[p. 879] Notariat und Romanisierung
Das Urkundenwesen in Venetien
und Istrien im Rahmen der politischen und der Kulturgeschichte (11. –
13. Jh.)
1. Die Problemstellung
Die hochmittelalterlichen Privaturkunden in Deutschland und Italien zeigen ein sehr verschiedenes Gesicht. In den Grenzbereichen kommt es zu Überschneidungen und zur Mischung nördlicher wie südlicher Elemente1. Eben diese Überschneidungen bzw. die Mischungsverhältnisse werden das Objekt unserer Untersuchung sein, und besonders jene im östlichen Oberitalien wie in Istrien. Es gibt hier nicht nur die in Italien übliche Carta und das später aus ihr hervorgegangene Notariatsinstrument, sondern man gebraucht hier auch reichlich Traditionsnotiz und Siegelurkunde und damit Dokumentationsformen, die sonst für Deutschland typisch sind. Demgegenüber verliert die Notariatsurkunde hier zeitweise erheblich an Boden.
Die Entwicklung des Urkundenwesens kann nicht losgelöst von der politischen Situation betrachtet werden. Letztere ist innerhalb [p. 880] des Untersuchungszeitraumes einigermassen konstant. Seit dem 6. Jahrhundert ist der Raum, um den es hier geht, politisch zerrissen. Das festländische Venetien gehörte zwei Jahrhunderte lang zum Langobardenreich, nur ein schmaler Küstensaum und Istrien waren oströmisch geblieben. Zu Ende des 8. Jahrhunderts kamen dann sowohl das langobardische Italien als auch Istrien unter fränkische Herrschaft, der später jene der deutschen Könige folgte. Nur der Küstensaum an der nördlichen Adria blieb davon unberührt, hier war die Republik Venedig entstanden2. Aber auch Festlandvenetien teilte sich weiter auf. Im Westen entstanden selbstbewusste Kommunen wie Verona3, Vicenza4, Padua5 und Treviso6. Weiter im Osten, im Friaul, entstand mit dem Staatswesen der Patriarchen von Aquileia eine für italienische Verhältnisse recht ungewöhnliche Form von Territorialstaat. Dessen Zugehörigkeit zum regnum Italicum war im Hochmittelalter auch schon eher obsolet. Faktisch bildete dieses Gebiet einen Bestandteil des regnum Teutonicum, mit welchem es [p. 881] auch eine lange gemeinsame Grenze hatte7. Die zum regnum Teutonicum gehörigen Nachbarländer sind das Herzogtum Kärnten sowie die Markgrafschaften Krain und Istrien. Zeitweise ist der Markgraf der letzteren niemand anderer als der Patriarch von Aquileia. Die geistliche Jurisdiktionsgewalt des Patriarchen als Diözesanbischof wie als Metropolit umfasst auch diese Nachbarländer ganz oder zum Teil; stellenweise reicht sie sogar noch weit über diese hinaus.
Doch damit nicht genug. Bei unserem Untersuchungsraum handelt es sich zugleich um das «Dreiländereck» des germanischen, des romanischen wie des slawischen Siedlungs- und Kulturraumes8. Diese drei Räume verzahnen sich gerade im Friaul und in Istrien ethnisch wie kulturell, und ganz besonders im Friaul beherrscht vom Anfang des 11. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts eine zugezogene deutsche Oberschicht die zum grösseren Teil romanische, zum kleineren Teil slawische Bevölkerung. Damals sind vor allem die Patriarchen von Aquileia fast ausnahmslos aus Deutschland gekommen; folglich waren auch die Beziehungen des Friaul zum Norden während dieser zweieinhalb Jahrhunderte besonders intensiv, intensiver als während jeder anderen Periode des Mittelalters. Hier liegt auch der Schwerpunkt unserer Untersuchung.
Was die Komponenten der friaulischen Kultur des Hochmittelalters [p. 882] betrifft, so ist die Forschung je nach den herangezogenen Kriterien zu verschiedenen Ergebnissen gekommen. Pier Silverio Leicht hat aus der Untersuchung der im Friaul als wirksam erkannten Rechtsordnungen auf eine kontinuierliche Romania geschlossen, und dieses Ergebnis stimmt nach Leicht auch mit den Zeugnissen aus den anderen Bereichen der Kultur überein. Grundsätze des deutschen Rechts seien nur dort angewandt worden, wo die Zuwanderer unter nur dort angewandt worden, wo die Zuwanderer unter sich gewesen sind. Das Veneto sich gewesen sind. Das Veneto und Istrien seien demgegenüber vollkommen römisch geblieben. Diese Beurteilung findet durchaus eine Parallele in der beispielsweise für das Paduanische und für das Vicentinische getroffenen Feststellung, auf dem Lande hätten sich die Germanenrechte wesentlich länger gehalten als in den Städten, und dieser Unterschied habe sich gerade in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und im folgenden 13. Jahrhundert besonders gezeigt, nicht zuletzt in Terminologie und Ausdrucksweise der Urkunden9. Carlo Guido Mor hat für dieselbe Fragestellung eine ausserordentlich breite Palette von Kriterien herangezogen: Literatur, Liturgie, dazu alle Zweige des künstlerischen Schaffens von Architektur, Plastik und Malerei bis hin zu Goldschmiedekunst, Münzwesen und Schrift. Das Ergebnis war dasselbe wie jenes von Leicht: Deutsche Einflüsse hat es wohl gegeben, sie sind aber nicht tief gegangen10.
Demgegenüber hat Cesare Scalon aufgrund bibliotheksgeschichtlicher Studien überzeugend festgestellt, weite Teile des Friaul seien [p. 883] im 12. Jahrhundert eine blosse Provinz des deutschen Kulturraumes gewesen. Die Klöster Moggio, Rosazzo, S. Maria zu Aquileia und Beligna stellten demnach die Grenzpunkte einer unbestreitbar deutschen Kulturlandschaft dar. Vor dem 12. Jahrhundert allerdings hätte auch die Gegenwart der aus Deutschland gekommenen Patriarchen von Aquileia keinen kulturellen Niederschlag im Süden gezeitigt, und dies trotz der engen Verbindung dieser Patriarchen mit den wichtigsten Kulturzentren ihrer Heimat. Während des 12. Jahrhunderts jedoch habe es zwischen Deutschland und Friaul keinen Kulturaustausch, sondern nur eine Einbahnstrasse von Nord nach Süd gegeben11.
Die Unterschiede in den Auffassungen sind beachtlich. Sie haben ihre Ursache darin, dass die herangezogenen Kriterien jeweils nur gewisse Facetten des gesamten Kulturlebens erfassen. Die Privaturkunden sind in diesem Zusammenhang noch nie befragt worden12. Und doch sind gerade sie ein hervorragender Indikator für allgemeine [p. 884] Kulturzustände: durch ihr vergleichsweise reiches Vorhandensein, durch die zumeist genaue und verlässliche Datierung bzw. Lokalisierung, schliesslich durch die namentliche Nennung der Beteiligten bzw. für ihre Herstellung Verantwortlichen. Ihr Auftreten ist viel weniger an bestimmte gesellschaftliche Schichten gebunden als dasjenige anderer Quellen. Ferner finden sie sich gleichmässiger über die ganze Region verteilt als alle anderen Zeugnisse, an die man sich sonst halten mag. Freilich steht fest, dass auch mit Hilfe des Urkundenwesens nicht alle Schichten der Bevölkerung erfassbar sind. Einzuräumen ist auch, dass die Zufälligkeiten der Überlieferungslage das Geamtbild ebenso verzerren können wie die von Zeit zu Zeit und von Institution zu Institution von vornherein unterschiedliche Chance für einen Rechtsakt, überhaupt zum Gegenstand einer Beurkundung zu werden. Es ist wahr, dass diese Unbekannte auch durch die sorgfältigste Berücksichtigung nicht völlig kompensiert werden kann. Doch steht es in dieser Hinsicht um die Urkunden bekanntermassen auch nicht schlechter als um alle anderen verfügbaren Quellen.
Man hat das Privaturkundenwesen in dem gar nicht so weit entfernten Tirol schon vor Jahrzehnten als Anzeiger allgemeiner Kulturzustände betrachtet und studiert, und auch das mittelalterliche Rätien ist in dieser Hinsicht bereits untersucht13. Wir wollen dasselbe für das Friaul tun. Es wird nicht nur möglich sein, die vorgeführten widersprüchlichen Forschungsergebnisse auf einen Nenner zu bringen, sondern es wird auch möglich sein, eine Chronologie der massgeblichen Entwicklungen aufzustellen14. Damit werden die eigentümlichen [p. 885] Erscheinungen des Urkundenwesens in jenem Raum dann auch in einen grösseren Zusammenhang eingeordnet werden können.
