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[p. 315] Die Rechnungsbücher der Tiroler Landesfürsten

Im mittleren Alpenraum entstand im Laufe des 13. Jahrhunderts ein neues territoriales Gebilde, für das sich die Bezeichnung „Grafschaft Tirol‟ einbürgerte. Den maßgeblichen Anteil am Werden dieses Landes muß man Graf Meinhard II. von Tirol-Görz (1258–1295) zuschreiben. Er baute auf dem Erbe der mit seinem Großvater mütterlicherseits, Graf Albert III., im Jahre 1253 in männlicher Linie ausgestorbenen Grafen von Tirol auf und schuf, im wesentlichen auf Kosten der Hochstifte von Trient und Brixen, das neue Territorium. Die Oberhirten der beiden genannten Kirchen hatten seit dem 11. Jahrhundert die Grafengewalt am Oberlauf der Etsch, am Eisack sowie im mittleren Inntal übertragen erhalten, und diese sowie andere damit zusammenhängende Rechte wurden ihnen nun vom werdenden Tiroler Landesfürstentum entwunden.

Ein entscheidendes Moment bei der inneren Ausgestaltung des Landes stellte für Meinhard II. eine geordnete Verwaltung dar, die besonders im finanziellen Bereich offensichtlich äußerst effektiv arbeitete. Geld bildete neben Gewalt das wirksamste Element der erfolgreichen Politik dieses Reichsfürsten – dieses Epitheton stand Meinhard als von König Rudolf von Habsburg bestelltem Herzog von Kärnten seit dem Jahre 1286 zu. Und gerade in den Zusammenhang mit der Ausbildung einer geregelten Finanzverwaltung gehören auch die an dieser Stelle kurz zu würdigenden Rechnungsbücher der Tiroler landesfürstlichen Kanzlei.

Unter diesem Titel – manchmal auch unter der spätmittelalterlichen Bezeichnung „Raitbücher‟, entsprechend dem mittelhochdeutschen Wort „raiten‟ für „zählen‟, „rechnen‟, – sind an die zwanzig Codices überliefert, die Eintragungen aus den Jahren 1288 bis in die 60er Jahre des 14. Jahrhunderts enthalten. Die Originale sind heute zerstreut auf das Tiroler Landesarchiv in Innsbruck, das Bayerische Hauptstaatsarchiv in München und das Staatsarchiv Trient, wo vor einigen Jahren ein Codex wieder aufgefunden wurde, der seit etwa 1920 im Tiroler Landesarchiv als verschollen galt. Von einer weiteren, ebenfalls seit dem Ende des Ersten Weltkriegs aus Innsbruck abgängigen Handschrift, existiert nur noch eine Kopie aus dem Beginn unseres Jahrhunderts. In der skizzierten, verstreuten Überlieferung spiegelt sich das bewegte [p. 316] Schicksal des Tiroler landesfürstlichen Archivs, in dem sich alle Originale bis zum Jahre 1812 befunden hatten1.

Die Codices unterscheiden sich sehr in Umfang und Format. Die meisten weisen Abmessungen auf, die in etwa unserem heutigen Oktavformat entsprechen, manche kommen einem Quartblatt nahe, vereinzelt begegnen auch ausgesprochene Schmalfoliomaße. Nicht immer entsprechen die jetzigen Bucheinheiten dem ursprünglichen Bestand. So lassen sich zum Beispiel in der ältesten Handschrift von Rechnungen aus den Jahren 1288 bis 1290 jüngere Eintragungen klar trennen, die um 1306/08 erfolgt sind. Diese Blätter gehören auch nicht zum primären Umfang des Codex. Die Einbände der Originale stammen vereinzelt aus der Entstehungszeit; die Innsbrucker Bestände wurden jüngst neu gebunden. Als Beschreibstoff diente durchwegs Papier, das damals in unseren Gegenden verhältnismäßig selten war und aus dem Süden importiert wurde. Einschlägige Ausgaben dafür finden sich eben in den Rechnungen vermerkt. Der Umfang der Codices schwankt von einigen wenigen bis zu mehreren hunderten Blättern; ebenso variiert die Zahl der eingetragenen Raitungen zwischen einer und mehr als 300. Dementsprechend verschieden ist auch der zeitliche Umfang der Rechnungen in den Handschriften. Er kann bis zu einem Vierteljahrhundert umfassen.

