[p. 171] Die Kanzlei der Grafen und Herzöge von Kleve im 14. und 15. Jahrhundert
Von den Kanzleien der weltlichen Territorien Nordwestdeutschlands ist die der Grafen und Herzöge von Kleve die einzige, die bereits seit der Mitte des 14. Jahrhunderts eine umfangreiche Registerführung praktizierte1 und damit auch im Vergleich zu größeren und bedeutenderen Territorien beachtlich früh, wie es scheint, zu einer stabilen Organisation und zu Rationalität und Kontinuität in der Verwaltung des Territoriums fand2. Allein wegen dieser [p. 172] Register verdient die klevische Kanzlei also zweifellos einige Aufmerksamkeit. Umso erstaunlicher ist es, daß diese Register bis heute weder eingehend untersucht noch erschlossen worden sind, obwohl Th. Ilgen schon 1909 nachdrücklich auf ihren hohen Wert hingewiesen hat3 und sie seitdem in den diplomatischen Lehr- und Handbüchern hervorgehoben werden4. Die Struktur und Entwicklung der klevischen Kanzlei ist ebenso wie die fast aller übrigen Territorien dieser Region5 bis heute noch so gut wie unbekannt. Das hat seinen Grund sicher nicht zuletzt darin, daß für diese Territorien eigene Urkunden- oder Regestenwerke fehlen und damit die grundlegenden Voraussetzungen für Untersuchungen, die dem heutigen Methodenstand der Diplomatik angemessen wären6. Da der für solche Untersuchungen unumgängliche Überblick über die Kanzleiproduktion und die Schriftguteingänge nur über eine Durcharbeitung des bekanntlich für das Spätmittelalter umfangreichen und [p. 173] selbst über Archivrepertorien kaum hinreichend zu erfassenden Materials zu erreichen ist, haben sich die wenigen Arbeiten, die bisher überhaupt im Rahmen übergreifender Themenstellungen Fragen der Kanzleientwicklung angeschnitten haben7, auf die Zusammenstellung einiger direkter Aussagen über Notare und Kanzlei beschränkt. Demgegenüber geht der folgende Versuch, die Entwicklung der klevischen Kanzlei zu umreißen, aus von einer ersten systematischen Durchsicht des dem Vortragenden im Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf zur Verfügung stehenden Urkunden- und Registermaterials. Das bedeutet, daß zwar der wichtigere Teil der Überlieferung erfaßt, daß aber die Basis auch dieser Skizze, die in dem gegebenen Rahmen ohnehin nur eine erste Annäherung an das Thema sein kann, immer noch lückenhaft ist. Dennoch dürften die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen schon ein in den Grundzügen den Verhältnissen entsprechendes Bild der Entwicklung bieten und, wie ich hoffe, für die Teilnehmer an dieser Tagung von Interesse sein.
Die Anfänge schriftlicher Tätigkeit der Grafen von Kleve reichen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht über die Mitte des 12. Jahrhunderts zurück8. 1162 setzt die Reihe der in ihrem Namen ausgestellten Urkunden zögernd ein, nimmt aber erst von der Mitte des 13. Jahrhunderts an deutlicher zu. Aber auch dann bleibt mit einem Durchschnitt von etwa 2 Urkunden pro Jahr die Zahl der Ausfertigungen noch so gering, daß für ihre Herstellung die Unterhaltung einer eigenen Kanzlei zweifellos unnötig oder doch entschieden [p. 174] zu aufwendig gewesen wäre9. Bedauerlicherweise liegen über die Kanzleien der Empfänger dieser Urkunden – mit einer Ausnahme10 – keine Untersuchungen vor, so daß uns eine sichere Basis für die Bestimmung des Ausstellungsmodus fehlt. Der bisher allein mögliche Vergleich der erhaltenen Ausfertigungen untereinander läßt jedoch kaum einen Zweifel daran zu, daß es sich – wie in dieser Zeit nicht anders zu erwarten – überwiegend, wenn nicht sogar ausschließlich um Empfängerausfertigungen handelt11. Es spricht somit einiges dafür, daß die Grafen von Kleve zumindest bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts keine Kanzlei gehabt haben, nicht einmal in der rudimentären Form eines einzelnen kontinuierlich beschäftigten Schreibers. Wieweit die Kapläne der Grafen, die seit 1162 in den Zeugenreihen gelegentlich genannt werden12, also vermutlich wohl an der Führung der Geschäfte mitbeteiligt waren, auch die Urkundsgeschäfte mitgestaltet haben, ist nicht erkennbar. Die sonst übliche oder doch gemeinhin angenommene Identität von Kaplan und Notar13 ist für Kleve jedenfalls nicht belegt.