Nicht vernachlässigt werden darf noch die Klärung eines terminologischen Problems. Zwischen den Polen Siegelurkunde und Notariatsurkunde gibt es, wie gesagt, eine Palette von Mischformen. Ob einzelne Stücke noch als Siegelurkunde oder schon als Notariatsurkunde zu bezeichnen sind, das zu entscheiden kann im Einzelfall schwerfallen und hat im Schrifttum auch schon zu einiger Verwirrung, ja zu offensichtlichen Fehlurteilen geführt15. Es kommt vor, dass einzelne Schriftstücke ihrem Wesen nach dem einen Urkundentyp zuzurechnen sind, ihrer Form nach jedoch einem anderen zugehören16. Jedenfalls ist die Besiegelung allein kein hinreichendes Unterscheidungsmerkmal. Auch macht beispielsweise das Vorhandensein einer Publicatio nicht unbedingt schon eine Notitia17. Selbst die Wahl von subjektiver oder objektiver Fassung ist kein wirklich zuverlässiges Kriterium für die Zuordnung. Im folgenden wird sich die Entscheidung, ob ein bestimmtes Stück als Siegelurkunde oder als Notariatsurkunde bezeichnet wird, in erster Linie nach dem Überwiegen der für den einen oder für den anderen Urkundentyp charakteristischen äusseren wie inneren Merkmale richten. Das so gewonnene Ergebnis harmoniert in den meisten Fällen mit jenem, das aus dem Vorhandensein bzw. der Beurteilung der Schreibernennung abgeleitet werden kann.
Doch zurück von den methodischen Fragen zum sachlichen Problem. Die hochmittelalterliche deutsche Oberschicht südlich der [p. 886] Alpen ist schon früh verschwunden. Sie ist weder ausgewandert noch wurde sie physisch vernichtet. Sie ist vielmehr romanisiert worden.
Es ist eine Untersuchung wert, ob bzw. inwieweit dieser Prozess mit Vordringen und «Sieg» der Notariatsurkunde in unserem Raum zusammenhängt. Wir tun dies, obwohl der Zusammenhang von urkundlichen Formen und Nationalitäten für Südtirol mit vollem Recht verneint worden ist18. Gerade das Tiroler Beispiel zeigt auch, dass Siegelurkunden und Notariatsurkunden jeweils in verschiedenen Bereichen ihre besonderen Stärken und Schwächen haben, dass sie der Rechtssicherheit in verschiedener Weise dienen und dass ihre jeweilige Anwendung oder Nichtanwendung schon deshalb nicht ohneweiters Schlüsse auf die Volkszugehörigkeit von Urkundsparteien erlaubt. Von dem durch die Geistlichkeit später in ganz Deutschland sosehr geförderten Notariat wollen wir in diesem Zusammenhang gar nicht erst reden19. Im Friaul allerdings wird sich zeigen lassen, dass der Beginn typisch deutscher Urkundenformen mit dem Zuzug aus dem Norden zusammenhängt, ganz im Gegensatz zu der fallweisen Verwendung südlicher Urkundenformen in Kärnten [p. 887] und Steiermark, für welche andere Erklärungen auf der Hand liegen20.
Es mag zunächst scheinen, als hätten wir im Rahmen dieser Fragestellung die Slawen vergessen. Für diese stellt sich ein vergleichbares Problem aber nicht. Die Slawen, welche während des Hochmittelalters im östlichen Oberitalien und in Istrien gelebt haben, gehören weder zu den Führungs- noch zu den Mittelschichten. Sie sind in der Regel Objekt der Beurkundungen, kaum jemals Subjekt21. Im istrianischen Küstenland bedient man sich der Notariatsurkunde, im Hinterland dagegen gebraucht man die Siegelurkunde. Sowie dort die Volkssprache das Latein aus den Urkunden zu verdrängen beginnt, ist diese Volkssprache immer das Deutsche und nie das Slowenische. Selbst im istrianischen Urkundenwesen erscheinen die slawische Sprache und die glagolitische Schrift nicht vor dem 15. Jahrhundert22.
Es wird zweckmässig sein, das grosse Material zu gliedern. Zuerst sollen die Urkunden der Patriarchen von Aquileia untersucht werden. Es folgt der Vergleich mit den Urkunden der übrigen Bischöfe in Venetien und Istrien. Dann erst sollen die übrigen Privaturkunden des Friaul, schliesslich jene in den Nachbarländern besprochen werden. [p. 888] Die sehr ungleichmässige Erschliessung des urkundlichen Materials hinsichtlich Edition und diplomatischer Bearbeitung hat allerdings zur Folge, dass auch unsere Übersicht Ungleichmässigkeiten enthält23. Auf Zahlenangaben zum Vorkommen bzw. zur Verbreitung einzelner Urkundentypen wird daher bewusst verzichtet. Zu gross ist der Anteil des derzeit noch unerforschten Materials, als dass solche Zahlen wirklich nützen könnten. Die Leitlinien der Entwicklung werden sich aber auch so erkennen lassen. An ihnen werden wohl auch künftige Funde nicht mehr viel ändern.
2. Die Urkunden der Patriarchen von Aquileia
Anders als das noch viel zuwenig erforschte friaulische Urkundenwesen im allgemeinen ist wenigstens jenes der Patriarchen von Aquileia schon mehrfach Gegenstand von Untersuchungen gewesen24. Diese decken unsere Fragestellung aber nur teilweise ab, noch weniger tun dies zwei spezifisch kanzleigeschichtliche Arbeiten25. Bei dieser Lage der Dinge kann auch den folgenden Ausführungen ein abschliessender Charakter keinesfalls zukommen.
Im Urkundenwesen der Patriarchen von Aquileia gibt es aus dem 11. Jahrhundert noch Beispiele für den Gebrauch der Carta. Aus den dreissiger Jahren stammen zwei solche Urkunden des Patriarchen [p. 889] Poppo26. Eine Urkunde des Patriarchen Gotebold von 1062 steht der Carta noch in verschiedener Hinsicht nahe27. Im 12. Jahrhundert dagegen werden einige Handlungen der Patriarchen nur mehr in Form einer Traditionsnotiz festgehalten, eingetragen in ein liturgisches Buch28. Doch schon früher, um die Mitte des 11. Jahrhunderts, wird die Serie der Cartae unterbrochen und von einer stattlichen Reihe von Siegelurkunden fortgesetzt. Das erste erhaltene Beispiel ist eine Urkunde des Patriarchen Gotebold aus der Mitte des 11. Jahrhunderts. Das Stück ist nicht mehr als eine unterfertigte und besiegelte Traditionsnotiz29. Zwar kommen die Patriarchen Eberhard und Gotebold aus der Reichskanzlei30, doch ist von einem Einfluss von dorther auf die (damals noch sehr wenigen) Patriarchenurkunden kaum etwas zu spüren31. Auch die einzige erhaltene Urkunde des Patriarchen Ravenger (aus den sechziger Jahren des 11. Jahrhunderts) steht in der Tradition der Notitia32, ebenso eine des Patriarchen [p. 890] Sighard aus dem Jahre 107433. Zur Zeit des Patriarchen Ulrich I., um 1100, erscheint die Siegelurkunde dann in entwickelter Gestalt34. Allerdings fehlt noch die Angabe des Jahres, diese wird erst unter Ulrichs Nachfolgern üblich35. Auch die Schreiber nennen sich erst unter Ulrichs Nachfolgern wieder mit einer gewissen Regelmässigkeit36. Nicht viel später werden die eigenhändigen Unterfertigungen der Patriarchen abgestossen37.
Es dauert auch nicht lange, und es machen sich namhafte Einflüsse der Notariatsurkunde bemerkbar, und die Eigentümlichkeiten des nördlichen wie des südlichen Urkundenwesens beginnen sich zu [p. 891] vermischen. Da ist zunächst die Unterfertigung des Schreibers, bisweilen mit Wendungen, wie sie für die Carta ausgesprochen typisch sind, beispielsweise der Kompletionsformel38. Diese wird freilich in vielen Fällen um ein sigillavi erweitert39. Daneben halten sich aber auch sozusagen antiquierte Formen des deutschen Urkundenwesens. Dazu gehören etwa die vom Patriarchen besiegelten Notitien über ein Tauschgeschäft von 1146 und über eine Schenkung von 114740. Seltenheitswert hat eine Notiz über einen Akt des Patriarchen Poppo für das Kloster S. Maria in Organo zu Verona; die Handlung war 1027 zu Aquileia geschehen41.
