze savoyische Unterwallis inkl. [p. 240] Entremont und Chillon bestätigen zu lassen183 und sein Siegel als publicum sigillum zu etablieren184, aber die kurze Blüte, die das Minutarium maius zwischen 1232 und 1290 widerspiegelt, vermag nicht hinwegzutäuschen über die Unfähigkeit der Chorherren, in einem Kerngebiet savoyischer Herrschaft ein Kanzleimonopol aufrechtzuerhalten, das in savoyischer Sicht in erster Linie dazu diente, die Sittener Kanzleihoheit im Chablais auszuschalten und die eigene durchzusetzen. Niemand hat das Kanzleiprivileg früher und erfolgreicher außer Kraft gesetzt als die savoyischen Beamten und Lehensleute, als die von den gräflichen Judikaturen längst domestizierten Notare; die besiegelte Kanzellariatsurkunde von St. Maurice ist auf dem Feld freiwilliger Gerichtsbarkeit eine Sonderform der von savoyischen iudices praktizierten „Amtsurkunde‟185.
Die zwei Minutarien der Kapitelskanzlei von St. Maurice sind aus ungleichen Pergamentheften zusammengesetzte Konvolute186. Einzelne Hefte sind kontinuierlich geführte Register, andere Kopialhefte ohne chronologische Ordnung, in die Kanzleiurkunden und schon besiegelte Urkunden Dritter zwecks größerer Sicherheit nachträglich registriert wurden187. Die angekündigte Edition des aus zahlreichen Heften bestehenden Minutarium maius wird im einzelnen Klarheit schaffen. Das Minutar enthält auf 239 Folien 1378 Urkunden der Jahre 1232–1312, dazu fünf vereinzelte Stücke zu 1228, 1313, 1316, 1322 und 1332188. Aus dem Kanzellariat des Kantors Nicolaus von Commugny (1232–1248) stammen nicht über fünf Einträge pro Jahr; sie sind vermutlich nach 1250 registriert worden. Die unregelmäßige Registerführung erhellt aus der Anzahl der Stücke, die unter jedem neuen Kanzler nach einem raschen Start rapide sinkt. Unter Petrus von Saint-Gingolph (1248–1261) und Jacobus von Vufflens (1260–1272) übersteigt die Zahl nur einmal zwanzig (27 Stücke zu 1262). Zu Beginn der 70er Jahre folgt ein Hoch (43 Stücke zu 1275) und bis 1285 bleibt die Zahl [p. 241] in der Regel über zwanzig. Das Maximum liegt in den Jahren 1286–1289 (mit 103, 51, 67, 64 Stücken), gefolgt von einem Abfall auf ca. dreißig Stücke von 1290–1298, auf weniger als zwanzig nach 1300, weniger als zehn von 1305–1312. Das Minutarium maius ist also in keiner Weise repräsentativ für die Menge der im Chablais produzierten Urkunden. Bis zur Mitte des 13. Jh. sind die Kantoren bisweilen als Schreiber genannt, nachher als levatores und Schreiber zugleich. Seither treten – nach dem Vorbild Sittens – als levatores vice cantoris (kaum je: cantoris et cancellarii) Ortsgeistliche auf189, seit 1280 gewinnen die öffentlichen Notare im Dienst der Abtei das Übergewicht; sie stellen um 1300 schon erheblich mehr Instrumente unter der Regie der savoyischen Judikatur Chablais aus als unter derjenigen des Klosters190.
Der Titel des cancellarius publicus, den der stiftische Kantor-Kanzler nach 1245 zuweilen führt, postuliert wohl ein Kanzellariats-, aber kein Beurkundungsmonopol191. Wie in Aosta neben der charta augustana192 gibt es auch im Chablais neben seinen Produkten weiterhin die Siegelurkunde anderer Herrschaftsinhaber, abgesehen von den chertras der Sittener Kanzlei im bischöflichen Wallis oberhalb von St. Maurice und von den Instrumenten der geschworenen und freien Notare. Die Titulatur cartarius Agaunensis193, die später vom Kanzler verwendet wird, ist insofern genauer als die des cancellarius publicus, als sie dessen Wirkungsfeld auf ganz bestimmte, dem stiftischen Kanzellariat vorbehaltene und wie in Sitten und Aosta vornehmlich Grundstücksgeschäfte betreffende Urkunden von dauernder Wirkung (contractus perpetui et testamenta) einschließt194.
So unstabil wie die Einrichtung selbst bleibt auch das Formular195, das erst seit 1232 mit dem Kantor Nicolaus feste Gestalt annimmt, jedoch – wie Partsch gezeigt hat196 – seit 1260 zunehmend dem Einfluß römischrechtlicher [p. 242] Formen unterworfen ist. Wie in Sitten sind die meist kleinen Pergamente sorgfältig fast bis zum Rand vollgeschrieben – unter Nicolaus in einer charakteristischen gotischen Buchminuskel; zur Unterscheidung von Sitten zieht man seit ca. 1235 quadratische und hochformatige Stücke vor. St. Maurice weist auch im Formular zunehmende Verwandtschaften mit Aosta auf, die seine Urkunden deutlich von denen der Sittener Kanzlei abgrenzen. Der Text ist zwar auch hier sehr knapp gehalten, ohne Inscriptio und Arenga von der Notificatio (Noverint universi presens scriptum inspecturi, quod…, mit Varianten) direkt überleitend auf die – im Unterschied zu Sitten meist objektive – Nennung der Parteien, bzw. des Vorgangs oder Vertragsgegenstands (mit Delimitation, Preis, Garantien). Es folgen meist die Handlungszeugen vor dem Datum (Actum), nach diesem jedoch oft in eigenen Reihen die fide iussores (Bürgen) und die laudatores197. Den Schluß bildet meist die obgenannte Beglaubigungsformel – sie kann auch vor dem Datum stehen – mit der Siegelankündigung. Ein wesentlicher Unterschied zur Sittener Kanzleiurkunde liegt nicht nur im Fehlen einer Sanctio mit Bußandrohung198, sondern auch jeglicher Anrufung einer höheren Autorität – des Königs oder des Grafen – im Datum. Ebenso ist der (schreibende) Kantor-Kanzler unter Nicolaus von Commugny nur selten genannt. Man verließ sich ganz auf SANCTUS MAURICIUS LEGIONIS THEBEE DUX (Siegelumschrift), eine spirituelle Autorität, aber nicht auf den Papst. Mit der Führung des Minutarium maius begann die Anpassung an die Erfordernisse der fides publica. Bußandrohung und Nennung von Schreiber (Levator) und Kantor reichten aber nicht aus; den Chorherren fehlte nicht nur das politische Gewicht, das die Domherren in Sitten beim Ausbau ihrer Kapitelskanzlei in die Waagschale warfen, ihr Haus war anders als Valeria den Strömungen der Welt und dem Einfluß des Machtzentrums Chillon ausgeliefert.
Sitten: Die unbesiegelte chertra cancellariae des Domkapitels
Ähnlich wie in Genf bestimmt die Rivalität zwischen der weltlichen Macht des Grafen – hier des Savoyers an der Süd-Nord-Straße des Gr. St. Bernhard mit den Zentren St. Maurice und Chillon (Villeneuve) – und der weltgeistlichen [p. 243] Macht des Bischofs von Sitten im Ost-West-Tal den Verlauf der Walliser Geschichte im hohen und späten Mittelalter. Seit fränkischer Zeit waren die Bischöfe öfter zugleich Äbte von St. Maurice, im hier interessierenden Zeitraum Aymo von Savoyen (1046–1054), und die personellen Verbindungen zwischen dem Kloster des hl. Mauritius und dem Domstift in Sitten haben das Urkundenwesen beider nachhaltiger beeinflußt, als hier gezeigt werden kann.
