[p. 297] Zur Kanzlei der Herzoge von Österreich aus dem Hause Habsburg (1282–1365)
Mit dem Herrschaftsantritt der Habsburger beginnt ein völlig neuer Abschnitt im landesfürstlichen Urkundenwesen der Herzogtümer Österreich und Steiermark. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der Verwaltung, wo die neue Dynastie durchaus auf Einrichtungen König Ottokars II. Přemysl zurückgriff, wurde im Bereich des Urkundenwesens und der Kanzlei, des wichtigsten Instrumentes der landesherrlichen Regierung, bewußt jegliches Anknüpfen an ottokarische Traditionen1 vermieden. Bezeichnend ist die enge Anlehnung an die Kanzlei König Rudolfs von Habsburg: Der Leiter (Protonotar) und die ersten Mitarbeiter der herzoglichen Kanzlei, über die Albrecht I. von allem Anfang an – auch schon als Reichsverweser – verfügte, rekrutierten sich aus der Reichskanzlei2.
Der Herrschaftskomplex der Habsburger als Landesfürsten umfaßte von Anfang an neben den Herzogtümern Österreich und Steiermark auch Krain und die Windische Mark sowie eine ansehnliche Zahl kleinerer Herrschaften der Habsburger im deutschen Südwesten, in dem territorial so außergewöhnlich zersplitterten Raum Schwabens und am Oberrhein. Gerade in diesem Gebiet, für das später die Bezeichnung „vorderösterreichische Lande‟ oder Vorlande aufkam, baute die Dynastie ihre Machtstellung im Laufe des Spätmittelalters beharrlich aus; es gelang ihr allerdings nicht, daraus ein geschlossenes Landesfürstentum zu machen. Als bedeutendster Zuwachs der „Herrschaft zu [p. 298] Österreich‟ sind schließlich die Erwerbungen des Herzogtums Kärnten im Jahre 1335 und der gefürsteten Grafschaft Tirol 1363 zu nennen. Die Vorstellung von der Einheit und Zusammengehörigkeit all dieser Fürstentümer und Herrschaften findet ihre charakteristische Ausprägung im Ausdruck „domus Austrie‟ – „Haus Österreich‟ als Gesamtbezeichnung nicht nur für die Dynastie, sondern auch für die von ihr beherrschten Gebiete3. Und stets führen alle Mitglieder des Hauses, gleichgültig welcher Linie, den Titel eines Herzogs von Österreich.
Bevor wir uns dem eigentlichen Thema zuwenden, müssen die Hauptschwierigkeiten aufgezeigt werden: Eine der wichtigsten Voraussetzungen, die Sammlung und Erschließung des Quellenmaterials im Rahmen der „Regesta Habsburgica: Regesten der Grafen von Habsburg und Herzoge von Österreich aus dem Hause Habsburg‟, ist in den Anfängen steckengeblieben. Außer den Regesten für die Jahre 1314–1330, die für die Urkunden, die Herzog Friedrich der Schöne als römisch-deutscher König (Friedrich III.) ausgestellt hat, zugleich an die Stelle der Regesta imperii traten4, ist vor inzwischen 50 Jahren nur noch eine Lieferung erschienen. Sie reicht bis 1288 und deckt nicht einmal die ganze Herzogszeit Albrechts I. ab5. Es wäre ein dringendes Desideratum, dieses Unternehmen wieder in Schwung zu bringen! Aber auch Kanzlei und Urkundenwesen sind trotz wichtiger Ansätze wie der ausgezeichneten, als „Vorbemerkung‟ titulierten Skizze Otto Stowassers über das habsburgische Urkundenwesen in Chrousts Monumenta Palaeographica sowie seiner kenntnisreichen Erläuterungen zu den umsichtig ausgewählten Faksimiles6 und trotz verschiedener wertvoller Untersuchungen über das Urkundenwesen [p. 299] einzelner Herzoge, die Siegel, Kanzleibücher, einzelne Register, die Kanzleivermerke, das Archiv der Herzoge usw.7 noch bei weitem nicht ausreichend erforscht. Vor allem gibt es keine modernen systematischen Untersuchungen über Kanzlei, Regierungspraxis und Urkundenwesen, wie sie in beneidenswerter Weise in den Arbeiten aus der Schule von Hans Rall für Bayern vorliegen8. Es ist nicht einmal eine Zusammenstellung der Vorstände der Kanzlei greifbar9, die eine erste Orientierung erleichtern könnte.