Gegen Ende des 12. Jahrhunderts treten die Charakteristika der italienischen Beurkundungsart noch deutlicher hervor. Die Datierung erscheint fallweise nicht mehr im Eschatokoll, sondern am Anfang der Urkunde42. Mit dem Beginn des 13. Jahrhunderts treten besiegelte Notariatsinstrumente auf43. Dabei bleibt es dann auch unter [p. 892] dem Patriarchen Berthold44. Diese besiegelten Notariatsinstrumente der Patriarchen von Aquileia sind aber keinesfalls gleich zu bewerten wie jene der Bischöfe von Trient. Dort war die Notariatsurkunde die kaum jemals durchbrochene Regel. Die fallweise zusätzliche Anbringung eines Siegels war nichts anderes als das Zugeständnis an die Wünsche eines Empfängers im deutschen Sprachgebiet45. Bei den Patriarchen von Aquileia jener Zeit hingegen war die Siegelurkunde das Normale. Bei den unterfertigenden Notaren handelt es sich jetzt übrigens auch schon um professionelle Notare, nicht nur um Kapellane oder sonstige Schreiber, die sich nur notarius nennen bzw. denen dieser Titel von anderen beigelegt wird46. Schliesslich gibt es auch noch einige Patriarchenurkunden in Form reiner Notariatsurkunden, also ohne Besiegelung. Die Reihe dieser Urkunden beginnt spätestens unter dem Patriarchen Wolfger im frühen 13. Jahrhundert47. Aus der Zeit davor stammen nur wenige Einzelstücke48. Für einen [p. 893] Ausgleich mit dem Grafen von Görz hatte man aber schon 1150 die Dienste eines öffentlichen Notars in Anspruch genommen. Die von diesem angefertigte Beweisurkunde steht noch in der Tradition des breve recordationis49.
Wie man sieht, ist es nicht möglich, eine geradlinige Entwicklung der für die Notariatsurkunde typischen Formen in den Siegelurkunden der Patriarchen festzustellen. Eher im Gegenteil: gerade aus dem Ende des Untersuchungszeitraumes, also etwa aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, stammen einige besiegelte Patriarchenurkunden ohne Nennung eines Notars oder auch nur eines Schreibers. Auf den ersten Blick sieht das aus wie ein neuerlicher Sieg der Siegelurkunde. Augenscheinlich hängt dies vor allem mit den Urkundsparteien zusammen. Die erwähnten Urkunden ohne Schreibernennung betreffen nämlich innere Angelegenheiten der betroffenen geistlichen Institutionen50. Jedenfalls hängt der Gebrauch dieser oder jener urkundlichen Form nicht allein von der topographischen Situation des Empfängers ab51. Und ebensowenig ist der Ort der Handlung oder der Beurkundung dafür massgeblich52. Nicht einmal die Art des [p. 894] Rechtsgeschäftes kann für die Wahl der Beurkundungsform mit hinreichender Gewissheit in Anspruch genommen werden53. Zumindest treffen diese Erklärungen immer nur auf Einzelfälle zu.
Diese Beobachtung gibt einen ersten Hinweis darauf, dass die Einhaltung von Formen der Notariatsurkunde zumindest von einzelnen Urkundsparteien nur als eher unbedeutende Äusserlichkeit empfunden worden ist, und dies auch noch im 13. Jahrhundert, also in jener Zeit, als die Patriarchen schon häufiger berufsmässige Notare für ihre Beurkundungsgeschäfte herangezogen haben. Andernfalls hätte man nicht so oft auf die notarielle Unterfertigung verzichten können. Stellenweise zeigt sich durchaus ein gewisser Gegensatz zwischen der Auffassung des Patriarchen, dem die Tatsache der notariellen Unterfertigung augenscheinlich nicht allzu wichtig gewesen ist, und jener des Notars, der seine Unterfertigung für unerlässlich gehalten hat. Zwei Notariatsinstrumente aus den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts leiten die Ankündigung des Patriarchensiegels ein: Ad maiorem certitudinem renovate carte proprium iussit sigillum apponi54. Legt man diese Worte auf die Goldwaage, so scheinen die Urkunden ohne dieses Siegel nicht restlos sicher gewesen zu sein, oder zumindest waren sie das nicht in den Augen der Empfänger, der Benediktinerinnen von Aquileia. Der ausfertigende Notar verwendet in seiner Unterfertigung die Formel signo proprio roboravi, was wohl nichts anderes heisst, als dass für ihn das Siegel zwar nicht schädlich, aber doch eher überflüssig gewesen sein muss. Es fällt dagegen auf, dass derselbe Notar anderenorts es nicht für [p. 895] nötig gefunden hat, auf sein signo proprio ausdrücklich hinzuweisen55. Es scheint, ihm genügte das einfache roboravi dann, wenn nicht die «Konkurrenz» eines Siegels die Gefahr eines Missverständnisses darüber heraufbeschwor, wodurch die Gültigkeit der Urkunde nun eigentlich gewährleistet sei56. Wo ein notarius die Besiegelung einer Urkunde zu seinen Tätigkeiten zählte, handelt es sich, soweit bisher zu sehen, nur um so betitelte Schreibkräfte aus der Umgebung des Patriarchen, so gut wie nie um einen öffentlichen Notar57.
Es gibt aber ein noch deutlicheres Zeichen, dass die Beweiskraft einer nur notariell unterfertigten, doch unbesiegelten Patriarchenurkunde in Zweifel gezogen werden konnte, und zwar keineswegs nur bei kärntnerischen oder steirischen Empfängern, sondern in Friaul selbst. Es handelt sich hierbei um die Fälle, bei denen eine einzige Urkunde zweimal geschrieben worden ist: einmal als Notariatsinstrument mit notarieller Unterfertigung, doch ohne Siegel, das andere Mal ohne notarielle Unterfertigung, doch mit Siegel und natürlich auch mit entsprechend adaptiertem Formular. Es versteht sich, dass von diesem Mittel einer doppelten Beurkundung nur der sparsamste [p. 896] Gebrauch gemacht worden ist — es musste ebenso aufwendig wie kostspielig gewesen sein58.
In einem solchen Ambiente ist auch ein Notariatsinstrument mit sozusagen bedingter Geltung möglich: der zur Zeit gerade abwesende Patriarch sollte nach seiner Rückkehr noch sein Siegel an das Instrument hängen. Im speziellen Fall muss der Patriarch tatsächlich einiges an dem Instrument auszusetzen gehabt haben. Die Urkunde ist nämlich, ohne dass je ein Siegel angehängt worden wäre, durch Schnitte kassiert und durch ein anderes Instrument ersetzt worden, diesmal ohne jedes Siegel und ohne jede Siegelankündigung59.
Eine gewisse Reserve gegenüber dem Notariatsinstrument wird also verschiedenenorts deutlich. Das Friaul steht hierin nicht allein. Ähnliches ist auch in Tirol festgestellt worden, wenn auch aufgrund anders gearteter Indizien60. Hier wie dort war eine ländlich bestimmte [p. 897] Gesellschaft für die auf das städtische Leben zugeschnittene Urkundenform noch nicht reif. Das Misstrauen gegenüber der blossen Schrift war vor allem dort gegeben, wo auch die lateinische Sprache der Instrumente nicht verstanden worden ist61.
3. Andere Bischofsurkunden in Venetien und Istrien
Die Urkunden der Patriarchen von Aquileia unterscheiden sich wesentlich von jenen der Bischöfe in den weiter westlich gelegenen Teilen Venetiens. Dort hat man deutsche Einflüsse nur in der Imitation von Erzeugnissen der kaiserlichen Kanzlei wie auch in einer schlechten Orthographie und in sprachlichen Fehlern erkennen wollen62. Es ist dabei zu beachten, dass es sich bei den im folgenden genannten Beispielen zumeist um Suffraganbistümer von Aquileia handelt.
Betrachten wir zunächst die Verhältnisse in Padua. Von etwa 1030 bis ungefähr 1130 entsprechen die Urkunden der Bischöfe von Padua sehr genau den gleichzeitigen atti privati. Danach nähern sich die Bischofsurkunden verschiedenen Typen der Papsturkunden63. Jedenfalls gibt es keinerlei Unterbrechung der Entwicklung durch weitabliegende Beurkundungsformen wie etwa durch die Traditionsnotiz oder etwas ähnliches. Insbesondere ist auf das nahezu völlige Fehlen der Publicatio in den Paduaner Bischofsurkunden zu verweisen, welche einen regelmässigen Bestandteil des Formulars in den Aquileier Patriarchenurkunden wie in den Urkunden des deutschen Sprachraums überhaupt ausmacht. Ausserdem ist in Padua die Datierung so gut wie immer aufgeteilt: Jahr, Monat und Tag sind im Protokoll angegeben, der Ort der Handlung findet sich im Eschatokoll, [p. 898] wie übrigens auch in den Paduaner atti privati derselben Zeit. In den Urkunden der Patriarchen von Aquileia hingegen erscheint wenigstens während des 12. Jahrhunderts die Datierung vorzugsweise gegen Schluss des Urkundentextes, so wie das im deutschen Sprachraum auch sonst der Fall gewesen ist. Lediglich im 13. Jahrhundert verringert sich der Abstand zwischen den Urkunden der Bischöfe von Padua und jenen der Patriarchen von Aquileia um ein weniges, dies infolge der einen und der anderen Formel der Papsturkunden, welche die Paduaner Bischöfe seit damals in Urkunden von grösserer Feierlichkeit anzuwenden liebten.
