[p. 139] Kanzlei, Registratur und Archiv des Hochstifts Würzburg im 15. Jahrhundert
Das Hochstift Würzburg1 war das größte geistliche Territorium in Franken. Seine wichtigsten Nachbarn waren das Erzstift Mainz im Westen2, die sächsischen Staaten im Norden, das Hochstift Bamberg im Osten und die Markgrafschaft Ansbach im Süden. Neben seiner Funktion als geistlicher und Landesherr war der Bischof von Würzburg auch Herzog von Ostfranken3. Sichtbarer Ausdruck der Herzogswürde waren das Schwert, das die Bischöfe als Symbol neben dem Hirtenstab führten4, und das kaiserliche Landgericht Würzburg, das unter dem Vorsitz des Bischofs selbst oder eines von ihm bestellten Landrichters tagte; beides, Dukat und Landgericht, gehen nach Würzburger Tradition bis auf Karl den Großen, in Wahrheit bis ins 12. Jahrhundert zurück5.
In dieser Form bestand das Hochstift bis zur Säkularisation, in der es an Bayern fiel6. Bei dieser Gelegenheit wurde der letzte fürstbischöfliche Archivar, Andreas Sebastian Stumpf, als erster bayerischer Archivar übernommen. Diese personelle Kontinuität bedeutete aber nicht etwa eine Kontinuität auch der Archiventwicklung, sondern ganz im Gegenteil: Stumpf hat die bisherige [p. 140] Archivordnung nahezu völlig zugunsten einer neuen Systematik verändert7. Rückschlüsse auf die ältere Ordnung sind daher nur anhand zeitgenössischer Verzeichnisse und anhand der Rückvermerke der Urkunden möglich, nicht aber aufgrund der heutigen Ordnung8. Würzburger Bischofsregesten sind bisher noch nicht publiziert worden9, die älteste eindeutig datierbare Würzburger Kanzleiordnung stammt erst aus dem Jahr 154610.
Zu diesen mehr technischen Problemen kommt aber ein Zweites hinzu: die politischen Zustände im Hochstift Würzburg waren im 15. Jahrhundert einer ruhigen Entwicklung der Kanzleitätigkeit alles andere als förderlich. Die Bischöfe Johann II. und Sigmund gerieten mit ihren Domkapiteln in derart heftige Auseinandersetzungen, daß nur noch das Eingreifen König Friedrichs III., der 1442 den Bischof absetzte, zu einer Lösung führen konnte. Eine Folge dieses Streites war der scharfe Gegensatz zwischen dem Hochstift und dem Markgrafen von Ansbach, Albrecht Achilles, der unter Bischof Johann III. [p. 141] in einen förmlichen Krieg zwischen den beiden Nachbarn mündete.
Mit diesen politischen Auseinandersetzungen ging der finanzielle Ruin des Hochstifts einher: war es 1402 noch möglich, in Würzburg eine Universität zu gründen, so war der Bischof 1442 bankrott, und das Domkapitel versuchte, das Hochstift an den Deutschen Orden abzutreten. Unter Bischof Gottfried betrugen die liquiden Einnahmen 10 fl. pro Jahr; alles andere war verkauft oder verpfändet. Eine Stabilisierung trat erst ein, als 1466 Rudolf von Scherenberg zum Bischof gewählt wurde. Als Übergangsbischof gedacht – er war schon 65 Jahre alt –, hat er dennoch 29 Jahre lang regiert, und zwar so erfolgreich, daß er als zweiter Gründer der Diözese Würzburg nach dem hl. Burkard gilt. Ihm gelang vor allem mit Hilfe des sog. Guldenzolls die Sanierung der Hochstiftsfinanzen und die Auslösung fast aller Pfänder11.
Angesichts dieser etwas verwickelten Verhältnisse möchte ich, wenn ich im Folgenden näher auf Kanzlei, Registratur und Archiv zu sprechen komme, rückwärts vorgehen, also mit dem Archiv beginnen, weil dieses noch am ehesten zu fassen ist, und erst anschließend über die Registratur und die eigentliche Kanzleitätigkeit berichten.
