[p. 147] Die Kanzlei der Erzbischöfe von Köln im Spätmittelalter
Der Überblick über die kurkölnische Kanzlei des späteren Mittelalters, den ich Ihnen vortragen will, kann sich leider nicht auf Vorarbeiten stützen, sondern beruht notgedrungen auf mehr oder minder eingehenden Quellenstudien während der letztvergangenen Monate. Der völlige Mangel an einschlägigen kanzleigeschichtlichen Untersuchungen wird zwar keineswegs wettgemacht, aber doch um einiges gemildert durch die Tatsache, daß die Regesten der Erzbischöfe von Köln inzwischen bis zum Jahre 1390 erschienen sind1. Es liegt also wenigstens eine zuverlässige Materialübersicht vor. Regestenwerke sind aber zuvörderst auf die inhaltliche Erschließung der Quellen hin ausgerichtet; formale Fragen treten demgegenüber zurück, und manche Information, die für hilfswissenschaftliche Fragestellungen von Interesse sein kann, wird unterschlagen. Dies alles hat zur Folge, daß anschließend über weite Strecken keine soliden Ergebnisse, sondern eher Impressionen geboten werden, die erst durch eine spätere intensive Forschungsarbeit als Fakten zu erhärten oder als Irrtümer zu entlarven sind. Der vorläufige Charakter der folgenden Ausführungen darf also nicht aus dem Blick verloren werden.
I
Der erste in jeder Hinsicht spätmittelalterliche Kölner Erzbischof: Konrad von Hochstaden (1238–1261)2 hatte von seinen Vorgängern eine Kanzlei übernommen, die äußerlich – d.h. hinsichtlich der verwendeten Titulaturen – nach dem Vorbild der Reichskanzlei organisiert war. Kanzleichef war der [p. 148] cancellarius, der aber seit dem 12. Jahrhundert vornehmlich als erzbischöflicher capellarius oder capellanus in den Quellen erscheint3. Noch in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts tritt er häufig als Datar erzbischöflicher Urkunden auf4, scheint also damals am Beurkundungsgeschäft tatsächlich beteiligt gewesen zu sein. Darauf deutet auch das Verlangen des Domkapitels hin, die cancellaria que vulgo capellaria vocatur einem Domkanoniker vorzubehalten – ein Verlangen, dem Erzbischof Engelbert I. von Berg 1219 hatte stattgeben müssen5. Unter dem Kapellar arbeiteten in der Regel noch zwei Notare, von denen einer gelegentlich den Titel eines prothonotarius führte6. Er war also der Leiter der Kanzlei im täglichen Routinebetrieb, was durch die Tatsache, daß er neben dem capellarius hin und wieder als Urkundendatar fungierte7, unterstrichen wird. Ob es außerdem noch ständige Hilfskräfte gab, entzieht sich unserer Kenntnis. Allerdings ist sicher, daß mit dem ganzen Schreibgeschäft mehr Leute als nur die wenigen namentlich bekannten notarii archiepiscopi befaßt waren. Das bezeugen die vielen Schreiberhände in den erhaltenen erzbischöflichen Urkunden der Zeit, und diese Hände können nicht mehr – wie noch ein halbes Jahrhundert vorher – ausschließlich oder auch nur in der Mehrzahl im Kreis der Urkunden empfänger gesucht werden8.
Außer der Kanzleiorganisation übernahm Konrad von seinen Vorgängern auch das Kanzleipersonal, vor allem den Kanoniker von St. Andreas in Köln Pilgrim, der seit 1213 als notarius, scriptor oder scriba im Kanzleigeschäft tätig war und unter Erzbischof Engelbert I. 1225 einmal mit dem Titel eines Protonotars ausgezeichnet wurde9, außerdem einen Magister Gottschalk, der [p. 149] 1236 zum ersten Mal als erzbischöflicher notarius begegnet10 und der dann bis in die 50er Jahre der Kanzleichef des Erzbischofs Konrad gewesen ist. Er wird sehr häufig genannt11, zweimal auch in einer Datum per manus – Formel12, die Konrad übrigens als letzter der Kölner Erzbischöfe verwendet hat.