In Vicenza ist selbst diese bescheidene Verwandtschaft nicht gegeben. Im 11. und gutenteils auch noch im 12. Jahrhundert herrscht das subjektive Dekret vor. Das eigentliche Privileg erscheint im Vicentinischen erst verhältnismässig spät, gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Es zeigt objektive Fassung. Ansonsten entsprechen die Urkunden der Bischöfe von Vicenza den jeweils gleichzeitigen atti privati, auch wenn es zu dieser Übereinstimmung in Vicenza erst ungefähr ein Jahrhundert später als in Padua gekommen ist, also erst in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts64.
Ähnlich ist die Situation zu Treviso, jedenfalls nach Massgabe der wenigen im Druck zugänglichen Urkunden. Bis um etwa 1130 entsprechen die Urkunden der Bischöfe von Treviso mehr oder weniger den gleichzeitigen atti privati, wie in Padua. Danach finden wir das eine oder andere Experiment: so ein breve recordationis und ein Stück mit dem Formular einer Siegelurkunde. Ab ungefähr 1160 jedoch ist das Notariatsinstrument vorherrschend. Jedenfalls findet sich auch in den Urkunden der Bischöfe von Treviso kein nennenswerter Einfluss des deutschen Urkundenwesens65.
Deutlich anders sind die Verhältnisse in Venedig. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts werden hier einzelne Urkunden der Bischöfe [p. 899] von Castello (wie auch solche der Dogen von Venedig) mit einem Siegel versehen. Das Formular entspricht gleichwohl jenem der siegellosen Carta. Erst seit dem Anfang des 13. Jahrhunderts erscheinen einzelne Bischofs- und Dogenurkunden, welche der Siegelurkunde nördlicher Art auch in ihrem Gesamtaufbau folgen66. Diese Erscheinung ist umso auffälliger, als wir es in Venedig nicht mit Suffraganen des Patriarchen von Aquileia zu tun haben.
Mit Concordia kommen wir ins westliche Friaul. Hier konnte bislang nur ein Teil des Materials in die Untersuchung einbezogen werden67. Noch 1140 hat ein Bischof von Concordia wegen eines Vertrags mit einer Gruppe von Kaufleuten eine Carta ausgestellt; der Notar ist allerdings derselbe, der wenige Jahre später auch für Beurkundungsgeschäfte des Patriarchats wie des Klosters Moggio herangezogen worden ist68. Siegelurkunden der Bischöfe von Concordia sind rar, die wenigen bekannten Beispiele stammen erst aus dem 13. Jahrhundert69. Neben ihnen stehen einige Urkunden, die dem Formular nach eher als Siegelurkunden gelten müssen, jedoch von einem öffentlichen Notar unterfertigt sind70. Das früheste Notariatsinstrument [p. 900] handelt von einer Entscheidung des Bischofs Romulus71. Es fällt auf, dass dieser in seinem früheren langjährigen Amt als Kanzler dreier Patriarchen von Aquileia sehr viele Siegelurkunden ausgefertigt und etliche davon nach ausdrücklicher Angabe sogar selbst besiegelt hat. Hierunter findet sich auch eine Entscheidung von 1173 über eben dieselben Zehnten, über die er nun als Bischof von Concordia zu befinden hatte72.
Es ist noch kurz auf die istrianischen Bistümer einzugehen. Die dort herrschenden Verhältnisse sind eher mit denen zu Aquileia vergleichbar als mit jenen im Veneto und in Concordia. Seit 1139 kommen an Triestiner Bischofsurkunden Siegel vor, erst ab der Mitte des 13. Jahrhunderts auch an den Urkunden der Bischöfe von Koper/ Capodistria und jener von Porec/Parenzo73.
Damit können wir die Betrachtung des bischöflichen Urkundenwesens abschliessen. Trotz einiger «weisser Flecken» ist ein hinreichend klares Gesamtbild zu entwerfen. In Aquileia — und nur hier — ist nach einer Periode der Carta das deutsche Urkundenwesen übermächtig, und zwar im ausgehenden 11. und während des Grossteils des 12. Jahrhunderts. Je später desto stärker vermischen sich die [p. 901] deutschen und die italienischen Formen. Im 13. Jahrhundert gibt es dann eine Palette von Mischformen bis hin zu reinen Notariatsinstrumenten. In Concordia und in den istrianischen Bistümern scheint diese Entwicklung, soweit das spärlicher erhaltene Material derartige Schlüsse zulässt, in abgeschwächter Form verlaufen zu sein. Venetien westlich des Friaul jedenfalls blieb von ihr — allem Anschein nach — so gut wie unberührt. Die Notariatsurkunde hat hier niemals eine ernstliche Konkurrenz erhalten.
Wir erinnern uns der sehr unterschiedlichen Aufassungen, zu denen die Forschung hinsichtlich der Zusammensetzung der friaulischen Kultur aus nördlichen und südlichen Komponenten gekommen ist. Allein die Untersuchung der Patriarchen- bzw. der Bischofsurkunden setzt uns bereits in die Lage, die unterschiedlichen Auffassungen unter ein Dach zu bringen und zudem eine genauere Chronologie der Entwicklungen zu bieten. Den Urkundenformen nach zu schliessen, setzen die Merkmale der nördlichen Kultur etwa um die Mitte des 11. Jahrhunderts ein; gegen Ende des Jahrhunderts sind sie bereits beherrschend. Sie bleiben aber stets an das Ambiente der geistlichen Institutionen in Friaul gebunden und haben kaum weiter ausgestrahlt. Im Gegenteil: sie haben sich nur dann einigermassen rein erhalten, wenn die Geistlichkeit unter sich geblieben ist. Vor allem dort, wo dies nicht der Fall gewesen ist, haben sich die Merkmale des Nordens mit jenen des Südens vermischt. Die Notariatsurkunde hat sich auf die Dauer als stärker erwiesen.
Wir können vorausschicken, dass das Bild, welches aus den übrigen Privaturkunden — ausserhalb des bischöflichen Urkundenwesens — gewonnen werden kann, das eben vorgeführte auf das vollkommenste bestätigt.
4. Die nichtbischöflichen Urkunden in Friaul
Auch ausserhalb der Patriarchen- und Bischofsurkunden ergeben sich eigentümliche Mischformen von Siegelurkunde und Notariatsurkunde. Es geht uns auch hierbei nicht um vereinzelte Erscheinungen wie das gelegentliche Auftreten der Notariatsurkunde in Kärnten, in [p. 902] der Steiermark und in Krain. Diese Fälle sind so gut wie immer aus besonderen Umständen zu erklären, beispielsweise dadurch, dass ein Italiener im Gebiet des heutigen Österreich eine Urkunde ausgestellt hat. In der einstigen Untersteiermark hat im frühen 13. Jahrhundert ein Petrus scriba Urkunden in vollständig italienischer Manier geschrieben. Offenbar handelt es sich um einen Italiener, der sich hier in der Steiermark niedergelassen hat. Angesichts der Zugehörigkeit dieses Gebietes zur Diözese Aquileia ist das nicht überraschend74. Noch wesentlich häufiger als eindeutige Notariatsurkunden finden sich einzelne von deren Merkmalen, ohne dass diese auf italienische Schreiber oder ähnliche Ursachen zurückgeführt werden können75. Im friaul jedoch sind die Beurkundungen nach nördlichem Muster keine Erzeugnisse von Auswärtigen, sondern sie sind für gewöhnlich im Lande selbst entstanden.
Im 11. Jahrhundert herrscht im Friaul noch die Carta76. Das 12. Jahrhundert ist dagegen in beachtlichem Masse eine Periode der Traditionsnotiz. Diese tritt vor allem von den dreissiger bis zu den siebziger Jahren des Jahrhunderts auf; einzelne Nachzügler stammen aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts77. Zur Anlage eigener Traditionsbücher wie im bayerisch-österreichischen Raum scheint es in Friaul [p. 903] aber nicht gekommen zu sein. Immerhin verdient das zeitliche Zusammentreffen des Auftretens der Traditionsnotiz in Friaul mit der Blütezeit der Traditionsnotizen in Bayern und Österreich angemerkt zu werden78. Wie in Deutschland wird die Traditionsnotiz dann angewandt, wenn das Interesse an der schriftlichen Sicherung hauptsächlich bei einer geistlichen Institution liegt. Doch kann sich daneben die Carta, vor allem in Cividale, noch behaupten79. In Aquileia wird die Carta dann angewandt, wenn istrianische Parteien im Spiele sind80. Die heute erhaltenen Traditionsnotizen machen übrigens sicher nur einen kleinen Teil des einstigen Bestandes aus81. Auf jeden Fall hat die übliche italienische Entwicklung von der alten Carta zum Notariatsinstrument im Friaul nicht in gleicher Weise stattgefunden. Die Entwicklung ist vielmehr wenn schon nicht unterbrochen, [p. 904] so doch nachhaltig beeinträchtigt worden. Selbst dort, wo die Carta überlebt, wird sie vom moderneren Notariatsinstrument erst in späterer Zeit ersetzt als in den Nachbarlandschaften Italiens82.