Das Sittener Kanzellariat199, von allen das langlebigste (11.–17. Jh), scheint 1005 mit Adalber cancellarius belegt, der sich als Schreiber der ältesten im Kapitelsarchiv liegenden Urkunde, eines Tauschs zwischen den Bischöfen Hugo von Sitten und Hugo von Genf um Güter in comitatu Vualdense vorstellt200. Die gepflegte karolingische Buchminuskel des zeugenlosen und nicht lokalisierten Stücks mit der schwer erklärlichen Rasur zu dux Ruodolfus201 stammt von einem geübten Geistlichen, und es ist wahrscheinlich, daß Adalber Kanzler des Domstifts von Sitten war, obwohl die Urkunde waadtländischen Besitz betrifft und die Kanzleizuständigkeit nicht eindeutig ist.
Unter dem genannten Bischof Aymo (im Bistum 1037–1054) ist dann der Kanzler Durandus (1043–1053) bekannt aus drei bischöflichen und einer Domstiftsurkunde über Güter im Wallis; die älteste hat er selbst geschrieben202, während die anderen von Aimo diaconus… sub vice Durandi [p. 244] cancellarii203, von Ǒdalricus presbiter … iubente et dictante Durando cancellario204 und von Hugo vice Durandi cancellarii205 mundiert sind. Die beiden ersten Urkunden stammen nicht von der gleichen, aber von schulverwandten, an Buchschrift orientierten Händen, die des Udalrich ist nur in einer Kopie des späteren 12. Jh. überliefert, und die letzte hält sich mit ihren hohen, verschleiften s, den Unterlängen und den Elongatateilen im abgesetzten Rekognitionsblock trotz fehlender Besiegelung ganz an den Stil der Diplome, so daß eine paläographische Einheit der Gruppe nicht erkennbar wird. Obwohl Bischof Aymos Nachfolger, der bekannte päpstliche Legat und spätere burgundische Kanzler (1082–1087) Heinrichs IV.206, Ermenfried (1055–1087), vor seinem Episkopat während vierzehn Jahren als erzbischöflicher Kanzler Hugos von Salins in Besançon gewirkt hatte, sind aus seiner Zeit keinerlei Zeugnisse der Sittener Kanzlei erhalten207, und bis 1180 bleibt die Überlieferung so dürftig, daß über die Kanzleiorganisation nur Vermutungen möglich sind. Zu 1131 ist eine einschlägige Schenkung des früheren Dekans Burkhard an das Domstift überliefert: Ego Burchardus hanc cartam levavi die sabbati et scribere eam rogavi XVI kal. ianuarii. Factum est autem anno M° C° XXX° I° ab incarnatione domini. Ego Fulcherius hanc cartam scripsi vice Petri cancellarii, Leuterio rege VII anno regnante208.
[p. 245] Nachdem der Bischof 999 die Grafschaftsrechte im Wallis von König Rudolf III. empfangen hatte209, dürfte das ius cancellariae, das er später dem Domkapitel zu Lehen gab, schon um 1050 seiner Kontrolle nicht entgangen sein, obwohl man beim Öffentlichkeitsanspruch des Kanzellariats die freie Verfügung ohne das consilium baronum terrae210 ausschließen muß. Wenn es auch keinen Beweis gibt für die Zugehörigkeit des Durandus zum Kollegium der fratres, so steht sie doch außer Zweifel, und die Verwandtschaft der Schrift des Diakons Aimo mit der seines cancellarius macht es wahrscheinlich, daß Durandus – ähnlich wie sein Kollege in Chartres von Bischof Fulbert (1006–1028) – scolarum ferulam et cancellarii tabulas gleichzeitig empfangen hatte211. Wie später in Sitten war in Besançon die Oberaufsicht der Domschulen – nicht deren unmittelbare Führung – schon früh Sache der Kantoren; Ermenfrieds dortiger Nachfolger Hugo ist der erste im Kreis der hier zu vergleichenden Bistümer belegte Kantor-Kanzler (um 1060)212, doch ist die Union auch dort nicht obligatorisch. Entscheidend ist für die Zuerkennung der kirchlichen Kanzellariate nicht, wer jeweils mit der Ausbildung des Klerikernachwuchses betraut war, der Sakristan, der Kantor oder der Dekan, sondern wer jurisdiktionelle Funktionen ausübte, wie es für die genannten Dignitäre in Sitten belegt ist zum Jahr 1196, als der Kardinallegat Bernhard dem Elekten Nanthelm und dem Kapitel – zweifellos im Anschluß an Bestimmungen des dritten Lateranums – verbot: ne aliquis in ecclesia vestra sive sit decanus, sacrista vel cantor seu quilibet alius, accepta vel promissa pecunia obtentu alicuius consuetudinis causas matrimoniales vel alias nisi coram episcopo si presens fuerit vel capitulo de cetero audeat terminare213. Es ist anzunehmen, daß [p. 246] schon Durandus im 11. und Petrus im 12. Jh. das Kanzellariat von Sitten im Rahmen einer dieser Dignitäten verwalteten; die Verbindung wird besonders deutlich mit dem Kantor und Kanzler Bernardus, der gleichzeitig Archidiakon von Aosta gewesen sein soll (1168)214. Es gab also schon vor 1180 ein Kantorenkanzellariat in Sitten; seine Entwicklung wird aber erst faßbar nach dem dritten Laterankonzil (1179).
Im Jahr 1181 besiegelte Bischof Cono (1179–1181) eine Abmachung mit dem Kapitel, die schon weitestgehend das Formular der späteren siegellosen Kanzleiurkunde aufweist und von Amadeus vice Seguini cancellarii geschrieben ist215, demselben Amadeus, der 1195 Kanzler Wilhelm kurzfristig vertreten wird216; da die Urkunde bald beschädigt und ihr Siegel zerbrochen war, hat Bischof Landrich (1206–1237) sie transumiert und – ohne neue Schreiber- und Kanzlernennung – mit seinem Siegel bekräftigt. Der 1181 ohne Stiftsamt genannte Kanzler Seguinus ist von 1189–1203 mehrfach belegt als Dekan von Valeria (d.h. des unteren, romanischen Wallis), der höchsten Kapitelsdignität und letzten Stufe eines cursus honorum, der oft in der Folge canonicus-sacrista-cantor-decanus abläuft217. Vermutlich war Seguinus [p. 247] bis 1188 Sakristan (oder Kantor) und Vorgänger des Guillelmus, der in diesem Jahr in einem vom bischöflichen Kaplan Aymo geschriebenen und von Bischof Wilhelm besiegelten Chirographen über Güter in Ouchy (Lausanne) erstmals erwähnt ist218. Die Urkunde illustriert, wie das Kanzellariat ausschließlich für landesinterne Geschäfte zuständig war, und so wie sie sind auch später bischöfliche Urkunden für auswärtige Empfänger bzw. über nicht dem ius cancellariae unterworfene Rechtsgeschäfte als Siegelurkunden ausgefertigt219. Während Wilhelm in der Urkunde von 1188 nur als sacrista auftritt, wird er ein Jahr später vom gleichen bischöflichen Schreiberkaplan Aymo als cancellarius angerufen in einem vor dem Kapitel in Gegenwart Bischof Wilhelms gefertigten Grundstücksgeschäft des Abtes Wilhelm von St. Maurice über Güter bei Bex, das – ebenfalls als Chirograph gestalter – sowohl vom Bischof wie vom Sittener Kapitel besiegelt wurde und wie die Seguinus-Urkunde von 1181 weitgehend das spätere Kanzleiformular aufweist220. Die Urkunde von 1189 belegt nicht bloß, daß das Sittener Kanzleiformular um 1180 in den Hauptzügen festgelegt war – m.E. wurde es nicht vor 1179 geschaffen –, sondern auch für Geschäfte im savoyischen Chablais verwendet wurde.