[p. 175] Ein Notar ist in Kleve erst 1277/78 bezeugt14. Die auffällige Koinzidenz dieser ersten Erwähnung eines Schreibers mit dem Regierungsantritt Dietrichs VIII. (1275–1305) läßt vermuten, daß die Einrichtung einer Schreibstube im Sinne eines ständig beschäftigten Notars eine bewußte Innovation dieses Grafen gewesen ist, die von da an, wie die nicht mehr abreißende Kette der namentlich belegten Notare zeigt, zur festen Einrichtung geworden ist15. Da seit Beginn des 14. Jahrhunderts Kapläne und Notare am klevischen [p. 176] Hof eindeutig nebeneinander tätig waren, wobei die Kapläne dem sich herauskristallisierenden Rat angehören16, ist anzunehmen, daß diese Notare von vornherein nur die eigentlichen Schreibarbeiten erledigten – wie auch die für sie üblich prägnantere deutsche Bezeichnung „scriver‟ andeutet –, während die Aufsicht und Durchführung der Geschäfte beim Rat und innerhalb dessen in erster Linie beim Kaplan lag. Die Einrichtung der Schreiberstelle gegen Ende des 13. Jahrhunderts scheint also eine, wenn auch noch rudimentäre Differenzierung in Verwaltungsspitze und Expeditionsstelle anzudeuten, auf jeden Fall den Beginn einer neuen Form der Zentralverwaltung zu signalisieren.
Deutlichere Konturen gewinnt die klevische Schreibstube aber erst in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Sicheres Zeichen für die geänderte Einstellung zur Schriftlichkeit und zu den Erfordernissen einer intensiveren Verwaltung, die den Aufbau einer Kanzlei forderte und förderte, ist auch in Kleve das Auftreten von internem Schriftgut: Um 1319 ließ Dietrich IX. (1310–1347) das erste Urbar der Grafschaft anlegen17, etwa 1338 das erste Kopiar18. Hatte man sich um die Ausgänge der gräflichen Urkunden bisher gar nicht, um die Eingänge kaum gekümmert, so wurde jetzt der Urkundenbestand geordnet und die noch wesentlichen Urkunden analog zu dieser Ordnung nach Sachgruppen [p. 177] getrennt kopiert und durch einen Index zusätzlich erschlossen19. Die sachthematische Anlage des Kopiars wie die offensichtlich bewußte Auswahl der aufgenommenen Urkunden läßt deutlich erkennen, daß man mit dem Kopiar wie auch mit dem Urbar die umfangreicher gewordenen Besitzungen und Rechte überschaubar und für die Durchsetzung der Territorialherrschaft verfügbar machen, d.h. Verwaltungsinstrumente schaffen wollte20. Die Anregung für diesen ersten wichtigen Schritt in Richtung auf eine schriftliche und damit kontinuierliche und kontrollierbare Verwaltungspraxis haben sich die Grafen von Kleve vermutlich bei ihrer habsburgisch-kiburgischen Verwandtschaft geholt, bei der solche Verwaltungsinstrumente bekanntlich schon seit einigen Jahrzehnten in Gebrauch waren21.
Die Hauptaufgabe der Kanzlei bestand in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts wohl noch eher in dieser Sicherung und Aufbereitung der Rechtstitel als in der Urkundenausfertigung, bei der, wie es scheint, die Empfängerausfertigung weiterhin gebräuchlich blieb22. Sie verliert erst in der Regierungszeit [p. 178] Graf Johanns (1347–1368) an Bedeutung, unter dem die Konstituierungsphase der Kanzlei ihren Abschluß findet. Kennzeichnend für die neue Situation ist etwa, daß die klevische Kanzlei bei einem Ministerialentausch zwischen Graf Johann und dem Abt von Werden 1367 sowohl die Urkunde des Grafen als auch die Gegenurkunde des Abtes ausfertigte, die noch in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts zweifellos in Werden selbst ausgestellt worden wäre23. Anders als zu den Zeiten der Empfängerausfertigungen lag jetzt das primäre Interesse an der schriftlichen Fixierung des Rechtsgeschäftes beim Territorialherrn, dessen Kanzlei zur Urkundsstelle für beide Parteien wird, nicht nur da, wo der Empfänger über keine eigenen Schreibkräfte verfügt24, sondern auch gegenüber anderen kanzleifähigen Partnern.