Auch die nichtbischöflichen Siegelurkunden sind gutenteils von geistlichen Institutionen ausgestellt83. Die Reihe der erhaltenen Siegelurkunden beginnt, soweit bisher zu sehen, bald nach 1170, dichter wird sie erst ab etwa 120084. Auch hier zeigt sich ein zeitliches Zusammentreffen mit der Entwicklung in Bayern. Während aber in Friaul die Traditionsnotiz mit dem Auftreten der Siegelurkunde verschwindet, werden in Bayern und Österreich Traditionsbücher bis um 1250 geführt85. Die Traditionsnotiz hat in Friaul nicht so tief Wurzel schlagen können wie in ihrer angestammten Heimat. Und auch die Siegelurkunde beherrscht das Feld keineswegs allein. Wie die Patriarchen selbst fertigen auch die verschiedenen geistlichen Institutionen des Friaul fallweise Siegelurkunden aus, fallweise betrauen sie einen öffentlichen Notar86. Letzteres geschieht sogar viel häufiger und insbesondere im Verlauf von Prozessen87. Von den Siegelurkunden betrifft ein beachtlicher Teil innere Angelegenheiten [p. 905] derselben geistlichen Institutionen88. Bezeichnend hierfür ist eine besiegelte Urkunde der Mönche von Rosazzo für ihren Abt: sie erteilen ihm darin die Vollmacht zum Abschluss eines Tauschvertrages mit dem Kapitel von Aquileia. Das Tauschgeschäft dagegen, welches derselbe Abt dann kurz darauf mit dem Kapitel schliesst, ist in Form eines unbesiegelten Notariatsinstruments beurkundet worden89. Es ist übrigens keineswegs so, dass für Prokuraturen auch sonst von vornherein Siegelurkunden üblich gewesen wären. Wohl gibt es dafür Beispiele90, aber auch das Gegenteil ist der Fall91.
Neben diesen Siegelurkunden von geistlichen Institutionen gibt [p. 906] es noch einige Siegelurkunden der Grafen von Görz, welche andererseits auch öffentliche Notare mit der Ausfertigung von Urkunden betraut haben92. Zwei Urkunden der Görzer Grafen liefern übrigens einen schönen Beleg für die fallweise mögliche Erklärung der wechselweisen Anwendung von Siegelurkunden und Notariatsinstrumenten als Folge ihrer unterschiedlichen Qualitäten. 1211 verzichten die Grafen Meinhard II. und Engelbert III. von Görz auf gewisse Vogteirechte über Güter des Klosters Moggio. Graf Engelbert leistet seinen Verzicht durch eine besiegelte Urkunde. Graf Meinhard tut dies persönlich, und dieser persönliche Verzicht wird durch einen Dritten beurkundet, in diesem Fall allerdings nicht durch einen Notar, sondern durch den Patriarchen selbst93. Einem Notar billigte man vor allem zu, einen persönlich zwischen Kontrahenten abgeschlossenen Vertrag rechtsgültig zu beurkunden. Bei einer anscheinend in Abwesenheit des Empfängers abgegebenen Verzichtserklärung hielt man eher eine Siegelurkunde für angemessen94.
Auch ausserhalb des bischöflichen Urkundenwesens steht die Siegelurkunde unter zunehmendem Einfluss des Notariatsinstruments. Es kommt auch hier zu Mischformen von der notariell unterfertigten Siegelurkunde95 bis hin zum besiegelten Notariatsinstrument96. Verschiedentlich hängt der Patriarch von Aquileia sein Siegel an ein Notariatsinstrument, obwohl er nicht der Urheber der in diesem beurkundeten Handlung ist97. Auch hier ist schliesslich auf einen Fall von zweifacher Abfassung hinzuweisen; er ist allerdings mit dem bereits erwähnten Fall der doppelten Ausfertigung einer [p. 907] Patriarchenurkunde nicht gut zu vergleichen. Es handelt sich nämlich um die Schenkung eines nach römischem Recht lebenden Friaulers an ein bayerisches Stift, und so ist die Zweigleisigkeit von Carta und Traditionsnotiz weniger erstaunlich als die doppelte Ausfertigung einer Patriarchenurkunde für ein Kloster in Friaul98.
Nahezu gleichzeitig mit der Reihe der Siegelurkunden beginnt im Friaul die zahlenmässig beeindruckende Serie der Notariatsinstrumente99. Es ist zudem auffällig, dass mit diesem Auftreten des Notariatsinstruments im allgemeinen eine Serie von notariellen Abschriften älterer Siegelurkunden zeitlich recht genau zusammenfällt: aus den Jahren kurz vor und um 1200 sind mehr notarielle Urkundenabschriften erhalten als aus den nächsten drei Jahrzehnten danach100. [p. 908] Die frühesten Notariatsinstrumente enthalten allerdings noch die eine und die andere Erinnerung an die Siegelurkunde101. Die Notariatsinstrumente werden für so gut wie jede Art von Rechtsgeschäft verwendet. Als die Benediktinerinnen von Aquileia interne Angelegenheiten wegen eines Anniversars zu regeln hatten, brachte der damit betraute Notar es sogar fertig, eine geistliche Pön derart in sein Instrument einzubauen, dass keine kirchliche Obrigkeit daran hätte Anstoss nehmen können102. Es sind allerdings nicht allzuviele Notare, welche die friulanischen Beurkundungsgeschäfte bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts besorgt haben103.
Die Notariatsinstrumente treten also etwa gleichzeitig mit den Siegelurkunden auf. Sie drängen aber die letzteren bald zurück, doch ohne endgültigen «Sieg». Ein und derselbe Aussteller gebraucht einmal diese, dann jene Beurkundungsform. Auch der Ort der Handlung oder der Beurkundung ist nicht von entscheidender Bedeutung104. Eher schon spielen gewisse Urkundsparteien eine Rolle. War der Empfänger ein Kloster beispielsweise in der Steiermark, so legte dieses [p. 909] natürlich eher Wert auf die ihm vertraute Beurkundungsform. So kommt es beispielsweise, dass die einzigen aus dem Untersuchungszeitraum erhaltenen Siegel von Abt und Konvent eines friaulischen Klosters sich gerade in der Steiermark, im Archiv des Klosters Admont finden105. Wie schon bei den Patriarchenurkunden festgestellt, gibt es auch bei den übrigen Privaturkunden keine geradlinige Entwicklung von einer Vorherrschaft der Siegelurkunde zu jener des Notariatsinstruments.
Erstaunlich ist vor allem, dass ausgerechnet nach der Mitte des 13. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, als der Höhepunkt des deutschen Einflusses in Friaul eindeutig überschritten war, die Formen der Siegelurkunde verschiedentlich klarer und häufiger auftreten als je zuvor. Es handelt sich aber auch hier fast immer um innere Angelegenheiten eines Klosters oder eines Kapitels. In erster Linie ist hier eine Urkunde von 1257 zu nennen, in welcher das Kloster Moggio einem gewissen Wolchemarus die jährliche Reichung von bestimmten Lebensmitteln und Kleidungsstücken verspricht, bis hin zu speziellen Sommer- und Winterschuhen. Dieser Wolchemarus hatte beschlossen, sein Leben in der Einsamkeit zu beschliessen106. Natürlich lässt sich einwenden, dieser Wolchemarus sei wohl ein Illiterat gewesen und müsse schon deshalb eine Siegelurkunde vorgezogen haben. Die heilige Maria auf dem Siegel müsste ihm verlässlicher erschienen sein als ein einfaches beschriebenes Stück Pergament. Dieser Einwand gilt aber nicht gegenüber einem anderen Dokument. In den dreissiger oder vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts stellten die Mönche desselben Klosters Moggio eine Liste der von ihnen in der letzten Zeit angeschafften Gegenstände zusammen, offensichtlich nur zu internem Gebrauch. Der Liste geht ein einleitender Text voraus, der dieselben Formeln enthält, wie sie für das Urkundenwesen nördlich der Alpen typisch sind107. In den sechziger Jahren des [p. 910] 13. Jahrhunderts macht auch das Kapitel von Aquileia mehrfach Gebrauch von der Siegelurkunde. Einmal geht es um innere Angelegenheiten108, das andere Mal um einen Steuernachlass zugunsten der Gemeinde Buzet/Pinguente in Istrien109. In all diesen Fällen verweisen auch die graphischen Merkmale auf die Traditionen der Siegelurkunde und nicht auf jene des Notariatsinstruments. Anhand der graphischen Merkmale lassen sich auch Einkünfteverzeichnisse als dieser Tradition verpflichtet dartun. Das tritt freilich weniger bei dem Verzeichnis des Klosters S. Maria zu Aquileia aus den siebziger oder achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts hervor110, sehr wohl aber bei dem des Kapitels zu Aquileia, welches wohl um 1200 niedergeschrieben worden ist111. Vom Text her lassen diese Schriftstücke keine Einordnung zu. Demgegenüber hat die Führung von urbarialen Aufzeichnungen beispielsweise in Trient zum Aufgabengebiet der Notare gehört112.