Das Jahr 1189 war für die Machtstellung des früheren Abtes von St. Maurice und nunmehrigen Bischofs von Sitten, Wilhelm von Ecublens [p. 248] (1184–1196), von entscheidender Bedeutung. Graf Humbert III. war in Reichsacht, als er im März 1189 starb, sein Sohn Thomas (1189–1233) noch minderjährig. Im Zug der staufischen Westalpenpolitik, die 1186 auch den Genfer Grafen in die Reichsacht und den dortigen Bischof Arducius in eine vorteilhafte Lage versetzte, verlieh König Heinrich VI. am 7. Mai 1189 in Basel dem Bischof von Sitten die Regalien, deren Investitur Graf Humbert (manifestus hostis imperii) an sich gerissen hatte, und machte die bischöfliche Herrschaft damit reichsunmittelbar221. Wenn das Bistum die Regalieninvestitur schon unter Landrich von Mont (1206–1237) wieder an Graf Thomas verkaufen oder abtreten mußte222, so gewann es doch für drei Jahrzehnte eine bedeutende Macht, die sich auch über die Abtei St. Maurice erstreckte; bis 1224 tritt der Bischof von Sitten im Unterwallis als eigentlicher Herr auf. In diese Periode fällt nicht nur die Ausgestaltung der Kanzellariate von St. Maurice und Sitten, sondern auch die Belehnung des Domkapitels mit der Sittener cancellaria, die in späteren Auseinandersetzungen als Teil der von Karl d. Gr. an Bischof Theodul verliehenen Regalien dargestellt wird, eine Legende, die eben um 1189 entstanden sein dürfte223. Obwohl das Formular der Sittener Kanzleiurkunde schon 1181 fertig erscheint mit der später stereotypen Beglaubigung aus Schreiber- und Kanzlernennung, Bußandrohung, actum publice (mit Ort) und den (in den Originalen) stark spatiiert geschriebenen Autoritäten N. (feliciter) episcopante, N. regnante (imperante), ist die Seguinus-Urkunde von 1181 noch mit dem bischöflichen, die erste Urkunde des Kanzlers Wilhelm von 1189 zusätzlich mit dem Kapitelssiegel bekräftigt. Allen folgenden Kanzleiurkunden fehlt dagegen das Siegel, so daß ich annehme, die Belehnung des Domkapitels mit der cancellaria sei 1189 oder kurz danach während Wilhelms Episkopat, d.h. zwischen 1189 und 1196 erfolgt. Sie gehört m. E. zu den Arrangements, wie sie der Bischof mit den barones terrae – denen die Domherren zuzurechnen sind – in einem frühen Landfrieden treffen mußte, als dessen Schreiber Gottfried Partsch den bischöflichen Kaplan Aymo namhaft gemacht hat224.
Es scheint, daß Aymo darüber hinaus die Schlüsselfigur in der Geschichte der Walliser Kanzellariate sowohl in St. Maurice wie in Sitten gewesen ist. [p. 249] Im gleichen Jahr 1189 ist er als Aymo capellanus et cancellarius Sedunensis episcopi erster Zeuge vor dem Klostersakristan Petrus und anderen Leuten aus dem Chablais in einer Urkunde, die mit dem Bischof von Sitten nichts zu tun hat225. Aymo – vermutlich schon 1179 Chorherr in St. Maurice226 – versteht sich hier nicht als Sittener Kanzler, denn dort amtierte Sakristan Wilhelm, sondern als von seinem Bischof kommissarisch im Chablais eingesetzter Garant der fides publica. In der Folge bleibt Aymo Urkundenschreiber für das Unterwallis unter der Aufsicht des Sittener Kanzlers, wie u.a. ein 1199 vor dem Kapitel in Sitten von Bischof Nanthelm ausgestelltes Chirograph für die Chorherren vom Gr. St. Bernhard illustriert: Ego Aymo canonicus Agaunensis iussus a Villielmo sacrista et cancellario Sedunensi hoc scripsi cirographum227. Nach dem Schriftvergleich halte ich Aymos Identität mit dem Schreiber Aymo für gesichert, der sich um 1200 als Agaunensis ecclesie cantor und Agaunensis ecclesie cantor et cancellarius präsentiert und möglicherweise identisch ist mit dem nachmaligen Abt Aymo von St. Maurice (1204–1223)228. Die von Aymo zwischen 1188 und 1202 geschriebenen Urkunden sind besiegelte Chirographen, alle Originale entsprechen nach innerer und äußerer Form der Sittener Kanzleiurkunde des 13. Jh., alle sind mit außerordentlicher Disziplin und Sparsamkeit geschrieben und formuliert, in der Regel kleine Querformate mit einem Seitenverhältnis von 1: > 2. Wenn die spezifische Gestalt autochthon sein mag, so gehört sie doch in den Rahmen eines seit der Mitte des 12. Jh. von Frankreich aus verbreiteten Typus von charte courte229, die in Schrift und Formular als Produkt der von den magistri propagierten scholastischen Rationalität zu verstehen ist.
Bei der verwirrenden Namensgleichheit jeweils mehrerer Kapitelsmitglieder in St. Maurice und Sitten (Aymo, Wilhelm) ist es ohne eine umfassende prosopographische Studie schwierig, die Karrieren der um 1200 mit dem Kanzleigeschäft befaßten Personen zu verfolgen230. Sicher ist zwischen 1203 und [p. 250] 1208 in Sitten ein Revirement in Kapitel und Kanzlei erfolgt. Das Kanzellariat wurde von der Sakristei gelöst und Sakristan Wilhelm, der bis 1203 beide verwaltete, blieb auch nach seiner Beförderung zum Dekan (Nachfolger des Seguinus) Kanzler bis 1205/06231, als der seit 1203 wirkende Kantor Aymo das Amt kurzfristig übernahm (1207)232. Aymos Nachfolger im Kantorenamt waren alle gleichzeitig Kanzler: Wilhelm von Ecublens (1208–21), Boso von Granges (1221–22), Aimo von Venthône (1222–32), Heinrich von Raron (1232–37), Jakob von Monthey (1237–43), Walter von Chouson (1244–48), Reynerius (1248) und Normand von Aosta (1249–85), nach dessen Tod cancellaria et carte von der Kantorei getrennt und von wechselnden Domherren zum Profit des Gesamtkapitels verwaltet wurden233. Stellung und historische Wurzeln des Kanzellariats sind erkennbar in den Lebensläufen der dem Regionaladel angehörenden cancellarii: Wilhelm von Ecublens wurde Bischof von Lausanne (1221–28), Boso von Granges erst Dekan, dann Bischof von Sitten (1237–43), Aimo von Venthône Dekan (1235–67), Heinrich von Raron Dekan und Bischof von Sitten (1243–71). Das Kanzellariat war die hohe Schule der Politik.