Weist dies alles noch auf Kontinuität im Kanzleibetrieb trotz des akzentuierten Wechsels im Episkopat hin, so fällt eine Neuerung sofort ins Auge: Der Kapellar wurde nun von den Kanzleigeschäften ferngehalten – die späte Konsequenz aus dem Versuch des Domkapitels von 1219, über das Amt des Kapellars Einfluß auf die Verwaltung des Erzstifts zu gewinnen. Das Offizium des capellarius oder „Kepplers‟ blieb zwar erhalten, wurde aber je länger je mehr zu einer bloßen Ehrenstellung für einen Edelkanoniker am Kölner Dom. Die Folge war, daß die – ohnehin schon lockere – Verbindung zwischen erzbischöflicher Kapelle und erzbischöflicher Kanzlei, die in der Figur des capellarius ihren sichtbaren Ausdruck gefunden hatte, nun vollends gelöst wurde. Während noch jener von 1213–1241 als notarius archiepiscopi tätige Pilgrim zugleich auch erzbischöflicher Kaplan gewesen war13 – zweimal wird er ausdrücklich als noster notarius et capellanus tituliert14 –, gab es von 1238 an keinen Notar des Erzbischofs mehr, der auch zu seinen Kaplänen gehört hätte. Es hat sogar den Anschein, als habe Konrad versucht, der Trennung von Kapelle und Kanzlei organisatorisch Rechnung zu tragen. Im Jahre 1249 erscheint zweimal ein Magister Johannes als cancellarius domini archiepiscopi Coloniensis in den Urkunden15, einmal führte er diesen Titel selbst, das andere Mal bezeichnete ihn der Erzbischof damit. Johannes war Kölner Domkanoniker, gehörte jedoch – wie der Magister-Titel anzeigt – zu den studierten sieben Priesterkanonikern, die zusammen mit den Edelkanonikern das Domkapitel bildeten und deren Präbenden die Erzbischöfe gern ihren clerici zuschanzten. Sollte Konrad mit dem Gedanken gespielt haben, sich einen tatsächlichen wie nominellen Kanzleichef zuzulegen, der kein capellarius, sondern nur noch cancellarius war, ohne dabei das Domkapitel zu sehr vor den Kopf zu stoßen? Wie dem auch gewesen ist, nach 1249 verschwand in Kurköln der cancellarius-Titel wieder, nicht nur für Konrads Regierungszeit, sondern für ganze 200 Jahre: bis um 1440. Das Kanzlei- bzw. Kanzellariats-Problem wurde von [p. 150] Konrad anders, und zwar nach erprobtem Vorbild gelöst. Der erzbischöfliche Notar Gottfried, der seit 1247 neben dem Notar Gottschalk unter den Urkundszeugen häufiger erscheint und später Kanoniker und Dekan von St. Kunibert in Köln wurde16, avancierte 1260 zum prothonotarius17. Das blieb für Jahrhunderte der vornehmste Titel, der einem kölnischen Kanzleibeamten gegönnt wurde. Das Amt des Kepplers ging – wie gesagt – zwar nicht unter, es wurde weiterhin von einem hochadligen Domkanoniker bekleidet, der aber mit der Kanzlei nur noch auf eine geistlich-zeremoniale Weise verbunden blieb. Er war nämlich der Vorsteher der 1248 von Erzbischof Konrad bestätigten Lupusbruderschaft, der neben dem Erzbischof und vornehmen Kölner Bürgern auch das gehobene Kanzleipersonal angehörte18, das hier seine neue geistliche Heimat fand, nachdem in der capella des Erzbischofs dafür kein Platz mehr war. Die Zuordnung von Lupusbruderschaft und Kanzlei ist noch für das Ende des 14. Jahrhunderts belegt19.
Neben den schon genannten erzbischöflichen Notaren Gottschalk und Gottfried gab es anfangs der 50er Jahre des 13. Jahrhunderts noch einen weiteren solchen Notar: den Domkanoniker Heinrich von Duisburg, für den aber nur ein Beleg existiert20. Damit ist wenigstens für kurze Zeit eine Besetzung der Kanzlei mit drei Leuten bezeugt. Und das dürfte auch das personelle Volumen gewesen sein, mit dem zu rechnen ist. Es war für die Bewältigung der Arbeit ausreichend, hatte aber auch keine Langeweile; denn der Urkundenausgang war mit ca. 30 erhaltenen Stücken pro Jahr von Konrads Regierungszeit relativ hoch. Berücksichtigt man, daß auch die im Interesse der ecclesia Coloniensis eingehenden Urkunden in der Mehrzahl von der erzbischöflichen Kanzlei diktiert und geschrieben wurden, so kann man durchaus von einem regen Geschäftsverkehr sprechen. Die zumeist in einer gepflegten Kursive geschriebenen Stücke21 und der Mangel an wirklich routinemäßig eingefahrenen [p. 151] Formularen deuten an, welche Mühe man sich mit jedem Schreiben machen mußte und machte. Das gilt insbesondere für die wenigen deutschsprachigen Urkunden22, die unter Konrad zum ersten Mal in Köln erscheinen. Obwohl sie zahlenmäßig noch verschwindend gering sind, wird sich der jeweilige Verfasser damit nicht wenig gequält haben.
II
Nach Konrads Tode sind für viele Jahrzehnte die Nachrichten über die erzbischöfliche Kanzlei sehr dürftig. Zunächst ging die Urkundenproduktion – aus welchen Gründen auch immer – merklich zurück. Für die Jahre 1284–86 z. B. sind nicht mehr als 43 erzbischöfliche Urkunden bekannt. Überdies normiert sich die Vielfalt der überkommenen, nach dem Vorbild von Diplomen und/oder Papstschreiben stilisierten Urkundentypen immer stärker auf die mehr oder minder gleichförmige „litera patens‟ hin, die in der Regel mit Nos und dem Titel des Ausstellers (oder auch einfach mit diesem) beginnt und unter weitgehendem Verzicht auf das Formelwerk wie Arengen, Zeugenlisten u. dgl. sich auf den dispositiven Teil des Schriftstücks beschränkt23. Die unzeremoniöse Schlankheit der Urkundentexte ist sicherlich mit ein Grund dafür, daß uns zwischen 1261 und 1320 nur wenige erzbischöfliche Schreiber oder Notare bekannt sind, und zwar werden sie fast durchweg nicht mehr als einmal genannt24, um dann wieder im Schweigen der Quellen zu verschwinden. Das gilt auch für den erzbischöflichen clericus und Protonotar Heidenreich des Jahres 130025, der immerhin als weiterer Zeuge dafür stehen könnte, daß die Kanzlei eine Institution war, die auch personell den Wechsel der Bischöfe überdauerte und nicht beliebig und jederzeit für bischöfliche protégés und Vertrauensleute offenstand. Es ist jedenfalls verwunderlich, daß der Notar Gerhard des Kölner Domdekans Wikbold nicht unter den erzbischöflichen Notaren erscheint, nachdem sein Herr 1297 zum Erzbischof aufgerückt war. An mangelnden Qualitäten kann es bei diesem Gerhard nicht gelegen haben, wie die Belohnung beweist, die ihm der [p. 152] englische König für seine Vermittlung im Fall des deutsch-englischen Bündnisses von 1297 gezahlt hat26.