Ein weiteres Zeichen dafür, wie fremd dem Klerus in Friaul das romanische Urkundenwesen geblieben ist, bilden die Notitien mit dem Incipit Breve recordationis, oft noch mit dem Zusatz pro futuris temporibus ad memoriam retinendam oder so ähnlich. Das sind Formeln, wie sie römischrechtlich gebildete Notare an die Spitze ihrer Beweisurkunden zu setzen pflegten113. Die Formel findet sich nun auch in Notitien und in Siegelurkunden ohne Nennung eines Schreibers. Sie ist damit ausserhalb ihres eigentlichen Anwendungsbereiches [p. 911] gebraucht worden, ohne dass man auf die übrigen Erfordernisse für die Beweiskraft des romanischen Musters Rücksicht genommen hat114. Selbst wenn die erhaltenen Überlieferungen zum Teil nur unvollständige Abschriften sein sollten, änderte dies doch nichts am Befund insgesamt. Es wäre auch so bewiesen, dass man in den betreffenden geistlichen Institutionen in 12. Jahrhundert — aus dieser Zeit stammen die erhaltenen Zeugnisse dieses Typs — der Unterfertigung oder auch nur der Nennung des Notars keinen besonderen Wert beigemessen hat. Wie sollten die deutschen Mönche es auch besser wissen, haben doch auch die vergleichsweise kundigen Notare zu Venedig, Padua, Vicenza und Treviso bis ins 11. Jahrhundert hinein reichlich Proben dafür abgelegt, dass sie das überkommene Formelgut nicht mehr verstanden115.
Eine weitere Beobachtung kann als Bestätigung des Gesagten dienen. Wenn Mönche oder Kanoniker sich zur Anfertigung unechten Beweismaterials veranlasst sahen, so konnten die Ergebnisse durchaus beachtlich, bisweilen aber auch jämmerlich ausfallen. Es ist sicher kein Zufall, wenn sich eine gewisse Perfektion gerade in der Fälschung von Siegelurkunden zeigt. Solche Falsifikate haben sich lange Zeit ausschliesslich durch eine misslungene Datierung verdächtig gemacht116. Fallweise sind sie mangels verfügbaren Vergleichsmaterials bis in allerjüngste Zeit unentdeckt geblieben117. Die [p. 912] unechten Notariatsinstrumente hingegen, welche in denselben Klöstern oder Kapiteln entstanden sind, können nur als missglückt betrachtet werden, dies jedenfalls in der Optik der modernen Diplomatik. Das gilt sowohl für die Beispiele aus Friaul118 wie für eines aus Istrien119. Es ist auch kaum ein Zufall, dass gerade die eine oder andere unechte, wenn auch recht gelungene Siegelurkunde eine notarielle Unterfertigungsformel enthält, welche in dieser Art in echten Notariatsurkunden niemals zu finden ist120. Nun stammten die Mönche und die Kanoniker der friaulischen Klöster und Kapitel im 12. [p. 913] Jahrhundert zumindest zum Grossteil aus dem deutschen Sprach-und Kulturraum121. Sie haben sich vielleicht auch von dorther ergänzt. Damit erklärt es sich nicht allzuschwer, dass man sich in diesen Stiften und Klöstern nie wirklich mit dem romanischen Urkundenwesen angefreundet hat, ja dass man wesentliche Eigenheiten desselben auch nach Jahrzehnten noch nicht richtig verstand. Man vermochte das Notariatsinstrument hier nicht einmal zufriedenstellend zu imitieren.
Vielleicht fällt es schwer, die Mönche von Moggio oder die Kanoniker von Aquileia für so inkompetent zu halten, wie es nach alledem den Anschein hat. Die Sache sieht anders aus, wenn man sich an ein Ereignis kurz vor 1200 erinnert. Damals sollte der neue Propst des Kapitels von Aquileia vor der feierlichen Amtseinführung gewisse ihm unbequeme Statuten anerkennen, sie wurden ihm zu diesem Zweck vorgelesen. Die Kanoniker von Aquileia haben es für nötig gehalten, dem künftigen Propst diese Statuten in deutscher Sprache darzulegen122. Natürlich darf man gerade diesen Fall nicht verallgemeinern. Doch soviel steht fest, dass die geistlichen Institutionen des Friaul vom Adel — wie anderswo auch — als Versorgungsinstitut betrachtet werden konnten und dass es mit der Bildung ihrer Angehörigen daher nicht immer zum besten stand.
Nach alledem ist aber einzuräumen, dass das vorgeführte Bild nicht ganz Friaul gleichermassen betrifft. Die urkundliche Hinterlassenschaft des bereits in langobardischer Zeit gegründeten Klosters Sesto al Reghena zeigt eine Vorherrschaft der Carta bis um 1200. [p. 914] Darauf folgt unmittelbar die Periode des Notariatsinstruments123. Traditionsnotizen oder Siegelurkunden gibt es nicht. Es ist sicher kein Zufall, dass Irmintrud von Pinzano zu Beginn des 13. Jahrhunderts dem etwa 100 Jahre zuvor von deutschen Mönchen besiedelten Kloster Moggio Schenkungen macht und darüber nur eine Notiz in ein Graduale eingetragen wird124, dass aber bald darauf dieselbe Irmintrud zwei Schenkungen an das Kloster Sesto macht, über die jeweils eine Carta ausgefertigt wird125. Dabei geht es in allen drei Fällen um Seelgerätstiftungen und immer um genau eine Hube, im ersten und letzten Fall sogar um jeweils eine Hube in ein und demselben Ort. Ausserhalb des Klosters Sesto ist die Überlieferung nichtbischöflicher Urkunden im westlichen Friaul ausserordentlich schlecht. Den Urkunden des Klosters Sesto nach scheint es jedenfalls, das westliche Friaul habe nicht mehr zu jenem Bereich gehört, in dem die Beurkundung nach nördlichem Muster wenigstens zeitweise vorgeherrscht hat.
Es ist noch nicht lange her, dass die überaus engen Kontakte zwischen den süddeutschen und den ostalpinen geistlichen Institutionen einerseits und jenen in Friaul andererseits eingehend gewürdigt worden sind, und zwar anhand der erhaltenen Nekrologien126. Dies gilt aber nur für das Friaul östlich des Tagliamento. Das Kloster Sesto hat sich an diesen Kontakten augenscheinlich nicht beteiligt. Die dortigen Mönche hätten auch kaum Grund dazu gehabt. Sie konnten sich keineswegs einer Förderung durch die deutschen [p. 915] Patriarchen erfreuen wie vor allem die Kapitel von Aquileia und Cividale oder wie die Klöster Moggio, Rosazzo, Beligna, S. Maria zu Aquileia oder auch die Propstei Santo Stefano zu Aquileia. Sie hatten im Gegenteil gegen die Patriarchen seit dem frühen 11. Jahrhundert einen ausgesprochen schweren Stand127.
Es ist höchst bedauerlich, dass zwei der bedeutendsten geistlichen Institutionen des mittelalterlichen Friaul zu dieser Fragestellung nichts mehr beitragen können. Die hochmittelalterlichen Urkundenbestände des Klosters Rosazzo sind schon seit Jahrhunderten verloren, und in der privaturkundlichen Überlieferung des Klosters S. Maria in Valle zu Cividale klafft, sofern wir von einer einzigen Patriarchenurkunde absehen, eine Lücke von 1097 bis zum Jahre 1178128. Dennoch lässt sich aufgrund des Bildes der privaturkundlichen Formen sagen: Das Friaul ist im 12. Jahrhundert kulturell zweigeteilt. Im Osten drängen Traditionsnotiz und Siegelurkunde die Carta für nahezu ein Jahrhundert zurück; im Westen dagegen ist nichts dergleichen zu sehen. Die kulturelle Grenzscheide, welche der Lauf des Tagliamento auch sonst in mehrfacher, beispielsweise in sprachlicher Hinsicht gebildet hat, zeigt sich auch im Urkundenwesen129.