Das Sittener Kanzleiformular234 bleibt nicht unverändert im 13. Jh., aber [p. 251] immer sehr knapp und in ähnlicher Weise so gestaltet, daß der Notificatio (Notum sit omnibus [Christi fidelibus] quod) die meist subjektive Nennung des Gebers (Ego N.N.) – oft mit laudatio parentum235–, der Art des Rechtsgeschäfts (vendidi et finavi, dedi et concessi u.a.) und der Name des Nehmers (N.N. et heredibus suis) folgt, wobei der Grund für das Geschäft – d.h. eine Narratio – kaum je gegeben ist. Es folgt die Nennung des Objekts (mit Delimitation), des Preises und der Garantien, darauf die Rogatio des Gebers (Inde rogavi cartam fieri et testes apponi qui sic vocantur) mit den Zeugen, in der Regel drei oder vier, deren letzter seit 1234 gewöhnlich der levator carte ist (et N. qui cartam levavit)236, der auch mit dem Schreiber oder mit dem den Schreibbefehl erteilenden identisch sein kann und wie diese vice N. cantoris et cancellarii Sedunensis, bzw. seit 1285 vice capituli Sedunensis cancellariam tenentis handelt. Bis 1234 folgt auf die Zeugen Sanctio mit Pön ([quam] si quis [hanc cartam] infringere attemptaverit, maledictionem dei omnipotentis incurrat et LX libras cum obolo aureo regie potestati persolvat); sie wird nachher, weil der Schreiber dann unmittelbar auf den Levator folgt, zwischen Kanzlernennung und Actum gesetzt. Bis 1234 folgt auf die Sanctio die Nennung von Schreiber und Kanzler (Ego [autem] N. hanc cartam scripsi vice… [wie oben]), dann das Actum [publice], das sich im Lauf des 13. Jh. vom öffentlichen Ort (vor der Kirche, im Kapitelsaal, oder bloß in der Ortschaft) mehr und mehr in die Nähe der Parteien verlegt, aber die Fiktion gerichtlicher Öffentlichkeit wachhält. Das Datum beschränkt sich anfänglich auf das Inkarnationsjahr, fügt dann den römischen Kalendertag hinzu und schließt mit der Nennung von Bischof und König (ohne Regierungsjahre), während der Papst in Kanzleiurkunden nie (in bischöflichen Siegelurkunden nur gelegentlich) angerufen wird.
Formalien der fränkischen carta237 sind erkennbar, doch wird es auch nach den wertvollen Beiträgen von Gottfried Partsch über die allmähliche Ablösung der die Kanzleiurkunde auszeichnenden Rechtsformen, die weder als burgundische, noch als fränkische, noch als vulgarrömische, noch gar als ligurische eindeutig zu charakterisieren sind, weiterer Untersuchungen bedürfen, bis die spezifische Mischung begreifbar wird, die selbst innerhalb des Wallis regional unterschiedlich ausgeprägt erscheint. Die neuen römisch-rechtlichen Elemente fließen erst seit Mitte des 13. Jh. von Westen nach Osten und vom Haupttal in die Seitentäler ein und drängen das Kanzellariat ab in die Reduits, [p. 252] aus denen uns die meisten seiner Zeugnisse bekannt sind. Noch in dieser Zeit ist nicht der in seiner Vermittlerbedeutung – auch für den Warentransport – überschätzte Gr. St. Bernhard, sondern das provenzalische Rhonetal der wichtigste Infiltrationsweg.
Die Frage, warum die Sittener Kanzleiurkunde, die außerhalb des bischöflichen Wallis keine Authentizität beanspruchen konnte, auf die Verwendung des Siegels verzichtet, ist nicht leicht zu beantworten. Wie die siegellose charta augustana, deren Kreis auch die mit Sitten und St. Maurice verbundene Propstei vom Gr. St. Bernhard zugehört, bezieht sie ihre fides publica aus der königlichen Autorität, derselben, der auch die Bußgelder zu entrichten waren. Neben dem König beruft sie sich immer auf den Bischof von Sitten als Regalieninhaber, 1212/13 und sporadisch auch später sogar auf ihn allein238, während man sich in Aosta nur auf den König, in St. Maurice – nach einem Intermezzo bischöflicher Oberhoheit und gelegentlichen Anrufungen der regia potestas – weder auf Bischof noch König, auch nicht auf die landesherrliche Gewalt des Grafen von Savoyen berief. Die Sittener Kanzleiurkunde steht damit wohl in der Tradition der siegellosen Kanzellariats-Carta, aber man wird nach dem Gesagten kein ungebrochenes Fortleben, sondern eine forcierte Renaissance um 1180 annehmen, die als Reaktion gegen die ihr Siegel als Herrschaftszeichen durchsetzenden Landesherren, den Bischof von Sitten und den Grafen von Savoyen, zu verstehen ist. Gewiß hat die kleinräumige Zirkulation und das bis heute ausgeprägte Autonomiebewußtsein der Walliser Talschaften wie in Aosta das Überleben eines Urkundentyps gefördert, der auf der auch im provenzalischen Raum noch lebendigen Vorstellung einer starken öffentlichen Gewalt beruht, gewiß haben die Juristen, die man hinter manchen Walliser magistri vermuten darf, die fides publica im landes- und gerichtsherrlichen Siegel nicht ausreichend garantiert gefunden und dabei auch auf die Praxis der piemontesischen notarii sacri palatii verweisen können, deren Instrumente seit dem mittleren 12. Jh. im Wallis erscheinen239, und vermutlich haben die Siegeltaxen manche Vertragspartner [p. 253] dazu veranlaßt, der siegelfreien Kanzleiurkunde den Vorzug zu geben240. Schon 1221 erließ der camerarius des Grafen von Savoyen, der dessen Siegeleinkünfte zu Lehen hatte, der Propstei vom Gr. St. Bernhard und der Abtei St. Maurice die Siegelgebühren für gräfliche Urkunden241. Was sich im Wallis abspielt, ist aber jenseits aller juristischen und fiskalischen Erwägungen ein Kampf um die Macht. Wer sie besaß, konnte sein Siegel als Marke der Authentizität in seinem Sprengel durchsetzen. Für die Sittener Kanzleiurkunde kam weder das bischöfliche noch das Kapitelssiegel in Betracht, in St. Maurice mußte man das Kapitelssiegel dem des Abtes vorziehen.
Die konsequenteste Politik betrieb der Graf von Savoyen. Nachdem er schon vor der Mitte des 12. Jh. die Kanzellariatsrechte an seine curia gezogen hatte, unterwarf er auch die Notare deren Oberaufsicht. Die notarii sacri palatii haben zwar formal reine Instrumente mit Signet, Anfangsdatierung usw. gefertigt, aber schon 1229 muß ein von Notar Petrus in Villeneuve rezipierter Vergleich zwischen Anna von Sembrancher und der Propstei vom Gr. St. Bernhard, dem Graf Thomas als fideiussor beisteht, dessen Siegel akzeptieren: et ad maiorem captelam instrumentum iussit sigilli sui munimine corroborari242. Zehn Jahre später wird Graf Amadeus die franchises von Sembrancher besiegeln, deren Schreiber Jacobus sacri palatii et comitis Sabaudie notarius et scriptor schon in der Titulatur ausweist, wie rasch der Graf sein Ziel erreicht hatte243. Es wird in Savoyen kein von der gräflichen Gewalt unabhängiges Notariat geben. Die Versuche des Bischofs von Sitten, im Unterwallis eine ähnliche Politik zu betreiben, sind gescheitert, und im Bereich seiner Landesherrschaft mußte er sich im Unterschied zu den Bischöfen von Genf und Lausanne den Ansprüchen des Kapitels beugen.