Das Archiv des Hochstifts war, wie üblich, aufgeteilt in das Archiv des Domkapitels und das Archiv des Bischofs. Daneben gab es, womöglich seit Bischof Rudolf, ein gesondertes Archiv des geistlichen Rates12. Ferner besaßen die Stadt, die Stifter, Klöster und Hospitäler in der Stadt und auch das Landgericht ihre eigenen Archive, auf die ich hier aber nicht näher eingehen kann13.
Die Einrichtung eines gesonderten bischöflichen Archivs geht wahrscheinlich auf das späte 13. Jahrhundert zurück; für die Zeit um 1300 läßt sich seine [p. 142] Existenz nachweisen14. Die Trennung der beiden Archive ist auch eine räumliche: das Domkapitelsarchiv wurde im oder beim Dom verwahrt15, das bischöfliche auf der Festung Marienberg auf der anderen Mainseite16. Für das bischöfliche Archiv besitzen wir ein Verzeichnis aus dem Ende des 14. Jahrhunderts: es zeigt eine wohlgegliederte Einteilung in 10 Kästen, die mit den Buchstaben A–K bezeichnet sind; diese Buchstaben lassen sich als Rückvermerke auf den Originalen nachweisen. Im 15. Jahrhundert kamen je ein Kasten für die Urkunden Johanns I. und Johanns II. hinzu17. Unter diesem Bischof geriet das Archiv aber schnell in Unordnung. Das Chaos war schließlich so groß, daß Schulden des Bischofs wiederholt bezahlt werden mußten, nur weil im Archiv die Quittung nicht aufzufinden war18. Spätestens unter Bischof Gottfried war eine gründliche Neuordnung erforderlich, die aber über einige Ansätze nicht hinauskam19. Dabei muß man bedenken, daß das Archiv jährlich gewiß um mehrere hundert Stück zunahm. Eine solche Menge von Urkunden ließ sich nicht zusätzlich zu den normalen Kanzleigeschäften nebenbei ordnen; der Bischof hätte also eigens zu diesem Zweck jemanden einstellen müssen, und dazu waren wenigstens Gottfried und Johann III. einfach [p. 143] finanziell nicht in der Lage20. Das Archivchaos nahm erst ein Ende, als sich im 16. Jahrhundert ein Mann fand, der sich den Urkunden und Akten mit Leib und Seele verschrieb: Magister Lorenz Fries21. Er hat – neben anderen Arbeiten, so der Geschichte des Bauernkrieges in Franken22, der Würzburger Bischofschronik23 und der „Hohen Registratur‟, einem systematischen Staatshandbuch24 – in über 20jähriger Arbeit das bischöfliche Archiv vollständig neu geordnet; es gibt kaum ein Würzburger Archival aus der Zeit vor seinem Tode, das nicht irgendeine Bemerkung in seiner höchst charakteristischen Handschrift trägt. Fries’ Systematik teilt die Archivalien in fünf große Gruppen, für die jeweils ein Archivschrank angeschafft wurde: Privilegiorum, Quientantiarum, Proprietatis, Lehen und Contractuum; innerhalb jeder Gruppe ist die Ordnung weitgehend alphabetisch. Trotzdem wissen wir nicht, welche Stücke das Archiv damals im einzelnen enthalten hat: wir besitzen zwar eine ausführliche Beschreibung der Archivsystematik25, wir besitzen sogar farbige [p. 144] Zeichnungen der Archivschränke von der Hand des Lorenz Fries26, aber kein Verzeichnis, in dem jede einzelne Urkunde aufgeführt ist. Ein solches Verzeichnis hat vielleicht existiert27, aber es ist nicht erhalten. Übrigens gibt es auch für die folgende Zeit bis zum Ende des Hochstifts keinen Gesamtindex des bischöflichen Archivs28.