Erst in der zweiten Hälfte der Regierungszeit des Erzbischofs Heinrich von Virneburg (1306–1332) begegnet mit dem erzbischöflichen Notar Tilmann von Unna, der zwischen 1320 und 1331 mehrfach erwähnt wird27, wiederum ein Kanzleichef, der in der Regelmäßigkeit und Häufigkeit seiner Bezeugungen in etwa den langdienenden notariides Erzbischofs Konrad vergleichbar ist. Er verkörpert zugleich den im 14. und 15. Jahrhundert sich durchsetzenden Typ des fürstlichen clericus wenigstens in einer Hinsicht: als Pfründenjäger. 1329 besaß er drei Kanonikerpräbenden und war wegen dieser Pfründenkumulation in Schwierigkeiten geraten28.
Immerhin muß sich unter den flüchtig erwähnten oder ungenannten erzbischöflichen Notaren des ausgehenden 13. Jahrhunderts ein findiger und modernen Verwaltungspraktiken gegenüber aufgeschlossener Kopf befunden haben, wenn wir das Verdienst nicht gar dem Erzbischof Siegfried von Westerburg (1275–1297) selbst zuschreiben wollen: Dieser ließ nämlich gegen Ende seines Episkopats im Jahre 1295 ein Kopiar der wichtigsten Urkunden anlegen, die er während seiner Zeit für die Kölner Kirche erworben hatte29 – ein schriftliches Monument seiner Regierung, ein Vermächtnis für seinen Nachfolger und ein frühes Beispiel für ein territoriales Kopiar in Deutschland und Nordwesteuropa.
Noch eine andere zukunftswirksame Entwicklung hat sich in diesen für die Kölner Kanzleigeschichte quellenarmen Jahrzehnten abgespielt. Der Erzbischof entledigt sich für seine Person immer mehr der geistlichen Obliegenheiten, insbesondere der Funktion als ordentlicher geistlicher Richter. Schon Erzbischof Konrad hatte die Wahrnehmung seiner Aufgaben als iudex ordinarius einem Beamten, dem Offizial, übertragen30. Innerhalb eines halben Jahrhunderts war aus diesem Offizial eine ganze stattliche Behörde, das Offizialat, geworden, in der um 1320 mehr als 40 Leute – darunter gut 20 Notare – fest [p. 153] angestellt waren. Schon 1319/21 – 150 Jahre früher als die weltliche Verwaltung – erhielt das Offizialat ein Organisationsstatut und eine Geschäftsordnung31. Mit der Ausgliederung der geistlichen Verwaltung und Jurisdiktion aus der allgemeinen bischöflich-landesherrlichen Verwaltung entlasteten die Erzbischöfe sich und ihren Beamtenapparat von den mächtig anschwellenden Quisquilien- und Routinegeschäften, glichen sich in temporalibus den Praktiken weltlicher Territorien an, verfügten aber stets über ein Reservoir von im kirchlichen Verwaltungsdienst eingearbeiteten jungen Leuten, aus dem sie ihre eigenen clerici auswählen konnten.
Über die Kanzleibeamten, die für Heinrichs Nachfolger Walram von Jülich (1332–1349) zu Beginn seines Pontifikats tätig waren, wissen wir nichts. Gegen Ende der 30er Jahre des 14. Jahrhunderts beginnt sich dann eine Entwicklung in den Quellen abzuzeichnen, die vielleicht am besten als die Herausbildung eines den Wechsel der Herrscher überdauernden bürokratischen Apparats zu kennzeichnen ist. Dieser Apparat wurde von ungefähr einem Dutzend clerici iurati des Erzbischofs gebildet32; er war in sich insofern wenig differenziert, als es weder klare Zuständigkeiten noch fachspezifische Einengungen gab: ein Wechsel in den Funktionen war verbreitet. Bei der Auswahl der clerici, die fast durchweg aus dem kleinen Adel oder Bürgertum herkamen, spielten verwandtschaftliche Beziehungen eine Rolle; die erprobten und gestandenen, dem Fürsten unentbehrlichen Fachleute zogen vielfach ihre jungen Neffen in die Subalternpositionen nach33, von wo aus sie dann je nach Eignung und Glück weiter aufrücken konnten. Dabei scheint die Kanzlei für viele der clerici der Ort gewesen zu sein, wo sie ihre Fähigkeiten erproben und Erfahrungen und Kenntnisse sammeln konnten. Der erste Einstieg in die landesherrliche Beamtenlaufbahn erfolgte zumeist aber nicht am bischöflichen Hof, sondern an der bischöflichen Kurie34.
[p. 154] Für Erzbischof Walram sind drei notarii bezeugt: zunächst Heinrich Beyer von Boppard, notarius, secretarius und consiliarius des Erzbischofs, später Scholaster von St. Kunibert in Köln, Ratgeber des Administrators Kuno von Falkenstein35 und noch in verantwortlicher Stellung, aber ohne Amtsbezeichnung an der Verwaltungsreform des Erzbischofs Friedrich von Saarwerden mitwirkend, von der nachher noch zu sprechen ist36; dann ein gewisser Bodewin, Kanoniker am Kölner Kollegiatstift St. Aposteln, der von 1339–1343 erzbischöflicher Notar war37, bevor er 1345 in die Spitzenposition eines erzbischöflichen Rentmeisters (reddituarius) aufrückte38; und schließlich Gottfried von Rheinberg, der seine Laufbahn 1348 unter Walram begann39, seine große Zeit als Kanzleichef aber erst unter Walrams Nachfolger Wilhelm von Gennep (1349–1362) erlebte, der ihm zwar ein Kanonikat am Bonner Cassiusstift verschaffte40 und ihn mit heiklen politischen Aufträgen betraute41, aber doch nur schlicht unsen scriver nannte42. Daß er gleichwohl ein Mann von Einfluß und Reputation war, zeigt das ansehnliche Weinpräsent, das ihm die Stadt Wesel 1354 zukommen ließ43.