So wurde das 13. Jh. zur goldenen Zeit des Sittener Kanzellariats. Aus den [p. 254] bescheidenen Anfängen um 1180 wuchs bald ein weitverzweigter Dienstleistungsbetrieb in Sachen fides publica, der neben Hauptschreibern aus dem Kapitel244 zunehmend kurzfristig engagierte clerici, iurati, notarii beschäftigte. Schon 1234 ging man dazu über, Ortsgeistliche kommissarisch als levatores cartarum einzusetzen, bzw. ihnen cancellaria et carte in bestimmten Distrikten auf begrenzte oder Lebenszeit zu verpachten und sie ihrerseits Unterschreiber anstellen zu lassen245. Sie sollten die Willenserklärungen der Parteien aufnehmen in einer noch in der Eidesformel von 1345 geforderten Weise: Item quod in presentia partium scribet levaciones chartrarum quas levabit, videlicet formam contractus prout poterit et diem et testes et sic levatas leget partibus contrahentibus246. Levacio bedeutet sowohl Imbreviatur wie Ausfertigung; im Unterschied zu den Dorsualimbreviaturen der charta augustana sind so entstandene Vorakte aus Sitten bisher nicht bekannt geworden. Die levatores sollten sie – je nach Distanz – innert zwei bis vier Monaten nach Sitten bringen und hier ausformuliert in Register eintragen lassen; erst dann wurden sie bei Bedarf für die Parteien ausgefertigt. Das umständliche Verfahren konnte nicht befriedigen, und so sind denn auch die meisten Register von den levatores an ihren jeweiligen Standorten geführt worden mit der Verpflichtung zur jährlichen Ablieferung an die Kanzlei247. Betrachtet man den Vorgang aus der Optik des 14. Jh., dann liegt es nahe, die notariale Registerpraxis als Modell anzunehmen. Die besondere Gestalt, die die charta augustana im Rahmen des frühmittelalterlichen Gebrauchs von Konzept und Ausfertigung erfand, indem sie das Dorsualkonzept als Teil der Ausfertigung, diese aber als [p. 255] Ergänzung des Dorsualkonzepts betrachtete248, scheint in der Zweistufigkeit von Aktaufnahme durch die levatores und Registratur bei der Sittener Kanzlei unter dem Einfluß des Notarswesens fortgebildet worden zu sein. Die ältesten und bekanntesten Walliser Register sind das oben besprochene Minutarium maius der Stiftskanzlei von St. Maurice (seit ca. 1250) und das schon auf Papier geschriebene Minutar des kaiserlichen Notars Magister Martinus de Seduno (seit 1275)249, denen dann gegen Ende des 13. Jh. die nach Levationsbezirken getrennten Minutare der Sittener Kapitelskanzlei folgen250. Die nachweislich auch in Aosta geführten Minutarien scheinen dagegen verloren zu sein251. Bei der frühen Anlage der Minutarien in Buchform – es ist ungewiß, ob schon 1234 damit begonnen wurde252 – dürften die Register der öffentlichen [p. 256] Notare in Norditalien und in der Provence nicht die ersten Vorbilder gewesen sein253. Die älteren Traditionseinträge des Kartulars von Hauterive254, insbesondere aber der zweite Teil des Lausanner Kapitelskartulars (ca. 1210 bis 1240)255 stellen aktenkundlich nicht untersuchte Registerformen dar, denen das Minutarium maius von St. Maurice näher steht als den späteren Notariatsregistern, ganz zu schweigen etwa von den Schreinskarten des 12. und den Schreinsbüchern des 13. Jh. in Köln256, die ebenfalls zu den Einrichtungen freiwilliger Gerichtsbarkeit gehören, die zwischen 1150 und 1250 – vor dem Durchbruch der italienischen Praktiken – in unterschiedlichen Registerformen zutagetreten, deren Reduktion auf italienische Vorbilder die entscheidenden Wandlungen im nordalpinen Urkundenwesen des Hochmittelalters verschleiern würde.
Wenn das Kapitelskanzellariat in wenigen Pfarreien des zentralen Wallis bis ins 17. Jh. fortbestand257, begann seine nie gesicherte Monopolstellung doch schon seit der zweiten Hälfte des 13. Jh. von Westen her abzubröckeln, in erster Linie zugunsten der Siegelurkunde gerichtsherrlicher Gewalten, in zweiter Linie zugunsten des freien, hier bald bischöflicher Kontrolle unterworfenen Notariats und des erst 1271 vor allem gegen die dekanale Jurisdiktion geschaffenen Offizialats258, und schon im 14. Jh. regte sich auch der Widerstand politischer Körperschaften wie der Gemeinden und Zenden, die die freie Wahl des Notars durch die Parteien forderten. Die Zeit um 1300, aus der entlegene Bergtäler mit Tausenden von Kanzleiurkunden ein Material hinterlassen haben, wie man es vor dem 15. Jh. selbst in Städten der Westschweiz vergeblich sucht259, ist schon die Zeit des Rückzugs. Besonders erhellend [p. 257] ist hier der Prozeß, den das Kapitel von 1320–1326 über alle Etappen von Rechtsgutachten, Offizialats- und Schiedsverfahren bis zum Metropoliten von Tarentaise und zu Papst Johannes XXII. in Avignon gegen den bischöflichen Neffen und Vasallen Johann von Anniviers, Gerichtsherrn im Val d’Anniviers, um die Behauptung des ius cancellariae gegen das gerichtsherrliche Siegel in dieser Talschaft führte – und verlor: gegen eine jährliche Entschädigung in der Höhe der früher vom Ortspfarrer geleisteten Pacht mußte das Kapitel dem vir potens, der seine Leute dazu gebracht hatte, sein Siegel der chartra des Kanzellariats vorzuziehen, das ius cancellariae über Pfarreiangehörige abtreten260. Die Eindämmung der tabelliones, denen das Kapitel nur ganz bestimmte Schriften und Vertragsarten mit einer Laufzeit von erst höchstens fünf, dann acht Jahren zubilligen wollte261, war trotz bischöflicher und kaiserlicher Intervention nur partiell möglich. Man war sich bewußt, im Kanzellariat eine anachronistische Einrichtung zu bewahren, und stilisierte sie 1331 zur „legitimen vaterländischen Eigenart‟: Quoniam non est novum, sed est consonum rationi iuris scripti et non scripti ac consuetudinarii, quod unaqueque provincia in suo sensu habundet et quod principes terrarum circa confectiones et autorizationes publicorum instrumentorum aut litterarum super contractibus inhiendis conficiendarum suis utantur consuetudinibus laudabilibus262. Die laudabilis consuetudo dicte patrie [Vallesii] ab antiquo servata wurde 1355 von Karls IV. vicarius, 1365 von ihm selbst bestätigt263. Schon 1335 hatten die nobiles und syndici von Martigny gegen den Monopolanspruch der Sittener Kanzlei auf Verträge von mehr als acht Jahren Laufzeit mit dem Beschluß rebelliert: quod nulla cherta cancellarie Sedunensis fiat in districtu Martigniaci in casu testamenti, in casu [p. 258] matrimonii, in casu donationis, in casu escambii, in casu confessionis debiti, in casu manifestationis feudorum, in casu venditionis perpetue vel aliquo alio contractu264.
In ständiger Sorge um Kundschaft befahl das Kapitel seinen geschworenen Schreibern, bei den Parteien für die Kanzleiurkunde zu werben (inducendo partes ad faciendum chartras cancellarie) und sie nicht durch zu hohe Gebühren abspenstig zu machen265. Aus der reichen Dokumentation zu diesen Auseinandersetzungen wird deutlich, wie sich das alte Kanzellariat zu einem kapitelseigenen Konkurrenzbetrieb gegen das freie Notariat gewandelt hatte. Seine nun cancellarii genannten clerici, iurati, levatores, die selbst sehr oft dem Stand der tabelliones angehörten, lebten im Zwiespalt zwischen Eigennutz und Kapitelsinteresse, aber auch zwischen zwei Welten des Rechts, die in den instrumenta cum signis seu notis notariorum, que appellantur carte de noe und den chartre cancellarie aufeinanderprallten266. Der weitere Verlauf des Konflikts im späten Mittelalter ist, wenn auch oberflächlich, bekannt267.