Die neue Praxis, die Urkundenfertigung grundsätzlich selbst zu übernehmen, führte zwangsläufig zu einer erheblichen Steigerung der Kanzleiproduktion25, die wiederum personelle wie organisatorische Konsequenzen nach sich ziehen mußte. War die Kanzlei bisher kaum mehr als ein Ein-Mann-Betrieb gewesen, so arbeiten jetzt mindestens 3 Notare gleichzeitig nebeneinander26. Die auffälligste Folge dieses Ausbaus für die Urkunden selbst war die jetzt deutlich erkennbare Verwendung eines – sehr schlicht gehaltenen – Formulars27, das die Kanzlei in der jetzt entwickelten Form nahezu unverändert [p. 179] bis zum Ende des 15. Jahrhunderts beibehalten hat28; erst dann kam mit dem Auftreten der eigenhändigen Unterschrift ein wesentlich neues Element hinzu29.
Die wichtigste organisatorische Neuerung, in der sich alle anderen spiegeln und in der die jetzt erreichte Formierung der Kanzlei als festorganisierte Verwaltungsinstitution am deutlichsten zum Ausdruck kommt, war aber zweifellos der Übergang zur Registerführung, der die weitere Entwicklung der klevischen Kanzlei entscheidend prägte. Woher der Anstoß zu dieser für ihre Zeit ja noch durchaus ungewöhnlichen Praxis kam, wird sich kaum präzis feststellen lassen. Wahrscheinlich hat der geistlich gebildete und in der geistlichen Verwaltung erfahrene Graf Johann Anregungen aus diesem Bereich, etwa von der römischen Kurie mitgebracht30. Die Form der ersten Registerbände legt jedoch nahe, nicht nur an äußere Einflüsse zu denken, sondern auch an eine eigenständige Entwicklung aus den sachlichen Zwängen der umfangreicheren Geschäftsführung und der eigenen Kanzleitradition. Schon [p. 180] in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts war die Kanzlei dazu übergegangen, von wichtigeren Ausgängen Einzelkopien zu fertigen oder auch Konzepte als Belege zu verwahren31. Bei größeren Mengen bedurfte eine solche Sammlung einer gründlichen Organisation, wollte man sie benutzbar halten. Vielleicht ging man deshalb in den 50er Jahren dazu über, Kopien bzw. Konzepte nach Sachgruppen geordnet auf einzelnen Lagen zusammenzuschreiben32. Das Vorbild für die formale Anlage dieser Abschriftensammlungen hatte man in der eigenen Kanzlei in dem Kopiar Dietrichs IX., von dem man auch die Gliederung in einzelne Sachbereiche übernahm33. Diese ließ sich dann aber bei einer laufenden Kopierung parallel zur Geschäftsführung, die seit ca. 1360 praktiziert wurde34, offenbar nicht mehr durchhalten, so daß die Kanzlei sie [p. 181] gegen Ende der Regierungszeit Graf Johanns aufgab zugunsten einer einfachen chronologischen Reihung; gleichzeitig beschränkte sie sich mehr und mehr auf die Kopierung der Ausgänge, so daß die Abschriftensammlungen sich zu laufend geführten Auslaufregistern wandelten35. Entscheidend für die Registrierung einer Urkunde war aber auch weiterhin nicht der formale, sondern der funktionale Aspekt. Die Registerführung beschränkte sich – und das gilt in gleichem Maße auch für das 15. Jahrhundert – auf die Bereiche der Vermögens- und der Güter-, der Lehen-, Ämter- und Regalienverwaltung. Wenn sich auch heute noch nicht feststellen läßt, ob alle in diesem Bereich anfallenden Urkunden registriert worden sind oder die Kanzlei bzw. ihre einzelnen Mitglieder noch einmal eine Auswahl trafen, so läßt sich doch festhalten, daß das Ziel der Register offenbar darin bestand, die wirtschaftlichen und rechtlichen Verpflichtungen und Verbindlichkeiten festzuhalten, die man eingegangen war und auf die man nach bestimmten Fristen zurückkommen mußte. Es ging der Kanzlei bei der Anlage der Register allein darum, im eigenen Interesse der Gefahr vorzubeugen, daß die ausgegebene Urkunde und/oder das Konzept in der eigenen Registratur verlorenging und damit die einzig sichere Grundlage für die weitere Abwicklung des Geschäftes36. Darüberhinaus [p. 182] ermöglichte die buchmäßige Organisation und die Erschließung durch Kopfregesten37, später dann auch durch Indices38 ein gezieltes Suchen und ein zügiges Auffinden; was bei dem ständigen Anwachsen des Geschäftsvolumens zweifellos zur unverzichtbaren Organisationshilfe wurde. Es ist bezeichnend für die genannte spezifische Funktion der Register, daß man bei den Schriftstücken des politischen wie des privaten Bereichs auf die Registrierung verzichtete und sich auf die Sammlung der Eingänge beschränkte, die – sofern es sich um Urkunden handelte – mit Rückvermerken versehen und in Kisten gelagert39, im übrigen wohl weitgehend unorganisiert aufbewahrt wurden40.