Im Gegensatz zum Archiv war die Kanzlei mitsamt der Registratur in der Stadt untergebracht29. Die Registratur umfaßte zur Zeit des Lorenz Fries, also um 1540, nicht weniger als 61 verschiedene Serien30. Wenn man davon aber alle die Kategorien ausscheidet, die ihrer Natur nach bzw. nach den Angaben von Fries erst im 16. Jahrhundert entstanden sein können31, bleiben im wesentlichen nur drei größere Serien übrig, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen, nämlich die Lehenbücher32, die Gebrechenbücher33 und die Libri diversarum formarum et contractuum, eine allgemeine Serie34. Diese drei Serien entsprechen nun in auffälliger Weise den Bestimmungen der späteren Kanzleiordnungen, daß unter dem Kanzler ein Lehenschreiber, ein Gebrechenschreiber und ein Ratsschreiber arbeiten sollen35. Die Vermutung liegt [p. 145] also nahe, daß zunächst eine Differenzierung der Registerführung stattfand und daß dann, bei steigendem Geschäftsanfall, die Differenzierung der Schreiberämter folgte. Die Dinge liegen aber komplizierter: eine nähere Untersuchung der erhaltenen Gebrechenbücher zeigt, daß alle Bände, die das 15. Jahrhundert betreffen, in Wahrheit erst im 16. Jahrhundert entstanden sind; dabei sind teils lose Akten zusammengebunden, teils Abschriften angefertigt und teils andere Registerserien exzerpiert worden. Die Gebrechenschreiber des 16. Jahrhunderts haben sich ihre Registratur also erst selbst hergestellt. Auch ein Teil der Libri diversarum formarum et contractuum, die auf Bischöfe des 15. Jahrhunderts lauten, ist erst im 16. Jahrhundert entstanden36. Einzig die Lehenbücher sind kontinuierlich geführt worden und seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts nahezu vollständig erhalten. Der Zeitpunkt, zu dem die Gebrechenbücher angelegt worden sind, läßt sich aber noch genauer bestimmen: zwar stammt die älteste, eindeutig datierbare Kanzleiordnung erst aus dem Jahre 154637, aber die Ernennungsurkunde für den Kanzler Dr. Marsilius Preuninger von 152538 enthält eine detaillierte Aufzählung seiner Pflichten; dazu gehört auch die Sorge für die Registratur, namentlich Alle vnnsere Salbucher, Als Contractuum, Dhienerschafft, Geprechenn, Lehenn vnd andere vnserer Cantzleybuchen vnd schriefften. Wichtige Stücke, nämlich Vorderung, Vhedbrief, Vrphede, Vrgicht, Quietanzen oder anderes […], darann vnnß vnnd vnnserm Stifft ettwas gelegenn, Als sonderlich die schrifftten vnnsers Stieffts geprechen belangend, sind sofort zu registrieren; über weniger wichtige Stücke soll der Kanzler jeweils am Ende eines Vierteljahres entscheiden, was registriert wird und was nicht39. Die Ernennungsurkunde verweist auch auf eine Kanzleiordnung des regierenden Bischofs, die demnach zwischen 1519 und 1525 erlassen wurde. [p. 146] Es ist zu vermuten, daß in dieser Ordnung das erste Mal die Einrichtung der Gebrechenbücher vorgeschrieben wurde40.
Über die Einrichtung der Kanzlei selbst läßt sich nur wenig sagen. Die Entscheidungen fielem im täglichen Rat, der, wie ein Register von 1524/941 zeigt, tatsächlich täglich tagte. Die Zahl der Räte wird 1493 mit 12 aus dem Adel und sonst andere hochgelahrte Rathe, geistliche und weltliche angegeben42. Die Ausfertigung der Urkunden besorgten unter Leitung des Kanzlers zwei Sekretäre und mehrere Kopisten. Kanzleivermerke wurden in der Regel nicht angebracht43; Namen von Kanzleimitgliedern lassen sich aber gelegentlich aus anderen Quellen ermitteln44. Mehr als das war über die Kanzlei des 15. Jahrhunderts schon um 1550 nicht mehr bekannt; vielmehr galten die damaligen Verhältnisse geradezu als Idylle, wie folgendes Zitat von Schätzler, dem Nachfolger des Lorenz Fries, zeigt45: Nachdem vor Zeitten die welt etwas gots forchtiger, from, schlicht vnd gerecht, vnd nit also ruchlos, vntrew, spitzfindig vnd arglistig als itzt bey vnsern Zeitten gewest […], (haben) die alten regierenden Hern vnd Bischoffen zu Wirtzburg und Hertzogen zu Franken in iren Cantzleien und Camern nit vil zuthun, vnd einen Domhern zu einem Cantzler vnd einen gelerten Rath oder zween, desgleichen ein oder zween Secretari vnd ein Cantzleischreiber, zwei oder drei, gehabt, vnd mit denen den Stift, Land vnd Leut regirt, vnd ein schlichte Registratur gehalten.