Vom Kanzellariat zum Notariat: Wandlungen im Hochmittelalter
Der Nachweis der Kontinuität vom fränkischen zum hochmittelalterlichen Kanzellariat ist für die Westschweiz kaum zu führen. Von der Urkunde des Wandalmar für St. Maurice im Jahr 765 bis zu jenen des Diakons Bernhard für das Lausanner Domstift um 890 erscheint der Kanzlertitel nie, und es ist nach den vergleichbaren Verhältnissen in Burgund anzunehmen, daß er im kirchlichen Bereich vor dem ausgehenden 9. Jh. gar nicht und auch im 10. Jh. nur in Verbindung mit einem geistlichen Titel geführt wurde. Ein hervorragendes Zeugnis des öffentlichen Schreibertums in der karolingischen Burgundia bietet jedoch die von Wandalgar im November 793 abgeschlossene Niederschrift der Lex Romana Visigothorum (Breviarium Alarici), der Lex Salica und der Lex Alamannorum im Codex Sangallensis 731, wo sich Wandalgar nicht bloß mit notariellem Rekognitionszeichen im datierten Kolophon, sondern auch in einer bildlichen [p. 259] Selbstdarstellung mit Stab und Schreibtafel präsentiert268, die beim Inhalt der Handschrift wohl weniger als scholarum ferula et cancellarii tabulae269 denn als Insignien eines cancellarius-iudex, bzw. nach der Terminologie des Breviars eines tabularius-iudex zu interpretieren sind270. Es spricht zwar nichts gegen eine westschweizerische Herkunft Wandalgars – St. Maurice läge dann bei den Beziehungen seines Abt-Bischofs Altaeus zu Karl d. Gr.271 näher als Genf –, aber es gibt für die heute übliche Lokalisierung bisher keinen Beweis, wenn auch jüngst von Josef Leisibach in der Bibliothek des Gr. St. Bernhard entdeckte, nur wenig jüngere Fragmente eines Breviarium Alarici, die u.a. von der fides publica der tabularii handeln272, die Bedeutung dieses Gesetzeswerks in der Region eindrücklich illustrieren.
Erst im 10. Jh. sind mit Maiolus in Genf (926), Bonizo in Lausanne (? 961) und Rudolf in Moutier-Grandval (969) cancellarii ohne geistlichen Titel belegt, die man als Grafschaftskanzler verstehen kann. Gleichzeitig tauchen mit Heinrich in St. Maurice (942/43) und Herenbert in Romainmôtier (981–86) notarii auf, die in einem Begegnungsraum fränkischer und alemannischer Rechtsordnungen jenen cancellarii gleichzustellen sind273. Zwischen 1000 und 1060 sind in der Waadt (Romainmôtier und Lausanne) eine ganze Reihe von cancellarii nachzuweisen, in denen ich öffentliche Kanzler sehe. Als gemeinsamer Nenner aller frühen Kanzellariate stellt sich die Garantie der fides publica durch die von der Staats-, bzw. Königsgewalt abgeleitete Kompetenz [p. 260] der cancellarii heraus; sie tragen ihren Titel nicht, weil sie Urkunden produzieren oder einer Kanzlei vorstehen, sondern als Inhaber des ius cancellariae, Organe freiwilliger Gerichtsbarkeit insbesondere im Bereich des Immobiliarverkehrs: Kanzellariat heißt niemals Beurkundungsmonopol. Der genaue Umfang der Kanzellariatsrechte dürfte aber zeitlich und örtlich variiert haben. Die Wurzeln der Kanzellariate in der Westschweiz sind schwer faßbar. Das Formular der älteren Urkunden erlaubt – auch in Aosta – keine Zweifel an fränkischer Tradition, doch muß deren Gewicht im Vergleich zur spätantik-burgundischen Eigentradition274 wie auch im Rahmen einer provenzalischen „Renaissance‟ im 10./11. Jh. erst noch untersucht werden. Zwar ist die Schriftlichkeitsforderung, die von der Lex Alamannorum schon im ersten Artikel für Vergabungen an die Kirche erhoben wird (carta firmata), noch in spätkarolingischer Zeit auch im alemannischen Bereich geläufig275, doch verschwinden entsprechende Arengen nach dem öffentlichen Gerichtsschreibertum schon bald. Nach spätantiken Mustern hat man dagegen in der Provence und in Burgund noch im 11. Jh., in der Kanzlei von St. Maurice auch über 1032 hinaus die Schriftlichkeit speziell für Grundstücksübertragungen (Tausch, Kauf, Schenkung) gefordert, einprägsam etwa in der Formel von 1028: Cum antiquissimae semper fuerit consuetudinis, res donabiles, donatas, donandas usu litterario corroborare276. Und noch 1108 werden hier [p. 261] bei solchen Übertragungen litterae testatoriae verlangt277. Vismara hat auch gezeigt, wie die Anrufung rechtlicher Autoritäten, die altem Arengenbrauch entspricht278, in der Sonderform gleichzeitiger Anrufung von leges und canones vorwiegend im Rhoneraum fortlebte bis ins 11. Jh. und erst von dort wieder in die lombardischen Formulare Eingang fand279. Zahlreiche Elemente spätantiken Rechts sind in hochmittelalterlichen Quellen der Westschweiz schon aufgezeigt worden280. Es ist diese consuetudo mehr als die fränkische Tradition, die auch das Kanzellariat trug; das Rückzugsgebiet des Kanzellariats entspricht dem Rückzugsgebiet der consuetudo281.
Georges Duby hat im Mâconnais nach 1030 einen rapiden Schwund urkundlicher Schriftlichkeit festgestellt und ihn wie das Wiederaufleben um [p. 262] 1180 mit der évolution des institutions judiciaires begründet282. Die Feststellung des Zusammenbruchs des öffentlichen Schriftwesens gilt ab 1050 auch in der Westschweiz, sichtbar im Erlöschen der weltlichen Kanzellariate in der Waadt, in der Formlosigkeit der Urkunden von Romainmôtier, in der Spärlichkeit der Überlieferung selbst in den kirchlichen Zentren. Im Wallis (St. Maurice) und in Aosta ist der Umbruch weniger spürbar, der nicht bloß die Burgundia erfaßt – auch die reichen Überlieferungen von St. André-le Bas in Vienne und Cluny machen keine Ausnahme283 –, sondern weite Teile der Francia. Der überall festzustellende Verlust des öffentlichen Charakters der Grafschaftsgerichte und damit des Kanzellariats ist nur die Folge eines tiefgreifenden, von Robert Fossier als eigentliche Revolution beschriebenen284 politisch-ökonomischen Strukturwandels, den für die Waadt des 11. Jh. schon Heinrich Büttner festgestellt hatte285. An die Stelle der pagi und comitatus treten die potestates der Feudalherren und Klöster. Der Zerfall der karolingischen Grafschaftsverfassung, der schon im 9. Jh. einsetzte, beschleunigte sich um das Jahr 1000 und fand um 1050 seinen Abschluß auch in einem Gebiet, wo der Begriff der autorité publique als Erbe der Spätantike länger wachgeblieben war als in fränkisch-alemannischen Territorien.