Gegen Ende der Regierungszeit Graf Johanns (1368) verfügte die klevische Kanzlei über eine Schriftgutorganisation, die in einer Einlaufserie, den Auslaufregistern und einer vermutlich wenig geordneten Ablage sonstigen Schriftgutes bestand. Diesem relativ hohen Organisationsgrad entspricht, daß die Kanzlei jetzt auch rein äußerlich büromäßig faßbar wird. 1367 wird die [p. 183] „scryvecamer‟ (der Begriff „Kanzlei‟ wird in Kleve erst von der Mitte des 15. Jahrhunderts an gebräuchlich41) erstmals erwähnt, als dort Quittungen für Zahlungen eingehen, die der klevische Drost Heinrich von Issum an verschiedene Gläubiger des Grafen geleistet hatte42. Schon zu diesem Zeitpunkt war sie demnach nicht nur Schreibbüro und Registratur, sondern auch Anlaufstelle für die nachgeordneten Beamten und die sonst an den Grafen herantretenden Parteien, also bereits Kanzlei im Sinne eines Geschäftslokals der Zentralverwaltung; die man sich allerdings noch nicht allzu behördenmäßig vorstellen sollte. Graf Johann selbst umschreibt die Gruppe am Hof, die u.a. auch die anfallenden Verwaltungsgeschäfte erledigte, 1366 als „nostrorum capellanorum et clericorum consortio‟43 und macht damit deutlich, daß der Hof noch mehr eine Lebensgemeinschaft als eine Behörde war, daß man eben doch noch in den Kategorien der mittelalterlichen Familia und nicht in den denen der modernen Beamtenverwaltung dachte.
Die Organisation der Kanzlei, wie sie unter Graf Johann ausgebildet worden war, blieb im Prinzip bis weit ins 15. Jahrhundert unverändert. Der Dynastiewechsel 136844 brachte für die Kanzlei nur eine Neuerung mit sich, nämlich die Führung von Lehensregistern. Bis dahin waren, wie allgemein üblich, über den im Prinzip mündlichen Belehnungsakt nur bei besonderen Anlässen seit dem 13. Jahrhundert Urkunden ausgestellt worden45, die dann [p. 184] im 14. Jahrhundert auch wie die übrigen zur Geschäftsführung notwendigen Stücke im Register eingetragen wurden. Grundsätzlich wurde dieses Verfahren bis ins 15. Jahrhundert beibehalten, seit 1370 aber zusätzlich Lehenaktregister angelegt, wie sie im Laufe des 14. Jahrhunderts in Deutschland weithin üblich geworden waren46. Den Anstoß für die Anlage dieser Register hat aller Wahrscheinlichkeit nach Graf Adolf (1368–1394) selbst gegeben, der bei seinem Lehrer Levold von Northoff in Lüttich die Führung solcher Lehenaktregister als jüngste Errungenschaft kennengelernt tatte47; der eigentliche Grund für ihre Einführung dürfte aber wohl darin zu suchen sein, daß der neue Herr die Verhältnisse nicht mehr persönlich kannte und deshalb der Aufzeichnung bedurfte, um Doppelbelehnungen oder Lehensentfremdung zu vermeiden. Den Vorbildern und der prinzipiellen Schriftlosigkeit des Verfahrens entsprechend wurden zunächst ausschließlich Aktnotizen in die Register [p. 185] eingetragen. Von 1410 an kommen Abschriften von Belehnungsurkunden und Reversen hinzu48, dann auch Korrespondenzen und interne Vermerke, so daß sich bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts das Aktregister zu einer Geschäftsregistratur in Buchform entwickelt hat49.