Wenden wir uns zunächst den Anfängen der Kanzlei der habsburgischen Herzoge von Österreich zu. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß König Rudolf von Habsburg seinem ältesten Sohn Albrecht I. als „Starthilfe‟ Kräfte der Reichskanzlei zur Verfügung stellte. Albrecht, der übrigens entgegen weitverbreiteter Anschauung durchaus selbst des Schreibens kundig war10, hatte als Urheber der Urbaraufnahme der habsburgischen Hausgüter in den 1270er Jahren Erfahrung in Verwaltungsangelegenheiten11. Eine Verbindung mit der „Kanzlei‟ der Grafen von Habsburg scheint allerdings nicht gegeben12, erst nach dem Tod König Rudolfs wurde die Regierung des habsburgischen Besitzes in Schwaben und am Oberrhein von der herzoglichen Kanzlei [p. 300] Albrechts besorgt13. Es ist ein selbstverständlicher und bezeichnender Ausdruck der Regierungspraxis, daß trotz keineswegs gleichgeschalteter Rechts- und Verfassungszustände in den einzelnen Territorien und trotz ausgeprägten individuellen Landesbewußtseins z. B. in der Steiermark und in Österreich eine einzige Kanzlei für alle Fürstentümer und Herrschaften Albrechts zuständig war.
Ein Bild von Umfang und Organisation der Kanzlei läßt sich nur schwer gewinnen. Für den Zeitraum bis 1298, der Erhebung Albrechts I. zum römisch-deutschen König, wurden aufgrund des Schriftvergleiches zwar 21 mehrfach auftretende Schreiber festgestellt, aber nur sieben von ihnen sind als sichere, einander ablösende Kanzleikräfte einzustufen, die übrigen 14 als gelegentliche Kräfte14. Jedenfalls stand jeweils regelmäßig zumindest eine Kanzleikraft als Schreiber zur Verfügung. Namen von Notaren bzw. Schreibern sind allerdings sehr selten belegt15. Es spricht für die Leistungsfähigkeit der Kanzlei, daß Empfängerausfertigungen zu den Ausnahmen zählen. Bei den Kanzleiausfertigungen lassen sich unabhängig vom Inhalt im wesentlichen drei, nach Größe und Ausstattung unterschiedliche Urkundentypen feststellen; feste Normen sind nicht nachzuweisen, möglicherweise richtete sich die Ausstattung nach dem Wunsch der Empfänger und den geforderten Taxen16.