In die Lücke trat die Kirche. Das Seilziehen um die Garantie der fides publica, das während des ganzen Mittelalters andauert, scheint in einer ersten Phase (9.–10. Jh.) zugunsten der Kirche, in einer zweiten (11. Jh.) zugunsten der weltlichen Gewalten, in einer dritten (12. Jh.) wiederum zugunsten der Kirche ausgegangen, dann aber sogleich zu einem solchen zwischen den in den Kapiteln vertretenen Feudalherren und den nach Landesherrschaft strebenden Bischöfen geworden zu sein, das zwar auf lange Sicht – in Genf schon um 1180 – zum Vorteil der Bischöfe ausgehen sollte, zwischen 1180 und 1280 aber zumindest in Lausanne und darüber hinaus im Wallis von den Kapitelsherren dominiert wurde. Das im Immunitätsbereich gewachsene kirchliche [p. 263] Kanzellariat, wie es seit 890 in Lausanne erscheint, hat seinen Einfluß ausgeweitet und über die dekanale Jurisdiktion Kompetenzen der weltlichen Kanzellariate aufgesogen; um 1130 liegen diese allenthalben in den Händen von Stiftsdignitären, insbesondere von Dekanen. Die Probleme, die das dritte, von allen Westschweizer Bischöfen (außer Basel) besuchte Laterankonzil von 1179 lösen sollte286, sei es nun bezüglich der manus publica und der scripta authentica, des competens aliquod beneficium für die Schulleiter, der Beschränkung der archidiakonalen und dekanalen Jurisdiktion, besonders aber der Veräußerung von Kirchengut durch die beim Kathedralenbau verschuldeten Bischöfe (die in Basel zur Absetzung des Bischofs, in Lausanne zu schweren Konflikten zwischen Bischof und Kapitel geführt hatten) lagen schon längst in der Luft, aber es ist sicher, daß das Konzil in allen Bistümern als Katalysator wirkte, denn anders ist die Gleichzeitigkeit nicht zu erklären, mit der in Genf das Kanzellariat unterdrückt, in Lausanne das Kantorenkanzellariat etabliert, in Sitten die siegellose Kanzleiurkunde entwickelt und in St. Maurice das Kapitelssiegel zum Beglaubigungsmittel gemacht wurde. Wie die oben skizzierte Entwicklung in der Grafschaft Savoyen, der bedeutendsten weltlichen Macht des Raumes, zeigt, bestand neben den kirchlichen auch das weltliche Kanzellariat als ein wesentliches Mittel beim Ausbau der Landesherrschaft. Die Frage ist, warum die Auseinandersetzung um 1180 so akut wurde.
Das Anschwellen der Urkunden- und Aktenproduktion seit dem letzten Drittel des 12. Jh. ist ein allgemein beobachtetes Phänomen des westeuropäischen Mittelalters287. Als das Marburger „Lichtbildarchiv älterer Originalurkunden‟, wo die Westschweizer Bestände gut vertreten sind, seinen Sammelzeitraum von 1200 auf 1250 ausdehnte, hat sich sein Sammelvolumen vervielfacht288. Zwischen 50 bis 100 Prozent der bis 1250 erfaßten Originalüberlieferung fallen je nach Bestand in die Zeit nach 1200289. Man verschätzt sich [p. 264] kaum wesentlich mit der Annahme, drei Viertel aller im Reichsgebiet zwischen 900 und 1250 entstandenen Urkunden seien nach dem Jahr 1200 produziert worden, und die Hälfte der früher ausgefertigten Stücke gehöre in das letzte Drittel des 12. Jh.290. Für die Westschweiz gilt, wiewohl sie von einem hohen Sockel ausgeht, ähnliches. Hier wie anderswo liegen die Wachstumsraten nach 1100 um 2 Prozent291, so daß sich die jährliche Urkundenproduktion etwa alle 30 Jahre verdoppelt, d.h. pro Jahrhundert verzehnfacht, und eine aktive Kanzlei mit einem mittleren Jahresausstoß von einer Urkunde um 1100 deren zehn um 1200 und deren hundert um 1300 produzieren wird292. Das Wachstum setzt sich fort nach 1300, wird durch die Krisen des [p. 265] 14. Jh. eher stimuliert als gebremst, verlagert sich jedoch zunehmend zugunsten der Akten, so daß die Menge der Siegel- und Notarsurkunden des Spätmittelalters kein Indikator für die gesamte Aktenproduktion ist. Für das Verständnis des Phänomens ist damit ein Anhaltspunkt gewonnen: Die hochmittelalterliche „Bevölkerungsexplosion‟, die auch bei optimistischen Schätzungen Wachstumsraten von einem halben Prozent kaum übersteigt293, erklärt nur einen geringen Teil des Multiplikators294. Der wachsende Abstand zwischen Dokumentations- und Bevölkerungskurve umschreibt den Raum, in dem die Kanzleien des Spätmittelalters sich breitmachen.
In der Westschweiz steht an der Schwelle zum neuen Zeitalter der Dokumentation das außerordentliche Kartular des Domkapitels von Lausanne, zwischen 1200 und 1240 angelegt von Propst und Vizekanzler Cono von Estavayer († 1243), in einer Zeit, als Peter II. von Savoyen, der künftige Graf († 1268) und große Promotor schriftlicher Administration, dort Domherr war. Hält man sich die dynastischen Beziehungen des Savoyers nach der Provence, nach Flandern und Frankreich sowie den Umstand vor Augen, daß seine englischen Besitzungen ebenso einträglich waren wie die alpenländischen, betrachtet man weiterhin das Interesse von Propst Cono, der von seiner Teilnahme am Begräbnis König Philipp Augusts mit Notizen über das Budget der französischen Monarchie heimkehrte, nicht für zufällig, dann wird der administrative Eifer spürbar, der um 1200 am Genfersee herrschte. Von den über tausend Urkunden, Aktenstücken, chronikalischen und andern Einträgen, die Cono dem Kartular einverleibte, fallen etwa 50 ins 9. u. 10. Jh., nur ganz wenige zwischen 1001 und 1150, über neunhundert aber in den Ausgang des 12. und die erste Hälfte des 13. Jh.295.
[p. 266] Man schreibt kirchlichen Bestimmungen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung zu. Ohne Zweifel war die Kirche ebenso wie das städtische Bürgertum und die Kaufleute am Schutz interessiert, den die Schriftlichkeit bot, und ihre Ablehnung irrationaler Beweismittel hat die rationalen Formen der Schriftlichkeit begünstigt296. Die Masse der kirchlichen, überwiegend klösterlichen Grundbesitz betreffenden Urkunden seit der Reformzeit ist eine Folge der massenhaften Neugründungen monastischer und kanonikaler Einrichtungen297. Die Haltung der aufstrebenden châtelains und milites andererseits, deren violencia in mancher Arenga angeprangert wird298, schwankt gegenüber den mönchischen Beweismitteln lange Zeit zwischen Mißtrauen und Verachtung, und es ist offensichtlich, daß sie der instrumenta vorerst nicht bedürfen299, die sie den Klöstern als Defensivwaffen zubilligen wie Graf Ulrich von Neuenburg in einer Urkunde von 1189 für Bellelay: Claustralium universitas imbecillitatem suam et pacem scriptis premuniri gaudet et exoptat, quatenus rei geste memoria de facili deleri non valeat et ab eis occasiones malignandi penitus sopiantur300. Nichts illustriert aber besser den Zwang zur neuen Schriftlichkeit als die Fälschungswellen des 12. Jh. Die kirchliche Gesetzgebung hat den Prozeß nicht initiiert. Obwohl an manchen Stellen auf die Notwendigkeit schriftlicher Form hinweisend, behandelt etwa das Decretum Gratiani (um 1140) den Urkundenbeweis ebenso wenig wie die um 1150 in Mailand entstandenen Libri feudorum: Das Verfahren bleibt mündlich301. Man muß unterscheiden zwischen Beweiskraft der Urkunde und schriftlicher Prozeßführung. Papst Alexanders III. Dekretale Meminimus von 1167/69, die [p. 267] als Bedingung für die Beweiskraft von Urkunden nach dem Tod der Zeugen die manus publica (des Notars, bzw. Gerichts) oder – was nördlich der Alpen wichtiger war – das sigillum authenticum fordert, hat keine Neuerung gebracht302, sondern versucht, eine Praxis zu kanalisieren und der öffentlichen Gewalt die Kontrolle über die Beweismittel vorzubehalten. Es ging nach 1150 weniger um scriptura und memoria303 als vielmehr um probatio und auctoritas. Zwischen 1150 und 1250 bestand aber in der Praxis wie bei den Juristen eine große Unsicherheit bezüglich der fides publica304. Übermäßige Vorsicht war am Platz, abundans cautela, wie gelehrte Legisten seit 1160/70 nach einem Erlaß der Kaiser Arcadius und Honorius aus dem Jahr 396 in Arengen und Corroborationen ihrer Urkunden zu sagen pflegen; die Wendung taucht an verschiedensten Stellen Europas auf, im Jahr 1201 auch in einer Kapitelsurkunde von Sitten305. In dieser Zeit des Suchens [p. 268] nach Sicherheit bietet auch das Kanzleiwesen der Westschweiz ein verwirrendes Bild, und mannigfache Formen bestehen nebeneinander: siegellose Kanzellariatsurkunden neben besiegelten und unbesiegelten Chirographen306, formlose Notitiae neben dispositiven Siegelurkunden. Ein halbes Jahrhundert vor dem Auftreten freier Notare war man sich des Wandels bewußt. Bischof Roger von Lausanne konnte 1197 in einer Arenga postulieren, die Schriftlichkeit allein mache Verträge rechtskräftig: contractus ex ipsa scriptura recipiat firmitatem. Und eine Sittener Kapitelsurkunde von 1203 beginnt mit den Worten: In negociis hominum instrumenta per manum tabellionis confecta plurimum sunt necessaria307.