Eine ähnliche Entwicklung nehmen auch die überkommenen Urkundenregister, in die seit dem Ende des 14. Jahrhunderts neben Kopien der Ausläufe zunehmend Notizen über mündlich vorgenommene Akte und auch wieder Eingänge eingetragen werden. Die Auslaufregister wandeln sich demnach zu Aufzeichnungen über die vom Herzog und seinem Rat verhandelten Geschäfte, unabhängig davon, ob diese zur Ausstellung einer Urkunde führten oder nicht50. Charakteristisch für die Register bleibt aber, daß sie nur einen Teil des anfallenden Schriftgutes aufnehmen, d.h. daß sie weiterhin nach der Relevanz für die weitere Geschäftsführung selektieren51. Den organisatorisch logischen [p. 186] Schritt zur Führung einer regelrechten Serienregistratur hat die Kanzlei also nicht vollzogen; ganz im Gegenteil ist die Entwicklung in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts wieder rückläufig, d.h. Eingänge und internes Schriftgut werden in den Registern wieder seltener, die erneut in zunehmendem Maße zu reinen Auslaufregistern werden; eine Entwicklung, die aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Aufkommen der Sachaktenführung in Verbindung steht52.
In dem skizzierten Strukturwandel der Register spiegelt sich die Intensivierung der schriftlichen Geschäftstätigkeit in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts, die zu einer Vervielfachung des anfallenden Schriftgutes führte53. Das damit auftauchende Mengenproblem bewältigte die Kanzlei mit einer durchgreifenden Reform der überkommenen Schriftgutverwaltung. 1429 wurde die Serie der Eingänge mit Kurzregesten in einem speziellen Archivrepertorium verzeichnet und damit das Kopiar von 1368 zeitgemäß ersetzt. Die Urkunden lagen jetzt in einem eigenen Archivraum in 5 signierten Kisten nach Pertinenzen geordnet, die nach einem mnemotechnischen System gekennzeichnet waren54. Das zweite „Bein‟ der Schriftgutführung, die Register, wurden in den folgenden Jahren ebenfalls neu strukturiert. Von 1432 an wurden je eigene [p. 187] Register für die Lehen und die Präsentationen angelegt55 und damit die bisherige allgemeine Registerführung in die Teilserien registra causarum, feudorum und presentationum aufgespalten, in denen sie bis ins 18. Jahrhundert geführt worden sind. Die bis dahin entstandenen älteren Registerbände wurden zu einer Serie zusammengestellt und durchsigniert und so nach rückwärts an die neugebildeten Teilserien angebunden, woraus unmittelbar deutlich wird, daß sie für die Verwaltung keineswegs totes Registraturgut waren56. Die Anlage von Indices sowohl für die einzelnen Bände wie auch übergreifend für ganze Gruppen57 und schließlich die Anlage von Parallelserien für die märkischen Lehen und causae nach der endgültigen Angliederung der Grafschaft Mark 146158 vollendeten die Neuorganisation der Register, die in der 1463 neu erbauten Kanzlei aufgestellt wurden59. Dort dienten sie, wie die zahlreichen Streichungen und Zusätze unmittelbar deutlich machen, bis weit [p. 188] in die Neuzeit als Grundlage der laufenden Geschäftsführung. Sie waren, was allein schon der ungewöhnliche Aufwand der Serienbildung verdeutlicht, seit der Mitte des 14. Jahrhunderts das Pro-Memoria der Kanzlei, hatten also die Funktion, den Überblick über die getätigten Geschäfte zu ermöglichen und als Informationsspeicher für die zukünftige Geschäftsführung zu dienen60. Spätestens seit der Mitte des 15. Jahrhunderts kam ihnen darüber hinaus aber auch noch eine gewisse juristische Beweisfunktion zu, deren genauer Umfang noch eingehender Analyse bedarf61.