Außer diesem Gottfried beschäftigte Erzbischof Wilhelm noch einen zweiten Notar: Sibert von Dülken44, der einen Ehrenplatz in der kurkölnischen Kanzleigeschichte verdient. Er war nämlich der erste, der einen Kanzleivermerk auf eine erzbischöfliche Urkunde setzte und damit – zumindest symbolisch – die Kanzlei auf die Höhe der allgemeinen Entwicklung brachte. Im [p. 155] Juni 1355 schrieb er rechts unter den Text einer Urkunde für den Grafen von Nassau-Hadamar: Per Sybertum notarium de mandato domini45, und im Dezember des gleichen Jahres wiederholte er auf einem kurfürstlichen Willebrief: Per Sybertum notarium ad relacionem mag. Gerardi Foet decani46.
In Anbetracht der engen Verbindungen, die gerade um diese Zeit zwischen Kaiser Karl IV. und Erzbischof Wilhelm geknüpft wurden47, kann es keinen Zweifel daran geben, daß es die Reichskanzlei48 gewesen ist, die als anregendes Vorbild für die neue Praxis der kölnischen Kanzlei gedient hat. Als der dienstältere Notar Gottfried 1357 ebenfalls einen Kanzleivermerk anbrachte49, war diese neue Praxis rezipiert. Allerdings: Wenn auch unter den Erzbischöfen aus dem märkischen Hause Adolf und Engelbert III. (1363–1366) die Kanzleivermerke zunehmen50, zur Regel sind sie nicht geworden, verschwinden sogar unter dem Administrator Kuno (1366–1370) ganz, sind unter Erzbischof Friedrich von Saarwerden (1370–1414) ausnehmend selten51 und werden erst unter Dietrich von Moers (1414–1463) wieder häufiger52. Es ist beim heutigen Kenntnisstand schwierig, dafür eine Erklärung zu finden. Vielleicht darf man vermuten, daß die Notare es nur dann für notwendig erachteten, [p. 156] auf solche Weise unzweideutig die Verantwortlichkeiten festzuhalten, wenn diese aus der Organisation der Verwaltung und der Entscheidungskompetenzen selbst nicht klar hervorgingen. Nicht umsonst wird unter dem schwachen Engelbert III. häufig auf die commissio consilii53 verwiesen. Bei übersichtlichen und stabilen Verhältnissen glaubte man offenbar auf solche Vermerke verzichten zu können, obwohl man – wie gezeigt – seit der Mitte des 14. Jahrhunderts mit ihnen vertraut war54.
Die Kanzleivermerke waren im übrigen nicht die einzige Neuerung, die um diese Zeit nach fremdem Vorbild übernoomen wurde. Die moderne Form der „litera clausa‟ mit der über dem Textblock plazierten, grammatisch mit diesem nicht verbundenen Intitulatio, mit Rückadresse und Datierung ohne Jahresangabe55 fand immer ausgedehntere Verwendung in der politischen und administrativen Korrespondenz. Die deutsche Sprache und mit ihr der Zwang zur Ausbildung eigener volkssprachlicher Formulare56 für die verschiedenen Schriftstückarten breiteten sich aus. Unter Erzbischof Wilhelm sind schon 40 % der Kanzleiproduktion deutsch, unter Erzbischof Friedrich III. werden es 60 % sein.
III
Diese auf ihre Art „modernen‟ Tendenzen in der Kanzlei wurden aber bei weitem überboten durch ein anderes: die Aufnahme der Registerführung57, angeregt durch Vorbilder teils aus Lüttich, teils aus Trier.
[p. 157] Für den Kölner Elekten Adolf von der Mark, der 1363 den Bischofsstuhl bestieg, um 1364 schon wieder darauf zu verzichten, ist das erste Lehnsregister erhalten, eine Aufzeichnung der Belehnungsakte in chronologischer Folge58. Für Adolfs Nachfolger und Onkel Engelbert III., vordem Bischof von Lüttich, und für seinen Koadjutor und Administrator, den Trierer Erzbischof Kuno von Falkenstein, haben sich Lehnsprotokolle zwar nicht erhalten, müssen aber geführt worden sein, wie aus Vasallenlisten des 15. Jahrhunderts59 rückgeschlossen werden kann. Von den nachfolgenden Bischöfen sind solche chronologischen Register ebenfalls überliefert, z. T. ergänzt und weitergeführt durch systematisch nach Ämtern untergliederte Aufzeichnungen60. Diese Lehnsregister sind – wie gelegentliche Schreiber- und Zeugenvermerke beweisen – in der Kanzlei vom Kanzleipersonal geführt61, dort zu Beweis- und Verwaltungszwecken aufbewahrt und – wo nötig – durch Verweise und [p. 158] Randnotizen auf dem laufenden gehalten62 worden. Es ist gewiß kein Zufall, daß diese Lehnsregisterführung gerade unter den Bischöfen einsetzt, die in Lüttich unter dem Mentor Levold von Northof groß geworden sind und denen die dortige Praxis63 vertraut war.
Diesen internen, nur dem Verwaltungsgebrauch dienenden Aufzeichnungen folgt schon bald die Registrierung im engeren Sinne: die Sammlung und buchförmige Zusammenstellung von Abschriften aller oder ausgewählter Schriftstücke, die in der Kanzlei produziert wurden.