Ebenso folgenreich wie das Ringen um rechtsverbindliche Urkundenformen wurde für das spätmittelalterliche Aktenwesen die Verschriftlichung des Prozeßverfahrens. Die 38. Konstitution des vierten Laterankonzils (1215) regelte sie bis in Einzelheiten: De scribendis actis ut probari possint308. Die Bestimmungen haben die Attraktivität und Effizienz der Offizialate – auch in der spätmittelalterlichen Westschweiz die produktivsten Urkundsbehörden – ebenso unterstützt wie Innozenz’ IV. Bulle Romana Ecclesia von 1246309, aber auch hier hat die römische Kurie Fragen aufgegriffen, die die „Provinz‟ schon weitgehend entschieden hatte. Das Genfer Offizialat bestand schon 1225, das von Lausanne 1244, das von Sitten aber erst 1271310. Und eine Basler [p. 269] Arenga scheint schon 1187 auf eine Selbstverständlichkeit hinzuweisen mit den Worten: Quoniam iuxta canonum et legum auctoritatem ea que in iudiciis actitantur in scriptis redigi solent311.
Kirchliche Bestimmungen bieten demnach keine ausreichende Erklärung für die Neubelebung der Schriftlichkeit nach 1150; sie reagieren auf Ereignisse, die – wie etwa die Walliser Verhältnisse zeigen – weniger in wirtschaftlichen als vielmehr in politischen und administrativen Wandlungen begründet sind. Trotz der Nähe der Lombardei ist auch die Richtung, aus der die Anstöße zur Renaissance des Urkundenwesens im späten 12. Jh. kamen, ebenso unklar wie die Etappen der Formulierung und Verbreitung der Gedanken von Legisten und Kanonisten. Ich glaube nicht, daß sie in erster Linie in Italien zu suchen sind. Das neue Urkundenwesen der Burgundia des 12. Jh. ist so stark an die Siegelurkunde geknüpft312, die Schrift so deutlich von der Frühgotik geprägt, das Offizialat so eindeutig aus Burgund importiert, das savoyische Aktenwesen so sehr vom westeuropäisch-englischen inspiriert, daß man annehmen muß, von den politischen Polen, dem Reich und seinem zähringischen Rektorat, vor allem aber von Frankreich seien nun auch die entscheidenden Impulse ausgegangen, die vorher aus dem Rhonetal stammten313.
In der zweiten Hälfte des 12. Jh. treten die Spezialisten auf, als magistri zwischen 1160 und 1190 geradezu inflationär. Sie werden zu Exekutoren der Erneuerung, und ihnen ist auch die Reorganisation der Kanzellariate zuzuschreiben, die um 1180 überall greifbar wird. Was sie aufbauen, ist eine Konkurrenzorganisation gegen das die Feudalordnung brechende freie Notariat. [p. 270] Zahlreiche, meist von Juristen verfaßte Arbeiten sind dem Notariat in der Westschweiz gewidmet worden, aber man ist noch weit davon entfernt, das Phänomen zu durchschauen314. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Titel des Notars und seiner Funktion. Notare, ob in Bologna ausgebildete Juristen oder in der Praxis geformte clerici, ob von Kaisern, Pfalzgrafen, Päpsten, Offizialaten oder Städten kreiert, gehören zu den genannten Spezialisten. Es ist irreführend, wenn das Auftreten der notarii publici und eines bestimmten Urkundentyps, des unbesiegelten, vom iustinianischen Recht geprägten italienischen Notariatsinstruments, mit dem Aufkommen des Notariats gleichgesetzt wird. Das freie, öffentliche Notariat ist zwar als Titulatur und in der Form des Instruments seit der Mitte des 13. Jh. in der Westschweiz nachweisbar, naturgemäß vor allem bei „interherrschaftlichen‟ Geschäften, aber es hat sich in dieser Ausprägung nicht durchgesetzt. Vielmehr ist die Westschweizer Notarsurkunde genau wie die savoyische mit dem Siegel der Behörde bekräftigt, in deren Distrikt und mit deren Autorisation der Notar arbeitet. Die Notare nennen sich iurati, sie sind geschworene Schreiber einer oder mehrerer Behörden, zu denen wegen der Vorteile des größeren Reviers meist das Offizialat der Diözese gehört. Im Hinblick auf die Organisation der Kanzleien scheint mir das eigentlich Neue nicht im Auftreten der Notare, sondern in der Produktionsweise der Akten durch bezahlte Spezialisten zu liegen. Die iudices delegati, die Offiziale, die clerici computorum, die commissarii extentarum (Urbarrenovatoren) sind wie die levatores cartarum im Wallis Kommissare, deren Bedeutung für die allgemeine Verwaltungsgeschichte Otto Hintze schon 1910 herausgestellt hat315.
Es ist hier nicht der Ort, die vor allem im savoyischen Herrschaftsbereich von diesen Spezialisten für die Güter- und Fiskalverwaltung produzierten Akten vorzustellen, deren mit alemannischen Verhältnissen unvergleichliche Dichte immer wieder erstaunt; sie sind nun durch das Repertorium von Robert-Henri [p. 271] Bautier und Janine Sornay überblickbar und in ihrem Reichtum erkennbar geworden. In diesem Zusammenhang ist aber festzustellen, daß die besondere Urbarform mit notariell voll ausformulierter recognitio des Besitzers gegenüber dem Grundherrn, welche die Westschweizer terriers (grosses de reconnaissances) so grundlegend unterscheidet von den alemannischen Urbaren, nur auf dem Hintergrund jener consuetudo verständlich wird, die von den cancellarii bewahrt, und jener Kanzleipraxis, die von den magistri geschaffen wurde. Die oft gestellte Frage, warum das öffentliche Notariat die romanisch-alemannische Sprachgrenze in der Schweiz im Mittelalter kaum überschritt und sich so lange auf den rhodanischen Raum und die Patria Vuaudi beschränkte, findet hier ihre Antwort. Als Organ freiwilliger Gerichtsbarkeit hat sich das öffentliche Notariat nur da niedergelassen, wo das öffentliche Kanzellariat mit der Vorstellung von der Notwendigkeit schriftlicher Form für die contractus et conventiones hominum ihm das Terrain offengehalten hatte. Obwohl das in der alemannischen Schweiz zum Teil bis heute allein zugelassene Beamtennotariat und Amtsschreibertum (z. B. Zürich) dem savoyischen Beamtennotariat wie auch dem hochmittelalterlichen Kanzellariat nahe verwandt ist, hat dieses in der Westschweiz des Spätmittelalters zusätzlich ein wesentliches Element von romanitas vermittelt: Insofern ist der notarius iuratus der romanischen Westschweiz der bürgerliche Erbe des feudalen cancellarius.