Die Schrift der Eintragungen ist durch eine betonte Schlichtheit im Duktus gekennzeichnet. Manche Schreiber – besonders solche in den frühen Raitbüchern des ausgehenden 13. Jahrhunderts – sind mit dem Beschreibstoff auffällig sparsam umgegangen, indem sie mit sehr kleinen, zierlichen Buchstaben die Blätter bis zum Rande anfüllten und zahlreiche Kürzungen verwendeten. Die Lesbarkeit des Textes leidet kaum darunter, da die Schrift an sich sehr deutlich und der verwendete Wortschatz eher beschränkt sind. Schwierigkeiten ergeben sich am ehesten bei der Auflösung von Eigennamen oder bei der Lesung seltener, insbesondere deutscher Worte, die relativ häufig in die ansonsten durchwegs lateinischen Aufzeichnungen eingestreut sind (z. B. [p. 317] „expensa super prenneholtz‟). Die in den Rechnungen verständlicherweise häufig gebrauchten Zahlzeichen bzw. Ziffern finden sich nach dem römischen Usus (I, V, X, L usw.). Nur selten sind auch arabische Ziffern anzutreffen, wie etwa bei der Numerierung der einzelnen Rechnungen, die in manchen Handschriften auf einem vorgesetzten Blatt in einer gleichzeitigen, fortlaufenden Übersicht geboten wird.

Die einzelnen Rechnungen folgen seit 1288, also seit den ältesten erhaltenen Stücken, einem mehr oder weniger einheitlichen Schema, das nur geringfügigen Wandlungen unterworfen war. Auf die genaue Datierung, bestehend aus Jahr, Monat und Tagesangabe mit fortlaufender „ineunte‟ oder „exeunte‟ Zählung, also nach der sogenannten Consuetudo Bononiensis, oder nach dem Heiligenkalender, folgen zumeist die Ortsangabe sowie der Name und die Funktion des Rechnungslegers, „qui fecit recionem‟, wie der Terminus technicus für diesen Vorgang lautet. Selten bereits unter Meinhard II., jedoch fast immer unter seinen Söhnen (also seit 1295), finden sich an dieser Stelle auch die Namen von Zeugen, die bei diesem Akt zugegen waren. Schließlich bürgerte sich auch die Gewohnheit ein, in diesem Zusammenhang das Datum der vorhergehenden Raitung des gleichen Rechnungslegers anzuführen, so daß man in günstigen Fällen an Hand der Abrechnungen eine lückenlose Reihe von Amtsträgern und deren finanzielle Verpflichtungen über einen längeren Zeitraum hinweg erstellen kann.

Nach diesem Eingangsprotokoll – ich glaube, diese Bezeichnung ist angebracht – folgt im Hauptteil jeder Abrechnung eine Zusammenstellung der Soll-Einnahmen des Funktionärs, also der Einnahmen des Richters („iudex‟, „officialis‟) aus einem Gericht an Steuern und Abgaben, des landesfürstlichen Urbarverwalters („prepositus‟) aus dem Urbar eines bestimmten Sprengels, des Kellermeisters („caniparius‟) über die Weinablieferungen, des Münzmeisters („monetarius‟) in Meran oder der Zöllner („thelonearii‟) in Bozen, an der Töll bei Meran und am Lueg (zwischen Brenner und Steinach) über die Einnahmen bzw. Pachtsummen dieser Unternehmen oder des Salzmeisters („magister salis‟) in Hall über das gesottene Salz usw. Diese Soll-Einnahmen können sowohl aus Geld wie auch aus Naturalien bestehen. Sie werden am Ende dieses Absatzes summiert und gegebenenfalls berichtigt, wenn etwa eine Woche hindurch kein Salz gesotten wurde oder einem Bauern wegen einer Überschwemmung der Zins erlassen oder eingeschränkt worden war. Auch der positive oder negative Rest aus der vorhergehenden Rechnung findet an dieser Stelle Berücksichtigung.