Der Trierer Erzbischof und Koadjutor bzw. Administrator von Köln Kuno hat – heimische Gepflogenheiten übertragend – ein solches Register für die Zeit seiner Administration (1367–1371) geführt. Es handelt sich um ein Auswahlregister im Sinne der Trierer Perpetualia bzw. Temporalia, in dem jene Urkunden festgehalten sind, die nach Meinung des Kanzleichefs auf Dauer oder wenigstens für eine gewisse Zeit von Bedeutung sein würden, und zwar beschränkt sich die Registrierung auf kölnische Kanzleiprodukte; denn auch diejenigen Stücke, die andere Aussteller aufweisen und sich also formal als Eingänge geben – wie etwa die Lehns- und Bestallungsreverse sowie die Urkunden über den Ankauf der westfälischen Grafschaft Arnsberg – sind dort hergestellt worden. Überliefert ist das Register in zwei Exemplaren: das Original eingebunden in das Trierer Temporale IIb64, die um die mit einem vacat-Vermerk versehenen Urkunden verminderte und für die kölnische Kanzlei bestimmte Abschrift im kurkölnischen Kartular 265. Da diese Abschrift sonst alle Vermerke des Originals samt den für Nachträge vorgesehenen leeren Zwischenräumen66 übernommen hat, muß sie noch zur Zeit von Kunos Administration, also spätestens im ersten Halbjahr 1371, angelegt worden sein, wenn wir dem Kopisten nicht ein extremes Maß an Stupidität [p. 159] unterstellen wollen. Im Originalregister steht hinter mehreren Urkunden – vor allem solchen, die mit Arnsberg zu tun haben – der Buchstabe „B‟67. Da die Kopien von verschiedenen Händen stammen, kann es nicht das Sigel des Kopisten bzw. Registrators, sondern nur das des für die ausgefertigte Urkunde verantwortlichen Notars sein. Es bezieht sich in der Tat auf Burchard von Westerholt, Kleriker aus einem westfälischen Ministerialengeschlecht, der mit den Märkern nach Köln gekommen war, seit 1363 in der Kanzlei diente68 und als schriver des Administrators Kuno69 die Verhandlungen über den Ankauf der Grafschaft Arnsberg für das Erzstift Köln geführt hat70; Kunos Neffe und Nachfolger Erzbischof Friedrich III. hat ihn, der inzwischen die Scholasterie von Soest erworben hatte, als Kanzleinotar übernommen71. Da die einschlägigen Urkundenoriginale, sofern sie erhalten sind72, keine Kanzleivermerke oder Schreiberzeichen aufweisen, muß der Registereintrag demnach vom abgezeichneten Konzept angefertigt worden sein.
Ob es sich bei den zeitlich anschließenden Kanzleiregistern auch durchgängig um Konzeptregister dieser Art handelt, ist allerdings fraglich. Ohnehin spalter sich die Registerführung unter Erzbischof Friedrich von Saarwerden auf. Es existiert von ihm ein sogenanntes registrum minus (heute Teil des kurkölnischen Kartulars 2)73 und ein registrum maius (heute als „Lehenskopiar‟ Fridericus maior firmierend)74. Beide Register unterscheiden sich in der Anlage voneinander nicht, bewahren eine grobe chronologische Ordnung und berücksichtigen auch echte Eingänge, fungieren also als Kopiar und Register zugleich; es ist kein Gesichtspunkt auszumachen – er sei formaler, sachlicher oder regionaler Art –, nach welchem die eine Urkunde hier, die andere dort registriert wurde. Nur eines ist gewiß: von verschwindenden Ausnahmen [p. 160] abgesehen haben beide Register verschiedene Stücke, weisen also keine Überschneidungen auf! Wie ist dies zu erklären?
Erzbischof Friedrich III. beschäftigte mehrere Notare, davon jeweils zwei nebeneinander, deren häufiges ranggleiches75 gauftreten in den Quellen darauf schließen läßt, das sie einander gleichgeordnet mit der Führung der Kanzleigeschäfte betraut waren. Bis 1374 waren es die von seinen Vorgängern ererbten Burchard von Westerholt76 und Johann Hirzelin77, späterhin Petrus von Westerholt78 und Wilhelm de Duobusmontibus79. Die Ausdehnung des Territoriums und das Bedürfnis, der Kanzlei einen stabilen und einen mit dem Fürsten umherziehenden mobilen Part zu geben, mögen eine solche Lösung nahegelegt haben. Dieser Verdoppelung der Kanzleispitze entspricht die doppelte Registerführung. Dabei ist an keinerlei Kompetenzabgrenzungen zu denken, jeder machte jedes, wie es Notwendigkeit und Gelegenheit fügten. Zum Jahre 1386 berichtet der erzbischöfliche Kellner von Godesberg in seiner Jahresrechnung: Item 1.1. venerunt Gudensbergh d. Wilhelmus notarius et Johannes de Erpel cum 4 equis causa registracionis litterarum, steterunt ad 5 dies80. So haben wir uns die Registrierung in der Tat vorzustellen: Von Zeit zu Zeit erschienen Kanzleibeamte auf den bischöflichen Residenzburgen und trugen von den dort aufbewahrten Urkunden und Urkundenkonzepten diejenigen auf lagenmäßig gehefteten Pergamentblättern ein, die ihnen von Wichtigkeit erschienen, wobei der Einsicht und der Urteilskraft des einzelnen ein weiter Spielraum gelassen war. Nach getaner Arbeit zogen sie sich dann wieder – die Vorlagen liegenlassend81 – zu ihren anderen Geschäften zurück. Diese schubweise [p. 161] und nicht kontinuierliche Registrierung erklärt im übrigen die Ungereimtheiten innerhalb der Chronologie, die wir in allen Registern antreffen.