5. Die nichtbischöflichen Urkunden in den Nachbarländern
Wieder ist das friaulische Ergebnis mit den Zuständen in den Nachbarlandschaften zu vergleichen. Wieder sind in diesen die Entwicklungen [p. 916] um vieles geradliniger verlaufen und daher mit wenigen Worten zu beschreiben130.
Im Paduanischen verschwinden die Unterfertigungen von Ausstellern und Zeugen etwa in der Mitte des 12. Jahrhunderts; die Carta weicht damit dem Instrument ohne irgendein Zwischenspiel; im Vicentinischen hat sich dieser Wandel bereits im frühen 12. Jahrhundert vollzogen131. In Treviso dagegen sind die Verhältnisse ähnlich wie in Padua: die Carta tritt seit der Mitte des Jahrhunderts zurück132. Ähnlich liegen die Dinge in Verona133. Auch in Belluno [p. 917] und Umgebung wird die Carta in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts vom Notariatsinstrument abgelöst134. Im Trentino allerdings bedienen sich das dortige Domkapitel und der Adel des Hochstifts nicht nur der Notariatsurkunde, sondern auch der Siegelurkunde135. Umgekehrt dringt das Notariatsinstrument in den dreissiger Jahren des 13. Jahrhunderts bis nach Brixen/Bressanone vor, und es entwikkeln sich auch hier verschiedene Mischformen. Verantwortlich dafür ist auffallenderweise ein Notar Otto von Aquileia136.
In Venedig dagegen hält sich die Carta viel länger als auf dem oberitalienischen Festland, und zwar bis in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts137. Ferner sind die Urkundenschreiber hier bis ins 13. Jahrhundert Geistliche138. Das sticht vom festländischen Usus deutlich ab139.
Beides, eine lange Lebensdauer der Carta und geistliche Urkundenschreiber bis um 1200, finden wir auch in Istrien. Es ist nicht nötig, auf das istrianische Urkundenwesen näher einzugehen, da es auch hierüber schon mehrere Studien gibt140. Die Entwicklung ist im [p. 918] wesentlichen die: Wie zu Sesto erscheint auch in Istrien die für das Notariatsinstrument typische objektive Fassung erst nach 1200, anfangs noch im Wettstreit mit dem älteren Typus, alleinherrschend nicht vor der Mitte des 13. Jahrhunderts. Im allgemeinen folgt auch das istrianische Urkundenwesen der Entwicklung in Italien, wenn auch mit einem gewissen zeitlichen Rückstand. Auffallenderweise hat die venezianische Urkunde in Istrien, trotz allen politischen und wirtschaftlichen Engagements der Republik auf dieser Halbinsel, keine dieser Aktivität entsprechenden Spuren hinterlassen141. Der Mangel eines nennenswerten Einflusses aus Venedig zeigt sich am augenfälligsten darin, dass sich der Übergang von der Carta zum Notariatsinstrument in Istrien um Jahrzehnte früher vollzieht als in Venedig. Auch der Einfluss aus dem Norden ist sehr begrenzt. Ausserhalb der bischöflichen Urkunden ist er vollends nur vereinzelt spürbar, und wo das der Fall ist, handelt es sich auffallenderweise wieder um Fälschungen aus dem klösterlichen Bereich. Zwei unechte Urkunden aus dem Michaelskloster zu Leme enthalten charakteristische Kennzeichen der Traditionsnotiz142. Wir haben durchaus Grund zur Annahme, dass es zugrundeliegende echte Traditionsnotizen gegeben hat143. Jedenfalls ist wieder einmal das Auftreten der für den Norden typischen Formen gerade in einem Kloster anzumerken.
[p. 919] 6. Ergebnis
Nach der diplomatischen Bestandsaufnahme kommen wir nun zur Frage nach dem Verhältnis zwischen diplomatischem Befund einerseits und historischen Tatbeständen andererseits. Das eine lässt sich mit dem anderen nicht restlos vereinen, jedenfalls nicht auf den ersten Blick.
Man weiss, dass die aus Deutschland gekommenen Patriarchen, aber nicht nur sie, seit dem 11. Jahrhundert eine bedeutende Zahl von Vasallen und Ministerialen aus ihrer Heimat nach sich gezogen haben144. Man weiss ferner, dass die ersten Mönche und Nonnen mehrerer um 1100 in Friaul neugegründeter oder reformierter Klöster aus dem Norden, zum Teil erwiesenermassen aus Kärnten gekommen sind145. Es liegt natürlich nahe, dass dieser Personenkreis seine angestammten Lebensgewohnheiten und Denkweisen auch in der neuen Heimat nicht aufgegeben hat. Die Zuwanderer verbleiben daher auch in der neuen Umgebung bei ihren gewohnten Beurkundungsformen, jedenfalls dann, wenn das Interesse an der Beurkundung auf ihrer Seite ist. Andernfalls bequemen sie sich auch zu notariellen Urkunden146. Doch bleiben ihnen diese immer fremd. Als Fälscher vermögen sie sie nicht einmal hinreichend zu imitieren. Die romanische Bevölkerung dagegen hält an ihren hergebrachten Gewohnheiten fest.
Das massierte Auftreten der deutschen Beurkundungsformen steht offensichtlich in einem Zusammenhang mit der Welle von [p. 920] Zuzüglern um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert. Traditionsnotizen und Siegelurkunden finden sich aber auch dann nur an jenen Orten, wo das romanische Element von Haus aus schwach oder gar nicht vertreten gewesen ist. Die früheren Zuzügler aus Deutschland, auch die bedeutendsten wie z. B. einzelne Patriarchen — und darunter sogar solche aus dem Umkreis der kaiserlichen Kanzlei —, haben in dieser Richtung offenbar nichts oder doch nichts Entscheidendes bewirkt147. Mit den historischen Tatsachen gut zu vereinen ist schliesslich noch die Beobachtung, dass Traditionsnotiz und Siegelurkunde zu wesentlicher Bedeutung nur im Friaul gelangen, kaum aber in Istrien und überhaupt nicht im Veneto.
Heikler als die Beurteilung des ersten Auftretens ist jene des Zurücktretens der deutschen Beurkundungsformen. Dieses hat nichts zu tun mit dem Rückgang des politischen Einflusses der deutschen Könige im Friaul bzw. mit dem Ende der Reihe von aus Deutschland gekommenen Patriarchen in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Denn das Notariatsinstrument hat schon zu Anfang desselben 13. Jahrhunderts die deutschen Beurkundungsformen eindeutig überflügelt. Genauso wie beim Auftreten von Traditionsnotizen und Siegelurkunden im Friaul gibt es auch bei deren Zurücktreten keine einfache Gleichung von deutschen Patriarchen bzw. dem Vorhandensein einer deutschen Oberschicht einerseits und dem Übergewicht deutscher Beurkundungsformen andererseits. Für das Zurücktreten dieser deutschen Beurkundungsformen bieten sich allerdings zeitliche Koinzidenzen mit politischen Neuorientierungen als Erklärung an.
Seit der Mitte der sechziger Jahre des 12. Jahrhunderts nähert sich Patriarch Ulrich II. der alexandrinischen Partei, anfänglich allerdings gegen den vehementen Widerstand in seinem Lande selbst148. Vollends seit dem Frieden von Venedig von 1177 zwischen Kaiser Friedrich I. und Papst Alexander III. und seit dem Konstanzer [p. 921] Frieden von 1183 zwischen dem Kaiser und den oberitalienischen Städten sind auch die äusseren Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Patriarchen von Aquileia nicht mehr bloss Paladine des Kaisers in Oberitalien darstellen, sondern eine Politik der Äquidistanz zwischen dem Kaiser einerseits und dem Papst bzw. den oberitalienischen Städten andererseits verfolgen können. Es versteht sich von selbst, dass diese politische Entspannung nicht nur für die Patriarchen von Aquileia selbst, sondern auch für das Friaul ganz allgemein zu einer Öffnung gegenüber den Städten in Oberitalien geführt haben muss149. Die Öffnung sollte freilich bald viel weiter gehen als den Patriarchen recht sein konnte. Ein erster Gipfel dieser Entwicklung war erreicht, als zahlreiche Vasallen des Patriarchats sich 1219 mit dessen Feind Treviso verbanden und dort das Bürgerrecht erhielten; der Patriarch dagegen suchte und fand das Bündnis mit Padua und wurde seinerseits dessen Bürger150.