Der zweite große Komplex des Hauptteiles umfaßt die Ausgaben, die der Rechnungsleger entweder direkt an den Landesfürsten oder an dessen Beauftragte, an andere Amtleute oder an private Dritte geleistet hat. Dabei wird [p. 318] sehr oft der ausdrückliche, bisweilen auch schriftliche Befehl des Landesherrn hervorgehoben; die Leistungen erfolgten „per litteras domini‟. Solche „litterae‟ haben sich in geringer Zahl im Original erhalten, manchmal als Beilagen in die Codices eingebunden. Im 14. Jahrhundert werden Ausgaben fallweise thematisch geordnet, etwa zuerst solche an den Fürsten, dann an andere Empfänger. Bei den einzelnen Absätzen zieht man eine „Summa‟, am Ende die „Summa summarum omnium expeditorum‟. Diese wiederum in Relation gesetzt zur Gesamtsumme der Einnahmen ergibt den Rechnungsrest, der sich seit etwa 1300 mit der ökonomischen Krise der Söhne Meinhards II. fast durchwegs zugunsten des Rechnungslegers belief. Das bedeutete, daß die Amtleute mehr ausgegeben als eingenommen, dem Landesfürsten somit einen Vorschuß oder ein Darlehen eingeräumt hatten. In der Realität dürften die meisten Richter, Urbarsverwalter, Kellermeister, Zöllner, Salz- und Münzmeister und anderen Spezialbeauftragten durchaus auf ihre Rechnung gekommen sein – um eine adäquate Terminologie zu gebrauchen – und gerne wiederum die Bürde eines Amtes auf sich genommen haben, das Einfluß und wohl auch Einnahmen versprach, die in der offiziellen Abrechnung nicht aufschienen. Über das Ergebnis der Rechnungslegung stellte man schließlich eine eigene Urkunde aus, die aber in das Raitbuch selbst nicht Aufnahme fand.

Die allgemeine historische Bedeutung der Tiroler Rechnungsbücher liegt in ihrer verhältnismäßig frühen Entstehungszeit und in ihrer nahezu geschlossenen Überlieferung über einen längeren Zeitraum hinweg. Sie ermöglichen einen Einblick in die fortschrittliche Finanzverwaltung eines Territoriums und bieten darüber hinaus unzählige Angaben zur regionalen Geschichte des Tiroler Raumes und seiner Nachbargebiete. Besonders reichhaltig sind die Nachrichten wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlicher Art. Um nur zwei sehr verschiedene Beispiele herauszugreifen: In diesen Tiroler Quellen begegnen um 1300 nicht weniger als 16 Namen von Städten im nordfranzösischen, flandrischen und niederrheinischen Gebiet, aus denen Tuche in die Alpen importiert worden waren; oder die Tatsache, daß der Burggraf von Schloß Tirol im Jahre 1337 Kosten verzeichnete „pro barbitonsione‟, also für den Bartschnitt, des Markgrafen Karl von Mähren, des späteren Kaisers Karl IV., der in diesen Jahren längere Zeit in Tirol weilte.

Die hilfswissenschaftliche Würdigung der Rechnungsbücher hat von der formalen Gestaltung und von den Schreibern der Eintragungen auszugehen. Die Form der Niederschrift hat man treffend als Rechnungsprotokolle charakterisiert. Sie entspricht keinem herkömmlichen Urkundenformular; am ehesten könnte man sie formal als Aktnotiz bezeichnen. Neben schriftlichen Unterlagen (Zahlungsaufträge, Rechnungsquittungen) dienten offensichtlich [p. 319] die mündlichen Ausführungen bei der Rechnungslegung direkt als Grundlagen für die Eintragung in die Codices. Als Beweis für diese Feststellung lassen sich die sogenannten Doppelausfertigungen anführen, d.h. manche Abrechnungen sind doppelt oder sogar dreifach überliefert, wobei der Sachinhalt keine, die Wortwahl jedoch nicht unbedeutende Unterschiede aufweisen. Offensichtlich erfolgte die Protokollierung parallel zu der mündlich, wahrscheinlich deutsch geführten Rechnungslegung, wobei die anwesenden Schreiber die Ausführungen fallweise etwas divergierend ins Lateinische übersetzten.