Die beiden angeführten Hauptregister bildeten noch zu Friedrichs Zeiten die Grundlage für ein selektiertes, auf die Rechtstitel der ecclesia Coloniensis konzentriertes, im wesentlichen also aus wenigstens formalen Eingängen bestehendes „Register‟, das gelegentlich als novum registrum bezeichnet worden ist82 und heute als Fridericus minor im Bestand „Kurköln, Lehen‟ des Hauptstaatsarchivs in Düsseldorf liegt83. Es war wohl als Fortsetzung der beiden großen Kopiare vom Anfang der 70er Jahre des 14. Jahrhunderts: der kurkölnischen Kartulare 1 und 4 gedacht84, von denen nachher noch zu sprechen ist. Auch Registerauszüge zu bestimmten Sachkomplexen sind zusammengestellt worden: so zu den Auseinandersetzungen mit den benachbarten Kleve85 und Berg86 etwa, oder mit dem Kölner Edelvogt Gumpert von Alpen87. Es handelt sich hier zweifellos um Arbeitsexemplare für Verwaltung und Politik; sie stellen demnach so etwas wie Vorläufer einer Sachaktenregistratur dar.
[p. 162] Die etwas unorthodoxe, manches dem Zufall überlassende Registerführung unter Erzbischof Friedrich wurde von seinem Nachfolger Dietrich von Moers (1414–1463) zugleich gestrafft und eingeschränkt. Künftig wurden zwei Register geführt: das eine für die Lehnsurkunden, zeitgenössisch das registrum magnum d. Theoderici de feudis88 genannt89, das andere für die Amtmannsbestallungen und Ämterverschreibungen; ihm haben die neuzeitlichen Archivneuordnungen so übel mitgespielt, daß es heute teilweise verloren, der Rest in mehreren Teilen über das ganze kurkölnische Archiv verstreut ist90.
Bereits unter Dietrich, verstärkt unter seinen Nachfolgern ging man dazu über, die Papierkonzepte nicht mehr zu vernichten, sondern aufzubewahren: der Übergang zur Aktenführung und Registraturbildung, die das Registerwesen allmählich verdrängten und überflüssig machten. Nur im Bereich des Lehnswesens hat es in Kurköln überdauert91. Ein bemerkenswertes Zwitterprodukt des Übergangs vom Register zur Registratur ist das kurkölnische Kartular 12 aus der Zeit Hermanns von Hessen (1475/80–1508). Dabei haben wir es mit gehefteten und schön eingebundenen Blattkonzepten zu tun, in die vereinzelt auch eingegangene Ausfertigungen eingestreut snd. Man hat also versucht, einer Auslaufserie den Anschein eines buchförmigen Registers zu geben – Ergebnis eines Streites zwischen moderner Kanzleitechnik und traditionellem Geschmack.
Gleichzeitig mit der Anlage eines Registers hatte der Administrator Kuno auch eine kopiale Zusammenfassung der im erzbischöflichen Archiv vorhandenen Urkunden in die Wege geleitet. Wie weit er dabei – von dem bereits erwähnten Kopiar des Erzbischofs Siegfried von 1295 abgesehen92 – an Vorarbeiten anknüpfen oder auf sie zurückgreifen konnte, ist nicht sicher zu entscheiden. Mehrfach allerdings sprechen Aufzeichnungen um 1400 von einem registrum antiquum (pergameneum)93, das aber so alt auch nicht gewesen sein kann, da es noch Urkunden des 14. Jahrhunderts enthielt. Auch von einem [p. 163] registrum papireum ist die Rede94, das ebensowenig wie das alte Pergamentregister mit einem der vorhandenen Codices oder Codicesteile identisch ist. Wie dem auch sei: das Ergebnis der kopialen Erfassung des erzbischöflichen -Archivs liegt in dem kurkölnischen Kartular 4 vor95, einem Papiercodex, bei dem es sich in der vorliegenden Form vermutlich um die Abschrift einer Vorlage handelt, die vor 1372 fertig war96, während die Abschrift selbst vor 1374 von einer Hand angefertigt sein muß97. Dieses durchnumerierte Kopialbuch enthält im wesentlichen Urkunden bis 1364, also bis zum Beginn der Regierung des Erzbischofs Engelbert III., und ist im Lehnsregister des Erzbischofs Friedrich häufig als registrum pilosum zitiert98. Die Masse der Stücke stammt aus den Episkopaten Walrams von Jülich und Wilhelms von Gennep (1332–1362). Angebunden sind zwei Nachträge von 1374, in denen die erzbischöflichen Notare Johann Hirzelin und Burchard von Westerholt die Urkunden, die sich vorher noch in ihrer Obhut befanden, registriert haben99, darunter auch Ausgänge aus der Zeit des Erzbischofs Engelbert, die dann folgerichtig mit dem Vermerk versehen sind: Non est inter literas domini. Beide Nachträge werfen noch einmal ein Schlaglicht auf die selbständige und unkoordinierte Arbeitsweise der Kanzleibeamten sowie die [p. 164] Archiv- und Registraturbildung; zugleich liefern sie ein Indiz dafür, daß eine Registerführung ansatzweise offenbar schon unter Engelbert III. (1364–1366) begonnen hat.