Die ersten beiden Kanzleileiter Benzo von Worms und Magister Gottfried stammten aus dem Westen, aber schon der nächste, der von 1295 bis zu Albrechts Königswahl 1298 tätige Protonotar Otto von Mödling, stammte aus Österreich17. Nach der Erhebung Albrechts zum König verlor die herzogliche Kanzlei an Bedeutung. Der König installierte bei Herzog Rudolf III., den allein er trotz Gesamthandbelehnung aller Brüder als Herzog von Österreich erklärte, mit Berthold von Kiburg einen Kanzleileiter seiner Wahl und wohl auch seines Vertrauens18. Als Rudolf 1306 nach Böhmen zog, um dort die Königskrone zu erwerben, nahm er zwar einen erprobten Notar mit sich, Berthold aber blieb als Leiter der herzoglichen Kanzlei bei Herzog Friedrich dem Schönen, der in Österreich die Regierung übernommen hatte19. Nach [p. 301] der Ermordung König Albrechts sank die „Kanzlei‟, wofern sie diesen Titel zu diesem Zeitpunkt überhaupt verdiente, zur Bedeutungslosigkeit ab. Wenn für den Zeitraum von Mai 1310 bis März 1311 keine einzige Urkunde Herzog Friedrichs bekanntgeworden ist20, so wird die Situation anschaulich illustriert. In manchem war freilich nur eine Schwerpunktverlagerung erfolgt, Herzog Leopold I., der Bruder Herzog Friedrichs, der sich schon zu Lebzeiten des Vaters in den Vorlanden umgetan hatte, übernahm hier nach Albrechts Ermordung die Regentschaft. Magister Burkhard von Fricke, ein Schreiber König Albrechts, der durch die Anlage des großen habsburgischen Urbars bekannt ist und auch die Lehensverzeichnisse der Vorlande aufnahm21, war nun in seine Dienste getreten; im Herbst 1313 ist er – übrigens in einer Urkunde des Herzogs Friedrich – als Protonotar Herzog Leopolds bezeugt22. Leopold verfügte also mit Wissen des herzoglichen Bruders über eine von diesem wohl unabhängige Kanzlei. Dabei hatte Friedrich wenige Monate zuvor die grundsätzliche Unteilbarkeit des Länderkomplexes festgesetzt und die jüngeren Brüder, darunter auch Leopold, zum Verzicht veranlaßt. Leopold hatte freilich die Verzichtserklärung bis in den Herbst 1313 hinausgezögert23.
In den Jahren nach seiner Wahl zum römisch-deutschen König sind mehrere Kanzleivorstände Friedrichs nachweisbar, es gab aber nur eine einzige „königlich-herzogliche‟ Kanzlei, ohne Komplikationen bei Kompetenzüberschneidungen. Beachtung verdient, daß Friedrich in den 20er Jahren den Straßburger Bischof Johann von Zürich als Kanzler gewonnen hatte24; das Streben nach Kontinuität und Tradition hat dabei sicher eine Rolle gespielt, Bischof Johann war ja Kanzler König Albrechts I. gewesen!
Im April 1323 – nach der Schlacht bei Mühldorf und während der Gefangenschaft König Friedrichs – tritt daneben Magister Heinrich Visler, Pfarrer von Wien, als Protonotar bzw. oberster Schreiber der Herzoge Albrecht II. und Otto, der jüngeren Brüder des gefangenen Königs, auf25, die noch im Januar 1321 über kein eigenes Siegel verfügt hatten26. Mag. Heinrich war vorher Notar König Friedrichs gewesen; im Juni 1322, nur wenige Monate vor [p. 302] der Entscheidungsschlacht, wurde er mit dem anspruchsvollen Titel „imperialis aule notarius‟ bezeichnet27.
In den letzten Jahren Friedrichs des Schönen scheint es drei Kanzleien nebeneinander gegeben zu haben: Als Leiter sind Piterolf von Gortschach für Friedrich bzw. Heinrich von Winterthur für den in den Vorlanden schaltenden Albrecht II. faßbar, die Agenden Herzog Ottos wurden zunächst vermutlich weiterhin von Heinrich Visler betreut, da Hermann von München erst nach Heinrichs Tod als Protonotar Ottos begegnet28.