Während die Schriftgutorganisation somit in Kleve um die Mitte des 15. Jahrhunderts zu einem relativ hoch differenzierten und allem Anschein nach effizienten Verwaltungsinstrument ausgebaut worden war, blieb die Geschäftsorganisation der Kanzlei erstaunlich lange nahezu unverändert. Das Personal bestand bis zum Ende des Jahrhunderts im Kern aus 4 „secretarii‟, zu deutsch nach wie vor schlicht „scriver‟ genannt, war also kaum umfangreicher als zur Zeit des Grafen Johann62. Es sind weiterhin in der Regel, wenn [p. 189] auch nicht durchweg Geistliche63 bürgerlicher, ja bäuerlicher Herkunft, die im landesherrlichen Dienst Karriere machen64. Entscheidend war die, zumindest zum Teil schon akademische Vorbildung65, nicht der geistliche Stand, der dem Herzog nur die nützliche Möglichkeit bot, diese Leute mit Pfründen zu versorgen, während er Laien auf eigene Kosten unterhalten mußte. Eine Differenzierung innerhalb der Gruppe der Sekretäre wird es dem Ansehen nach gegeben haben; auch eine gewisse Arbeitsteilung ist zu erkennen. Andererseits sind dieselben Hände gleichzeitig in den verschiedenen Registern und bei den Ausfertigungen nachzuweisen, so daß es eine grundsätzliche Trennung nach Aufgabenbereichen nicht gegeben haben kann, vielmehr die Sekretäre nach Bedarf und Verfügbarkeit für alle anfallenden Schriftgeschäfte eingesetzt worden sind; darüber hinaus hatten sie auch die sachliche Vorbereitung der Ratsverhandlungen zu leisten, fungierten als Zeugen z. B. bei Belehnungen und als Geschäftsträger des Herzogs bei verschiedensten Geschäften66. Ein eigentlicher Kanzleichef, wie er anderswo als cancellarius oder prothonotarius [p. 190] erscheint, ist in Kleve nicht faßbar. Von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts ist der Spitzenbeamte der Zentralverwaltung, wie es scheint, der Landrentmeister67, ansonsten ist man organisationsmäßig mit Herzog und Rat als Entscheidungsgremium68 und der Kanzlei, d.h. der Summe der verfügbaren Schreiber, als ausführendem Organ ausgekommen, wobei vermutlich die persönliche Geschäftsführung des Herzogs eine weitere Differenzierung und Kompetenzregelung überflüssig machte. Erst als die häufigere Abwesenheit des Herzogs in den 40er Jahren es nötig machte, die Geschäftsführung öfter den Räten zu übertragen, profilierte sich das mit der inhaltlichen wie technischen Seite der Geschäfte am besten vertraute Mitglied des Rates, der Rentmeister Heinrich Nyenhuis, soweit als Chef der Verwaltung, daß er von den Zeitgenossen als „secundus dominus territorii Clivensis‟ [p. 191] apostrophiert wurde69. Es ist kennzeichnend für die noch unverfestigte Struktur, daß es in Kleve für diese neue Position des „Altrentmeisters‟ keinen Titel gab, so daß er, wie auch noch sein Nachfolger Hermann von Brakel, nur als „die praist‟ bezeichnet wird#70, nach der 1442 eigens als Amtspfründe für den Verwaltungschef eingerichteten Propstei Kleve71. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wird der Titel „Kanzler‟ für diesen neuen Spitzenbeamten der Verwaltung gebräuchlich72, zur selben Zeit als in Kleve auch erstmals die Geschäftsordnung der Zentralverwaltung in den Grundzügen schriftlich fixiert wurde73. Die bis dahin auf persönlicher Weisung statt fester Kompetenzenregelung [p. 192] basierende Geschäftsführung hatte zur Folge gehabt, wie aus den Klagen der Räte 1486 deutlich hervorgeht74, daß die Kanzlei fallweise auf direkten Befehl des Herzogs oder einer von diesem tatsächlich oder vermeintlich beauftragten Person arbeitete, wodurch es zu Doppelaufträgen, Widersprüchen, unkontrollierten Beeinflussungen des Kanzleipersonals und anderen Willkürlichkeiten kam. Auf Drängen der Räte wurde das Kanzleipersonal deshalb 1486 dem Rat direkt unterstellt und darauf vereidigt, nur auf dessen Befehl zu arbeiten75. Alle Eingänge mußten, wenn sie nicht direkt an den Rat gelangten, einem der Schreiber übergeben werden, der sie nach entsprechender Vorbereitung an den Rat zur weiteren Geschäftsbehandlung weiterleitete. Auch der Herzog selbst hatte die an ihn unmittelbar gelangenden Eingänge in diesen Geschäftsgang zu geben, in den selbst die mündlichen Verhandlungen mit einbezogen wurden76. Die Einführung fester Bürostunden für Räte und Schreiber77 markiert auch äußerlich, daß sich 1486 in Kleve Rat und Kanzlei zu einer von der persönlichen Geschäftsführung des Herzogs unabhängigen Zentralbehörde formiert haben, die in ihrer Kompetenz umfassend, in ihrer Struktur noch wenig gegliedert ist, aber behördenmäßig der Ausgangspunkt für die differenzierte landesherrliche Regierung des 16. Jahrhunderts war.