Wie die Patriarchen und andere Geistliche des Friaul hören aber auch die Grafen von Görz nicht auf, neben dem Gebrauch reiner Notariatsinstrumente solche auch zu besiegeln bzw. sich überhaupt der Siegelurkunde zu bedienen151. Doch sind die Görzer ein Sonderfall. Sie sind auch im regnum Teutonicum reich begütert. Vor allem aber sind sie wie die Grafen von Tirol auf dem Weg zum Landesfürstentum, und ihr Urkundenwesen macht daher auch die Entwicklung der deutschen Fürstenurkunde zumindest teilweise mit. Bei dieser aber spielt das Siegel eine ganz bedeutende Rolle152.
[p. 922] Unsere Bestandsaufnahme hat natürlich noch etliche Lücken. Die Quellenbasis wird noch verbreitert werden können, die nördlichen und südlichen Urkundenformeln sind mit den deutschrechtlichen und römischrechtlichen Inhalten in Beziehung zu setzen, die Herkunft der Notare wie auch der von ihnen verwendeten Formulare ist — soweit irgend möglich — zu untersuchen, die Titel der Notare (nicht nur der öffentlichen) sind mit deren Funktionen in Beziehung zu setzen usw153. Eine erschöpfende Untersuchung all dieser Probleme ist an dieser Stelle aber weder möglich noch nötig154. Auf der Grundlage der Beurkundungsformen lässt sich trotz mancher Lücken und Unklarheiten im einzelnen ein hinlänglich genaues Gesamtbild der friaulischen Kultur des Hochmittelalters entwerfen: Der kulturelle Einfluss des Nordens beruht vor allem auf den um 1100 ins Land gekommenen Geistlichen; über deren Umkreis reicht er kaum hinaus. Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert gewinnt der Süden das verlorene Terrain wieder zurück; das kulturelle Erbe der Zuwanderer ist bald auf wenige Rückzugsgebiete im Innern einiger Klöster und Stifte beschränkt. Alle bisherigen Forschungsergebnisse zur hochmittelalterlichen friaulischen Kultur haben in diesem Gesamtbild Platz.
Für die Kultur des hochmittelalterlichen Friaul steht fest, dass der Tagliamento sich wieder einmal als Grenzlinie erwiesen hat. Das westliche Friaul macht — mit einiger Verspätung — die Entwicklungen der venetischen Terraferma mit. Im Osten Friauls macht sich während des 12. Jahrhunderts ein massiver deutscher Einfluss bemerkbar. Es handelt sich aber auch hierbei nicht einfach um eine Spiegelung oder um eine Wiederholung der Entwicklung in Deutschland [p. 923] bzw. in den Alpenländern. Während es dort erst ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, und zwar durch die Vermittlung des Klerus, zu einer begrenzten Anwendung des Notariatsinstruments kommt, ist es im Friaul des 13. Jahrhunderts gerade der Klerus, der am zähesten an der Siegelurkunde festhält155. Auch ist im Friaul die Traditionsnotiz ziemlich nahtlos von der Siegelurkunde abgelöst worden. In Bayern sollten beide Urkundenformen noch lange Zeit nebeneinander bestehen. Auch die Südtiroler Verhältnisse sind nicht vergleichbar. Im deutschen Etschland vermehren sich die Siegelurkunden gerade zu jener Zeit, da sie in Friaul entschieden zurücktreten156.
Die Besonderheit der friaulischen Entwicklung wird aber erst vor dem Hintergrund der ruhigeren Entwicklung in den Nachbarländern richtig deutlich. Im Küstengebiet der Adria, also im Gebiet der Republik Venedig und in Istrien, wie übrigens auch in Dalmatien und in der Romagna, herrscht die Carta unangefochten mindestens bis um 1200, in einigen dieser Gebiete sogar noch weit darüber hinaus157. Auf dem oberitalienischen Festland dringt im Laufe des 12. Jahrhunderts das Notariatsinstrument schier unaufhaltsam nach Osten vor; um 1160 setzt es sich in Treviso durch. Doch bevor es um 1200 auch Sesto erreicht, hat es im Osten Friauls nicht nur die alte Carta abgelöst, sondern auch die bis dahin in diesem Raum verbreiteten Traditionsnotizen und Siegelurkunden an den Rand gedrängt. Dieses «Überspringen» scheint ein weiterer Anhaltspunkt dafür, dass der Einzug des Notariatsinstruments im Osten Friauls nicht einfach eine gewissermassen unvermeidliche Zeiterscheinung gewesen, sondern durch besondere Umstände gefördert worden ist158. Was die Zeit davor betrifft, so hat die romanische bzw. romanisierte Bevölkerung [p. 924] des Friaul die Vorzüge der alten Carta vor Traditionsnotiz und Siegelurkunde nie vergessen, und das hat die Notariatsurkunde in Friaul während des 12. Jahrhunderts vor dem zeitweiligen völligen Untergang bewahrt.
So zeigt sich nun doch noch ein möglicher Zusammenhang von Urkundentypen und ethnischen Zugehörigkeiten bzw. ethnischen Prozessen. Die deutschen Beurkundungsformen treten mit dem massierten Zustrom von Geistlichen aus dem Norden auf und bleiben auch in der Folge an dieses Ambiente gebunden. Und es scheint nicht ausgeschlossen, auch für das Zurücktreten der deutschen Beurkundungsformen zusätzlich zu den schon angesprochenen politischen Anlässen einen vergleichbaren Zusammenhang zu finden. Man meint, die Romanisierung des deutschen Elements in Friaul habe seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, mit den guelfischen Patriarchen, rasche und entscheidende Fortschritte gemacht159. Diese Aussage hat sehr viel für sich, ist aber anhand der wenigen wirklich aussagekräftigen Quellenzeugnisse in ihrer Präzision ebenso schwer zu beweisen wie zu widerlegen. Wenn sie richtig ist, dann hätte sich das Notariatsinstrument ziemlich genau zewei Menschenalter vor der endgültigen Romanisierung des deutschen Elements angeschickt, die deutschen Urkundenformen zu verdrängen.
[p. 925] Wenn wir nun weiter die urkundlichen Formen als ein eher äusserliches Merkmal kultureller Zustände betrachten und uns daran erinnern, dass in allen Bereichen des kulturellen Lebens grundlegende Wandlungen sich zuerst in Form von eher oberflächlichen Einzelheiten ankündigen, dann wäre es möglich, das Vordringen des Notariatsinstruments in Friaul tatsächlich als ersten Vorboten der Romanisierung des deutschen Elements aufzufassen. Man hat die Zweisprachigkeit des Thomasin von Zerklaere im zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts als Hinweis darauf angesehen, dass damals in Cividale die Zweisprachigkeit zumindest unter der Nobilität nichts Aussergewöhnliches gewesen ist160. Es ist nicht ausgeschlossen, dass zumindest die sprachliche Zugehörigkeit auch des aus Deutschland gekommenen Adels damals schon in der Schwebe war. Wir dürften in diesem Falle sagen: Die Annahme des Notariats ist ein frühes Anzeichen für das Vordringen der Romanità. Vielleicht lässt sich eine solche urkundliche «Früherkennung» zukunftsträchtiger Entwicklungen auch noch an anderen Gegenständen praktizieren. Hier sei nur auf das Faktum hingewiesen, dass Patriarch Berthold von Aquileia während des Lyoner Konzils von 1245 sehr plötzlich von der kaiserlichen zur päpstlichen Partei überwechselte. Nicht lange vorher aber hat Berthold in einigen Urkunden höchst auffällig päpstliche Privilegien zu imitieren begonnen161.
Oswald Redlich hat gemeint, die Bereiche von Siegelurkunde und Notariatsinstrument seien im Patriarchat Aquileia wie auch in dem östlich daran anschliessenden adriatischen Küstenland weniger nach [p. 926] Territorien oder Nationalitäten als nach Ständen geschieden gewesen: «Die geistlichen und weltlichen Fürsten und Grossen gebrauchen überwiegend die Siegelurkunde, die städtischen und ländlichen Kreise bedienen sich überwiegend des Notariats»162. Diese Ansicht ist mit der soeben eröffneten Lösungsmöglichkeit gut vereinbar. Denn im Friaul des 12. Jahrhunderts hängt nach allem, was wir wissen, die ständische Gliederung mit der ethnischen eng zusammen. Die geistlichen und weltlichen Grossen waren eben mit den Zuzüglern aus dem Norden mehr oder weniger identisch, die städtischen und ländlichen Kreise gehörten in erster Linie zur bodenständigen Bevölkerung163. Es geht hier nicht um die Verschiebung einer territorial fassbaren Sprachgrenze, sondern um die Assimilierung einer dünnen Oberschicht. Daher ist auch die für Tirol geltende Feststellung, das Vordringen der Notariatsurkunde bedeute keineswegs eine Veränderung der Sprach- oder Volkstumsgrenze, nicht einfach auf das Friaul übertragbar. Ein Zusammenhang von Notariat und Romanisierung ist hier keineswegs auszuschliessen. Es dürfte sich lohnen, dieser Frage in Zukunft weiter nachzugehen.