Nach dem Tod Friedrichs des Schönen gab es nur noch zwei Kanzleien und das Ableben Herzog Ottos führte 1339 zur Herrschaftskonzentration unter Albrecht II. Unter ihm ist dann auch in den 40er Jahren des 14. Jahrhunderts so etwas wie eine Konsolidierung längst routinemäßiger einrichtungen eingetreten. Sicher hat dabei eine gewisse Rolle gespielt, daß der gebildete, ursprünglich für den geistlichen Stand bestimmte Herzog seit seiner Lähmung (1330) hauptsächlich in Wien residierte. Das Archiv, dem für die Regierungspraxis und die Kanzlei doch einige Bedeutung zukam, befand sich nun in der Wiener Burg29, nachdem zuvor seit 1299 verschiedene wichtige Urkunden im niederösterreichischen Zisterzienserkloster Lilienfeld verwahrt worden waren30, nach einem bisher unbeachteten Beleg übrigens noch im Dezember 133731! Wenn ein allgemeines Register auch erst seit den 1380er Jahren unter Albrecht III. († 1395) nachweisbar ist, so waren in der Kanzlei Albrechts II. schon verschiedene Spezialregister vorhanden, ein Lehenbuch und Pfandregister, die seit Albrecht II. fortlaufend geführt wurden – ein erstes war 1313 angelegt worden32. Seit 1347 begegnen die als Indiz für einen [p. 303] fortschrittlichen Kanzleibetrieb so wertvollen Kanzleivermerke, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann33. Am deutlichsten führt uns eine Bemerkung Johanns von Viktring den Stellenwert der Kanzlei vor Augen. Der Kärntner Zisterzienserabt, ein in solchen Dingen durchaus kompetenter Mann, der es wohl in habsburgischem Auftrag unternommen hatte, eine Geschichte des durch die Erwerbung Kärntens erweiterten Länderkomplexes der Herzoge von Österreich zu verfassen und damit ein historiographisches Fundament für ein gemeinsames Landesbewußtsein und Zusammengehörigkeitsgefühl zu legen, berichtet, Herzog Albrecht II. habe Johann Windlock das „officium cancellarie‟ übertragen „ad omnium suorum principatuum expedienda negotia‟34. Ein singuläres Zeugnis für den „Charakter der Kanzlei als Zentralbehörde‟35! Zugleich liegt hier einer der frühesten Belege für die Anwendung des Terminus „cancellaria‟ für die Einrichtung vor, von der wir nun schon die ganze Zeit als herzoglicher Kanzlei sprechen. Dazu paßt in bezeichnender Weise, daß sich seit 1349, noch während der Amtszeit Johann Windlocks, die Titulatur „cancellarius‟ – „Kanzler‟ in der herzoglichen Kanzlei durchsetzte36. Der Begriff „cancellaria‟ wird zunächst auch weiterhin [p. 304] nicht sehr häufig gebraucht. 1363 wird ein Notar als „notarius cancellarie ducis Austrie‟ bzw. 1368 als „notarius in cancellaria‟37 bezeichnet, zu Beginn der 1380er Jahre begegnet dann ein „notarius et locumtenens cancellarie‟ Herzog Leopolds III.38. 1391 liegt die erste Nachricht über die örtliche Unterbringung der Kanzlei vor; zu diesem Zeitpunkt wurde in Wien ein eigenes Haus für die Kanzlei erworben39.
Hier ist nun der Ort, einige Worte über die Kanzlei und ihre Organisation zu sagen40. Wie in anderen Kanzleien auch, läßt sich bis ins 15. Jahrhundert kaum etwas über Personalstand41, Arbeitsteilung, Zuständigkeiten u.ä. aussagen. Namen von Schreibern sind wiederholt belegt, sie werden in lateinischen Quellen als „notarii‟, in deutschen als „Schreiber‟ bezeichnet. Die Bezeichnung „scriba‟ darf hingegen nicht auf einen Kanzleischreiber bezogen werden, hier handelt es sich vielmehr um den „Landschreiber‟, den obersten Chef der Finanzverwaltung42. Der Leiter der Kanzleigeschäfte führt zunächst [p. 305] in der Regel bis 1349 den Titel „Protonotar‟, in deutschen Quellen heißt er meist „obrister Schreiber‟. Über seinen Einfluß auf die Kanzleigeschäfte und allfällige Mitwirkung ist – dies sei gleich vorweggenommen – buchstäblich nichts bekannt43. Der Titel „cancellarius‟ begegnet zunächst ganz vereinzelt, einmal im Januar 1289 noch in der Herzogszeit Albrechts I. für Magister Gottfried44, das andere Mal bei dem schon erwähnten Bischof Johann von Straßburg45, der vielleicht in Anlehnung an seine Stellung als Kanzler König Albrechts nun unter König Friedrich ebenfalls diesen Titel führte46. Nur in italienischen Quellen wird der auf einer diplomatischen Mission nach Treviso bei einem Überfall der Leute des Cangrande im Januar 1319 ums Leben gekommene Kanzleileiter König Friedrichs, Magister Konrad von Meinwang, als „supracancellarius aulae regis‟ bezeichnet47, die offiziöse Titulatur – z. B. in seinem Beglaubigungsschreiben48 – lautete stets „Protonotar‟. Wiederum vereinzelt und ohne eine Tradition zu begründen, war Magister Heinrich von Winterthur 1331 einmal als „summus notarius‟ tituliert worden49. Seit 1349, während der Amtszeit Johann Windlocks, der bis dahin gleichfalls die erwähnten Titel „Protonotar‟ bzw. „oberster Schreiber‟ führte, bürgerte sich die fortan gebräuchliche Bezeichnung „cancellarius‟ bzw. „Kanzler‟ ein50. Bemerkenswert ist die Selbstbezeichnung „primus cancellarius‟ [p. 306] durch Magister Johann Ribi von Platzheim bzw. Lenzburg in seinen Rekognitionsformeln in den Urkunden Rudolfs IV.51. Wenn in der Literatur gelegentlich behauptet wird52, er sei unter Albrecht II. zur Würde eines „Vizekanzlers‟ aufgestiegen, so entbehrt sowohl der Sachverhalt als auch die Funktionsbezeichnung jeglicher Quellengrundlage.