Aus diesem registrum pilosum sind dann zu Beginn der Regierungszeit des Erzbischofs Friedrich III. zwischen 1372 und 1375 die wichtigeren Stücke extrahiert und mit den im Domkapitelsarchiv liegenden Privilegien und Dokumenten zu einem Liber privilegiorum et iurium ecclesiae Coloniensis – wie der spätere Titel lautet – zusammengestellt worden (seit dem 16. Jahrhundert: Coreaceus maior). Von ihm existieren zwei nicht völlig identische Exemplare100. In den späteren Marginalnotizen der Kanzlei firmiert er als registrum clausum101 und deutet schon mit dieser Bezeichnung an, daß mit ihm die Aufarbeitung des überkommenen Urkundenbestandes – also die rückwärts gewandte Aktivität der Kanzleireform aus der Zeit um 1370 – abgeschlossen war. Diese Gesamtkopiare haben – wie gesagt – nur für die Zeit Friedrichs von Saarwerden noch einen etwas schmalbrüstigen Nachfolger gefunden: den oben bereits erwähnten Fridericus minor. In ihm fehlen die Papst- und Kaiserurkunden; insofern ist es ein Dokument der Provinzialisierung und Territorialisierung zugleich.
Zeitlich parallel mit der Anlage der Kopiare lief eine Aufzeichnung der erzbischöflichen Gerechtsame in den verschiedenen Teilen des Landes. Sie ist im ersten Teil des heutigen kurkölnischen Kartulars 2 überliefert102. In einem größeren Rahmen fortgesetzt wurden diese Arbeiten in der Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem Ziel, für jedes Amt einen Gesamtüberblick über die herrschaftlichen Rechte, Einkünfte und Machtpositionen zu bekommen. Herausgekommen sind bei diesen Bemühungen zwei große Pergamentcodices, einer (das kölnische Kartular 3) für das Gebiet links, der andere (das münsterische Manuskript I 182) für das Gebiet rechts des Rheins103. Es handelt sich dabei um eine Verarbeitung und Aufbereitung des in den voraufgegangenen Registern gesammelten Materials, im Prinzip also um eine Überlieferung aus zweiter Hand. Der Quellenwert dieser Quasi-Urbare besteht [p. 165] vor allem darin, daß ein Teil der Vorlagen – wie z. B. die Lehnsregister des Erzbischofs Engelbert III. und des Administrators Kuno – verloren sind104.
Resümierend sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betont, daß die kurkölnischen Register und Kopiare Produkte einer strengen Auslese unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung für das fürstliche dominium und domanium sind. Der angelegte Maßstab ist allerdings im einzelnen oft schwer verständlich. Es gibt viele Urkunden, die nicht registriert und kopiert worden sind, ohne daß sich heute dafür ein Grund erschließen ließe. Durchweg nicht registriert worden sind die Reskripte, Mandate (sofern als verwaltungsinterne Dienstanweisungen, nicht als Privilegien verwendet) und Missiven: die politische und administrative Korrespondenz. Sie aber bildete die Masse des die Kanzlei verlassenden und in sie einkommenden Schriftwerks, die weitgehend verloren ist, wenn sich nicht Teile davon in besonders sorgfältig geführten Empfängerregistraturen – wie etwa der der Stadt Köln – erhalten haben.
In der erzbischöflichen Kanzlei hat man sich vor 1450 – also vor den Anfängen einer Aktenführung – um diese Art von Schriftgut wenig gekümmert, während man für Urkunden von befristetem Wert immerhin knapp rubrizierende Verzeichnisse anfertigte. Eine Auflistung der Quittungen aus den Regierungszeiten Friedrichs III. und Dietrichs II. ist auf uns gekommen105, ein registrum abiurationum domini Friderici wird zitiert106.
Sehr erschwert werden detaillierte Untersuchungen über die verschiedenen Registerarten und -typen dadurch, daß in der Kanzlei offenbar kein Wert auf eine systematische Verzahnung von Originalen und Registern gelegt worden ist. Registrata-Vermerke begegnen zwar nicht selten107, aber keineswegs nur bei registrierten Urkunden, sie finden sich auch bei unregistrierten Stücken. Hier scheinen Planlosigkeit, Inkonsequenz und Nachlässigkeit eine nicht geringe Rolle gespielt zu haben.
IV
Es hat den Anschein, als sei die skizzierte beträchtliche Arbeitsleistung von einer personell relativ schwach besetzten Kanzlei bewältigt worden. Für das letzte Viertel des 14. Jahrhunderts sind nicht mehr als vier erzbischöfliche notarii [p. 166] bezeugt108, und das dürfte in der Tat wohl auch das ganze Personal gewesen sein – den einen oder anderen bei Bedarf herangezogenen Gelegenheitsschreiber nicht eingerechnet. Es fällt aber auf, daß die beiden führenden Notare, Petrus von Westerholt und Wilhelm de Duobusmontibus, über 30 Jahre lang im Geschäft geblieben sind und damit beweisen, welche Effektivität eine kontinuierliche Arbeit besitzt. Außerdem scheint der Erzbischof sie – im Gegensatz zu ihren Vorgängern – nur wenig für diplomatische und politische Missionen und andere Verwaltungsaufgaben109 in Anspruch genommen zu haben, so daß sie sich konzentriert ihren Kanzleiaufgaben widmen konnten. Das Bild der Stabilität und gediegenen Qualität, das die Kanzlei unter Erzbischof Friedrich III. zeigt, ändert sich unter seinem Nachfolger Dietrich von Moers.