Als Schreiber der Codices ließen sich verschiedene Notare der „Kanzlei‟ Meinhards II. und seiner Söhne eruieren, die neben der Protokollierung der Abrechnungen gleichzeitig auch die Ausfertigung von Urkunden besorgten. Es wurden vor allem besonders qualifizierte Mitarbeiter für derartige Aufgaben herangezogen, mit denen ja auch eine Vertrauensposition in der Finanzverwaltung verbunden war. Der gleiche Personenkreis sorgte wohl auch für die Anlage der landesfürstlichen Urbare, wie sie in Tirol seit 1274 überliefert sind, und auf ihn geht das älteste Tiroler Kanzleiregister aus dem beginnenden 14. Jahrhundert zurück. Schließlich enthalten die Rechnungsbücher sowie eine Reihe ähnlicher Codices auch Eintragungen über Ämterverleihungen, Verpfändungen, Inventare und Steuerverzeichnisse. Besonders hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Übersichten über die Gesamteinkünfte aller Erträgnisse des Tiroler Landesfürstentums um 1300 („Summa omnium reddituum dominorum ducum Karinthie in officio in Tyrolis‟), die ebenfalls bezeichnenderweise nicht Ist- sondern Solleinnahmen ausweisen und damit Zeugnisse für eine vorausblickende Finanzpolitik bilden. Alle diese Produkte der landesfürstlichen Kanzlei vermitteln das Bild einer hochentwickelten Organisation, deren Agenden weit über das Konzipieren und Ausfertigen von Urkunden hinausgingen, die vielmehr als zentrales Instrument der Verwaltung, insbesondere auch der Finanzverwaltung, fungierte.

Damit drängt sich von selbst die Frage nach dem Ursprung dieser fortschrittlichen Einrichtung auf. Zunächst einmal ist festzuhalten, daß die Rechnungsbücher in Tirol zweifellos nicht erst mit dem Jahre 1288, aus dem die ältesten erhaltenen Aufzeichnungen stammen, begonnen haben. Bereits in diesen Eintragungen wird ausdrücklich auf frühere „raciones‟ Bezug genommen. Noch weiter zurück führt eine isoliert überlieferte Zusammenstellung auf einem länglichen Pergamentblatt aus dem Jahre 1280, in dem für einen beschränkten lokalen Rahmen ebenfalls schon Ausgaben und Einnahmen eines landesfürstlichen Funktionärs verzeichnet sind, und in der vorhergehende „computaciones‟ erwähnt werden.

Es liegt nun nahe, nach älteren Vorbildern für die Tiroler Rechnungsbücher [p. 320] zu fragen, sei es im Lande selbst, sei es in der unmittelbaren oder mittelbaren Nachbarschaft. Vor dem Jahre 1288 kennen wir im mitteleuropäischen Raum nur wenige einigermaßen vergleichbare Aufzeichnungen. Wohl existieren detaillierte Verzeichnisse von Ausgaben einzelner Beauftragter im Dienste von Fürsten, wie etwa aus den 60er Jahren des 13. Jahrhunderts die im friaulischen Cividale überlieferten, bruchstückhaften Aufzeichnungen zweier Notare des sponheimischen Kärntner Herzogssohnes Philipp. Sie unterscheiden sich aber von den Tiroler Rechnungsbüchern nicht nur hinsichtlich der äußeren sondern auch in den inneren Merkmalen, da sie auf Einzelblättern kontinuierlich geführt wurden und keine Endabrechnungen vor dem Landesherrn oder seinen Beauftragten darstellen.