Es muß in diesem Rahmen nicht näher ausgeführt werden, daß die Kanzlei weit mehr war als nur eine Schreibstube und Beurkundungsstelle. Sie war ein ganz wesentliches Instrument, um eine zentrale Regierung auszuüben, die Kanzleivorstände mußten demgemäß in Verwaltung, Diplomatie und Politik universell einsetzbare Persönlichkeiten sein, die dem Herzog in entsprechender Weise zur Seite standen.
Peter Moraw hat in seinem Referat auf die Bedeutung der „Juridifizierung der Kanzlei‟ hingewiesen und das Phänomen gewürdigt, daß nun die Juristen in alle Bereiche der Verwaltung vordringen53, ein uns Heutigen selbstverständlicher, oft gar nicht ästimierter Zustand, der damals seinen Anfang nahm. Die Verhältnisse in den Kanzleien der Habsburger können als anschauliches Beispiel dafür dienen. Der 1314 verstorbene Protonotar der Herzoge Rudolf III. und Friedrich I., Berthold von Kiburg, hatte nachweislich in Bologna studiert54, Johann von Zürich, Bischof von Straßburg, der Kanzler König Albrechts I. und dann König Friedrichs, war von 1290 bis 1296 in Bologna55, von ihm sind sogar kanonistische Schriften erhalten56. Magister Heinrich Visler, Pfarrer von Wien, Protonotar der Herzoge Albrecht II. und Otto, finden wir 1304 und 1320/21 in Bologna57. Magister Hermann von [p. 307] München, Pfarrer von Graz, der Protonotar Herzog Ottos, begegnet nach des Herzogs Tod 1344/45 in der Bologneser Matrikel58, vermutlich hat er aber nur frühere Studien wieder aufgenommen. Magister Johann Windlock war schon vor seinem Übertritt in die Dienste Albrechts II. Konstanzer Generalvikar gewesen und wurde als „iurisperitus‟ bezeichnet59. Magister Heinrich Sachs, der Nachfolger Windlocks als Kanzler, scheint 1324 in den Bologneser Acta auf und war „licentiatus in iure canonico‟60.
Die Zahlen sprechen für sich: In der Zeitspanne von 1299 bis 1365 waren von insgesamt 11 Kanzleileitern sechs Juristen; bei zwei weiteren sind juristische Kenntnisse anzunehmen61, von den übrigen wissen wir es nicht62. Aus dem Magistertitel allein darf bekanntlich nicht auf ein Studium oder auf Rechtskenntnisse geschlossen werden.