In rascher Folge begegnet in den Quellen eine Anzahl von Leuten, die zumindest zeitweise irgendwie mit Schreib- und Registerarbeiten beschäftigt waren110. Es drängt sich der Eindruck von Unstetigkeit und Desorganisation auf – und zwar nicht nur dem rückschauenden Beobachter, sondern schon den Zeitgenossen. Aus den Jahren um 1440 hat sich ein Gutachten über eine Neuordnung der Hof- und Landesverwaltung erhalten111, das die erzbischöflichen [p. 167] Räte ihrem Fürsten erstattet haben und dessen Ziel es war, Kosten zu sparen und das ins Chaos führende persönliche Regiment des Herrschers einzuschränken, der sich selbst sogar um den Ankauf von Papier, Pergament und Tinte kümmerte112. In diesem Gutachten ist auch die Kanzlei berücksichtigt. Vorgesehen war ein Kanzler, der eyn bestendich gestijchtz man sy, die deutsche und lateinische Sprache beherrschte und von dem der Erzbischof erwartete, daß er expertus in spiritualibus et temporalibus wäre; ihm wurde ein Sekretär – eyn schriver – zugestanden. Unter dem Kanzler sollte als sein Stellvertreter ein Erster Notar – eyn schrijver dar na – tätig sein; außerdem gehörten zur Kanzlei noch drei andere schrijver und vier reitende Boten. Allen diesen Leuten war eine bestimmte Anzahl Pferde zugestanden113: die Kanzlei war noch so mobil wie der Erzbischof selbst. Deshalb brauchte man auch ein Tragtier, eynen somer, der die register drage ind die capelle (das geistliche Gerät). Auf dem Rücken dieses Saumtieres sollte sich die alte Verbindung von erzbischöflicher Kanzlei und erzbischöflicher Kapelle also auf eine fast groteske Weise noch einmal wiederherstellen. Aus dem Gutachten geht nicht nur der personelle Umfang der Kanzlei hervor – wobei wir annehmen dürfen, daß hier lediglich jahrzehntelange Erfahrungswerte fixiert worden sind –, sondern es gibt den frühesten Hinweis auf die Wiedereinrichtung oder besser: Neueinrichtung des Kanzleramtes in Kurköln. Kurze Zeit später (1444) ist dann mit dem Magister Johann von Linz auch tatsächlich der erste kurkölnische Kanzler des Spätmittelalters bezeugt, der in einschlägigen Quellen als solcher bezeichnet wird114, sich selbst in zwei Kanzleivermerken von 1450 aber prothonotarius nennt115. Vermutlich klang das vornehmer und gelehrter.
Wie weit sich der Kanzler überhaupt um die Kanzleigeschäfte kümmern konnte, ist übrigens die Frage. Wir finden ihn hauptsächlich bei diplomatischen Missionen außerhalb des Hofes. Umso wichtiger war es dann für ihn, daß er Leute seines Vertrauens – Verwandte – zurücklassen konnte. Außer Johann von Linz waren in den 30er Jahren des 15. Jahrhunderts noch ein H. [p. 168] und ein Gerhard von Linz in der Kanzlei tätig116. Diesem Trio entsprechen seit den 70er Jahren des 14. Jahrhunderts andere Familien-„Clans‟: Burchard und Petrus von Westerholt117; Johann, P., Heinrich und Christian von Erpel118; Konrad und Peter von Sobernheim119. Wenn wir den Blick über die Kanzlei hinaus auf die gesamte territoriale und diözesane Verwaltung ausdehnen, begegnen uns noch andere Träger dieser Namen. Ebenfalls jenseits der Landesgrenzen: in Trier z. B.120. Die fürstlichen clerici beginnen sich zu einer durch verwandtschaftliche Bindungen zusammengehaltenen, interterritorialen Schicht von gelehrten Verwaltungsfachleuten zu verfestigen121. Es stellt sich ein gewisser Standard der Kenntnisse, Erfahrungen, Verwaltungstechnik ein, der die Unterschiede zwischen den Territorien immer mehr einebnet.
Das gilt nicht zuletzt für die erste kölnische Hof- und Kanzleiordnung von 1469, die Erzbischof Ruprecht von der Pfalz mit Hilfe pfälzischer Räte erlassen hat122. Sie schreibt für die Kanzlei die stabilitas loci in Brühl vor und markiert damit eine wichtige Etappe in der kurkölnischen Behördenentwicklung. Sonst ist es bei der herkömmlichen Organisation geblieben: ein Kanzler, ein Erster Notar als sein Stellvertreter, eine ungenannte Zahl einfacher Schreiber. Der Kanzleichef wird für die Überprüfung der Ein- und Ausgänge verantwortlich gemacht, er verwahrt die Siegel. Kanzlei und Rat sind eng, auch räumlich eng, einander zugeordnet. Es sollen Register über die Ausgaben [p. 169] der erzbischöflichen Beamten und Diener sowie über die landesherrlichen Einnahmen in den einzelnen Ämtern – also Unterlagen für die Haushaltsführung – angelegt und griffbereit verwahrt werden. Der Erzbischof verzichtet darauf, aus seiner „Kammer‟ an der Kanzlei vorbei Briefe zu expedieren, wie es vor allem Erzbischof Dietrich von Moers in so exzessiver Weise zum Schaden des Landes getan hatte. Vor allem wird gefordert: es soll auch sunderlich in der cantzelly uff die registratoir, register und brieff acht gehabt haben und underscheydlich zo legen, das man die – so man der bedarff – furderlich fynden moige123.
Diese Ordnung mit ihrer Tendenz, die Kanzlei aus dem unmittelbaren Zugriff des Fürsten zu lösen, sie als Behörde zu etablieren und zum wichtigsten Instrument der Landesverwaltung zu machen, ist in ihrer Zielsetzung und in ihrer Diktion schon recht unmittelalterlich. Die Kanzlei, die sie anstrebt, ist die des frühneuzeitlichen deutschen Territorialstaats von mittlerer Größenordnung, unbedeutendem politischen Gewicht und wenig differenzierter Zentralverwaltung124.