In ihrer Funktion kommen den Tiroler Stücken die Abrechnungen nahe, welche einzelne Amtleute der Grafen von Savoyen erstatteten, und die mehr oder weniger fragmentarisch seit der Mitte des 13. Jahrhunderts erhalten geblieben und vor etwa fünfzig Jahren auch ediert worden sind. Die Frage nach dem savoyischen Vorbild für die Tiroler Rechnungsbücher muß aber wohl mit einem klaren „Nein‟ beantwortet werden. Die Differenzen zwischen beiden frühen Zeugnissen fortschrittlicher landesfürstlicher Finanzverwaltung beginnen bei der äußeren Form: In Savoyen benutzte man lange, schmale Pergamentstreifen, auf denen jeweils die Rechnungslegung eines Funktionärs festgehalten wurde und die man dann aneinanderheftete, so daß „rotuli‟ von beträchtlicher Länge entstanden. In Tirol verwendete man hingegen Papiercodices. Die einschlägige Terminologie ist verschieden: Dem „reddere compotum‟ in Savoyen entspricht das „facere racionem‟ in Tirol. In Savoyen fehlt das für Tirol typische Eingangsprotokoll mit genauer Datierung und Ortsangabe; die Aufzeichnung beginnt mit dem Namen und der Funktion des Rechnungslegers sowie der Angabe des Zeitraumes, über den sich die Abrechnung erstreckt. Während in Savoyen nun sehr detailliert das Verzeichnis aller Ist-Einnahmen aufscheint, begnügt man sich in Tirol mit der Angabe der für das entsprechende Amt fixierten summarischen Soll-Einnahmen, gegebenenfalls richtiggestellt durch den jeweiligen „defectus‟. Übereinstimmung herrscht hingegen bei der Abfolge Einnahmen–Ausgaben und bei der abschließenden gegenseitigen Aufrechnung dieser beiden Summen – doch entspricht das Schema dieses Aufbaues wohl jeder sinnvollen Buchführung, und es kann nicht als Beweis für eine Übernahme gelten. Gegen eine derartige Auffassung einer direkten Abhängigkeit spricht ferner das Fehlen eines jeglichen Hinweises auf direkte Beziehungen zwischen Savoyen und Tirol in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Beide Gebiete waren damals und sind auch heute noch durch eine Reihe dazwischenliegender Herrschaftsbereiche getrennt; es gab in dieser Epoche keine verwandtschaftlichen Bindungen zwischen [p. 321] den Grafen von Tirol-Görz und dem savoyischen Grafenhaus. Die Gemeinsamkeiten in der topographischen Situation in Tirol und Savoyen, als ein die Alpen übergreifender Paßstaat, kann man wohl nicht als Basis für eine Zusammenarbeit in der Finanzverwaltung in Betracht ziehen.

Die geographische Lage Tirols ließe auch an einen Einfluß aus dem im Rechnungswesen hoch entwickelten italienischen Raum denken. Doch leider existieren meines Wissens keine vergleichbaren Denkmäler der Finanzverwaltung eines italienischen Territoriums oder einer italienischen Kommune aus dem 13. Jahrhundert, so daß auch Indizien für derartige Zusammenhänge fehlen. Ebenso ist eine direkte Vermittlung durch Kaufleute aus dem Süden mit größter Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Zwar reichen die ältesten Belege der Buchführung großer Kaufmannsgesellschaften in der Toskana in den gleichen Zeitraum zurück, in dem auch in Tirol die Rechnungsbücher einsetzen, und Florentiner Unternehmer betätigten sich nachweislich um 1300 an Etsch und Inn. Sie haben sich aber zum größten Teil erst knapp vor der Jahrhundertwende in Tirol niedergelassen, und – was wohl wichtiger ist – die erhaltenen Raitbücher stammen mit Sicherheit von der Hand landesfürstlicher, einheimischer Notare und nicht von zugewanderten toskanischen Kaufleuten.

Als Alternative zu den nicht nachweisbaren auswärtigen Vorbildern bleibt die Möglichkeit einer autochthonen Entwicklung in Tirol selbst, wobei indirekte Einflüsse aus dem Süden sehr wohl eine Rolle gespielt haben könnten. Etwa durch das vom Süden her auch in Tirol sehr verbreitete Notariatsinstrument mit der bekannten Anfangsdatierung, die auf die Gestaltung des Eingangsteiles des Rechnungsprotokolles eingewirkt haben mag. Oder ganz allgemein in einer größeren Aufgeschlossenheit gegenüber der Schriftlichkeit und in einer stärker entwickelten, beruflich abgesicherten „Bürokratie‟ und schließlich in der Hochschätzung des Geldwesens. Gerade für diese Belange scheint Meinhard II. eine große Vorliebe an den Tag gelegt zu haben. Er baute die wirkungsvolle Organisation des von ihm geschaffenen Territoriums auf eine neue Beamtenschicht auf und stützte sich nicht mehr auf die Adeligen, deren Sonderrechte dem Prozeß der Landeswerdung im Wege standen.