Aber auch unter den Notaren bzw. Schreibern in der Kanzlei begegnen wir Juristen, die dann Karriere machten. Der schon genannte Magister Heinrich Visler, Pfarrer von Wien, war 1322, also nach seinem Studium, Notar König Friedrichs und wurde im Jahr darauf Protonotar der jüngeren Brüder des Königs. Der ebenfalls schon erwähnte Magister Heinrich Sachs von Enns war „secretarius‟ und „notarius‟ bei dem 1344 jung verstorbenen Herzog Friedrich, dem Sohn Herzog Ottos, gewesen, wurde dann von Albrecht II. [p. 308] für diplomatische Missionen u.a. an die päpstliche Kurie herangezogen und begegnet am Ende der Regierungszeit Albrechts II. als dessen Kanzler63. Die beiden Beispiele mögen zur Illustration genügen. Es wird daran deutlich, daß die Schreiber-Notare keineswegs nur mit der Abfassung von Urkunden, Briefen und anderen Geschäftsstücken befaßt waren.
Zahlreiche Belege für die Verwendung von Notaren und Protonotaren bzw. Kanzlern gerade in diplomatischen Missionen – das tragische Beispiel des auf einer solchen Mission ums Leben gekommenen Magisters Konrad von Meinwang wurde ja erwähnt – unterstreichen den Sachverhalt, daß sie wichtige Träger der Administration und des Managements waren, auch dies willkommene Indizien dafür, in welchem Ausmaß die Kanzlei als Koordinationsstelle für die Ausübung der herzoglichen Regierung diente.
Daneben wird meist weniger beachtet, daß die Kanzlei auch eine Stätte der Bildung und Kultur war. Als Beispiel sei dafür eine Gruppe von Briefsammlungen und Formularbüchern angeführt, die in engem Zusammenhang mit der neuerrichteten herzoglichen Kanzlei der ersten Habsburger entstand64. Ein noch im 17. Jahrhundert im Zisterzienserkloster Heiligenkreuz vorhandenes, heute leider verlorenes Formularbuch wurde vermutlich von Benzo von Worms kompiliert65, die berühmte Wiener Briefsammlung stammt von Magister Gottfried66, das sog. Formelbuch Albrechts I. wurde neuerdings Otto von Mödling zugeschrieben67 und ein weiteres Formularbuch [p. 309] (cvp. 2493) aus der Frühzeit Herzog Friedrichs I. dürfte von Berthold von Kiburg angelegt worden sein68. Die Namen der Autoren bzw. Kompilatoren sind schon alle in anderem Zusammenhang genannt worden: Es waren die ersten vier Protonotare der habsburgischen Kanzlei. Schon Oswald Redlich hat betont, in welchem Ausmaß die Kanzlei als „Schule für Männer der Geschäfte und der Feder‟ angesehen werden muß69. In diesem Zusammenhang mag auch noch auf Otto von Wien hingewiesen werden, der ausdrücklich als Schüler Magister Burkhards von Fricke, des Protonotars Herzog Leopolds I., bezeichnet wird: Der Kleriker, dem die Herzoge Friedrich und Leopold eine Pfarre verschafften, trug sich damals offenbar mit dem Gedanken, ein Studium – wohl der Jurisprudenz – anzutreten70. Als ein Höhepunkt muß schließlich der in der Kanzlei Herzog Rudolfs IV. produzierte Fälschungskomplex um das Privilegium maius gelten71, zweifellos ein Meisterwerk, freilich mehr der Diplomatik als der Diplomatie.
Rudolf IV. ist zugleich ein herausragendes Beispiel dafür, in welchem Ausmaß man sich der Kanzlei und des Mediums der Urkunde zur Durchsetzung seiner politischen Vorstellungen unter gleichzeitiger Entfaltung des fürstlichen Splendors bedienen konnte. Der junge Fürst ging freilich von Anfang an radikal vor, die Zwettler Annalen berichten, er habe alle Kurialen seines Vaters entfernt, „et novos officiales instituit‟72. Mit der ihm eigenen Phantasie und zweifellos unterstützt und gefördert durch seinen Kanzler Johann Ribi von Platzheim bzw. Lenzburg, hat er mit seinem „Sinn für fürstliche Prunkentfaltung‟ (Stowasser) seinem Urkundenwesen ein unverwechselbares Gepräge verliehen, das in krassem Gegensatz zu der bisher üblichen Herzogsurkunde [p. 310] steht. Die sonst ganz ungewöhnliche, ausführliche eigenhändige Unterfertigung des Herzogs, in je nach Urkundenart abgestuften Formen, und die Rekognition durch seinen Kanzler, sind hier vor allem zu nennen73. In diesem Zusammenhang mag auch noch gestreift werden, daß der Herzog 1365 bestimmte, der Propst des von ihm gegründeten Allerheiligen-Pfalzkapitels zu St. Stephan in Wien sollte „des landes ze Österreich ewiger und obrister ertzchantzler‟ sein74. Als Vorbild für diesen Ehrenrang, der mit der eigentlichen herzoglichen Kanzlei nichts zu tun hatte, diente zunächst wohl der Titel eines „Kanzlers von Böhmen‟, den der Propst von Vyšehrad führte; der Titel „Erzkanzler‟ sollte freilich nicht weniger darstellen als eine Entsprechung zur Erzkanzlerwürde der geistlichen Kurfürsten.
Nach dem frühen Tod Rudolfs IV. († 1365) erlosch nicht nur die äußerst kurzlebige Würde des Erzkanzlers von Österreich, die Kanzlei verlor ganz allgemein an Bedeutung, beim Urkundenwesen kehrte man zu den bescheideneren Formen zurück, die unter Albrecht II. üblich gewesen waren75. Die Rivalitäten zwischen Rudolfs IV. jüngeren Brüdern, den Herzogen Albrecht III. und Leopold III., führten bald zu einer zunächst vorläufigen, 1379 schließlich zur endgültigen Teilung der habsburgischen Territorien mit entsprechenden Konsequenzen für die Kanzlei. Rudolfs Kanzler Johann Ribi blieb unter den neuen Herren bis zu seinem Tod im August 1374 im Amt76, dann treten uns jeweils eigene Kanzler, Johann von Ehingen77 bei Albrecht III., Friedrich von Erdingen78 bei Leopold III. entgegen.
[p. 311] ANHANG
Die Leiter der Kanzlei 1282–1374
Albrecht I. (1282–1298)
Benzo von Worms, 1282–1287, dann (1290–1298) Abt von Heiligenkreuz79
Mag. Gottfried, 1287–1295, † 1295 Mai 2380
Otto von Mödling, 1296 (1295?)–1298, † 131381
Rudolf III. (1298–1306)
Mag. Berthold von Kiburg, 1299–1306
Friedrich I. (1306–1330)
Mag. Berthold von Kiburg, 1306–1312 Dezember, † 131482
Mag. Konrad von Meinwang, 1317 Dez. – † 1319 Januar83
Johann von Zürich, Bischof von Straßburg, 1320, 1321, 1326, † 1328 November 1684
Mag. Piterolf von Gortschach, 1327, † nach 1350 November 1185
[p. 312] Leopold I. († 1326)
Mag. Burkhard von Fricke, 1313 September/Oktober86
Albrecht II. und Otto
Mag. Heinrich Visler, Pfarrer von Wien, 1323 April, 1328 März, † 1336 Juni 1187
Albrecht II. (als Verwalter der Vorlande nach Leopold I.)
Mag. Heinrich von Winterthur, 1328 März 688
Albrecht II. (1330–1358)
Mag. Heinrich von Winterthur, 1331 Mai 8; 1333 Bischof von Lavant, † 1338 Juli 3187
Mag. Johann Windlock, seit 1339 April 4, seit 1349 mit dem Titel „cancellarius‟, 1352 Bischof von Konstanz, † 1358 Januar 2189
[p. 313] Mag. Heinrich Sachs, Dekan von Enns, 1356 Juli 12, 1358 Juni 30, † 1366 Juli 490
Otto († 1339)
Mag. Hermann von München, Pfarrer von Graz, 1337 Juni 2491
Rudolf IV. (1358–1365)
Mag. Johann Ribi von Platzheim bzw. Lenzburg, 1358–1374, 1359 Bischof von Gurk, 1363 Bischof von Brixen, † 1374 August 692.