Die weitere, notwendige Diskussion über Entstehung, Inhalt und Funktion der Tiroler Rechnungsbücher soll schließlich der seit längerer Zeit geplanten Editionen dieser in vielerlei Hinsicht äußerst bemerkenswerten Geschichtsquelle zugute kommen. Vorarbeiten für die kritische Herausgabe der zum allergrößten Teil noch unpublizierten Texte sind im Gange. Die Verwirklichung des Projektes in absehbarer Zeit wäre auch deshalb zu begrüßen, da der Erhaltungszustand der Originale eine allzu häufige direkte Benutzung mehr und mehr verbietet.

[p. 322] LITERATUR (in Auswahl)

Allgemein:

Heuberger Richard, Das Urkunden- und Kanzleiwesen der Grafen von Tirol, Herzoge von Kärnten, aus dem Hause Görz, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung. 9. Erg. Bd. (1913) 51–177 und 265–394

Stolz Otto, Der geschichtliche Inhalt der Rechnungsbücher der Tiroler Landesfürsten von 1288–1350 (Schlern-Schriften 175) Innsbruck 1957

Hye-Kerkdal Franz Heinz, Geschichte der tirolisch-kärntnerischen Kanzlei unter der Regierung der Herzoge Otto, Ludwig und Heinrich aus dem Hause Görz-Tirol 1295–1310. Maschinschriftliche Prüfungshausarbeit am Institut für österreichische Geschichtsforschung Wien 1965

Köfler Werner, Studien zum Kanzlei- und Urkundenwesen Meinhards II. (1271–1295). Maschinschriftliche Prüfungsarbeit am Institut für österreichische Geschichtsforschung Wien 1968; teilweise gedruckt unter dem Titel: Beiträge zum Urkundenwesen Meinhards II. in den Jahren 1271 bis 1295, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 26 (1973) 56–93

Editionen ähnlicher früher Quellen:

Heger Hedwig, Das Lebenszeugnis Walthers von der Vogelweide. Die Reiserechnungen des Passauer Bischofs Wolfger von Erla. Wien 1970 (enthält auch die Rechnungen der Notare Philipps von Sponheim)

Chiaudano Mario, Il più antico rotolo di rendiconti della finanza sabauda (1257–1259). Casale Monferrato 1930

Chiaudano Mario, La Finanza Sabauda nel sec. XIII. 3 Voll. (Biblioteca della società storica subalpina 131–133 = Fonti e studi di storia Sabauda 1–3) Torino 1933–1937

Beispiele für die Auswertung der Tiroler Rechnungsbücher:

Kogler Ferdinand, Das landesfürstliche Steuerwesen in Tirol bis zum Ausgang des Mittelalters. I. Teil: Die ordentlichen landesfürstlichen Steuern, in: Archiv für österreichische Geschichte 90 (1901) 419–712

Davidsohn Robert, Beiträge zur Geschichte des Reiches und Oberitaliens aus den Tiroler Rechnungsbüchern des Münchner Reichsarchivs (1311/12–1341), in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 37 (1917) 189–233 und 364–410

[p. 323] Riedmann Josef, Die Beziehungen der Grafen und Landesfürsten von Tirol zu Italien bis zum Jahre 1335 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Kl. Sitzungsberichte 307) Wien 1977

Riedmann Josef, Adelige Sachkultur Tirols in der Zeit von 1290 bis 1330, in: Adelige Sachkultur des Spätmittelalters (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Kl. Sitzungsberichte 400 = Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 5) Wien 1982, 105–131


1 Die Originalcodices tragen heute folgende Signaturen: Tiroler Landesarchiv Innsbruck, Handschrift Nr. 62, 277, 279, 280, 282–288; München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv I: Allgemeines Staatsarchiv, Bestand Auswärtige Staaten, Tirol; Lit. 3, 4, 8–15; Trient, Archivio di Stato: Archivio del principato vescovile, Codex 48 (= ehemals Tiroler Landesarchiv Innsbruck, Handschrift Nr. 281). Von der Innsbrucker Handschrift Nr. 278, die seit ca. 1920 verschollen ist, existiert wie von den meisten anderen Rechnungsbüchern eine Abschrift aus der Zeit um 1900 im Besitz der Historischen Kommission des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum Innsbruck (derzeit im Tiroler Landesarchiv deponiert); vgl. die Übersicht bei Otto Stolz, Der geschichtliche Inhalt der Rechnungsbücher der Tiroler Landesfürsten von 1288–1350 (Schlern-Schriften 175) Innsbruck 1957, S. 8–10.