[p. 1225] Fortleben des Notariats in Verwaltung und Urkundenwesen in spätmittelalterlichen Deutschland
A) Rezeption des öffentlichen Notariats:
Die Erforschung des öffentlichen Notariats in Deutschland erfolgte bisher nur regional durch einzelne z.T. ausführliche Untersuchungen1. Daneben gibt es wenig erforschte Regionen, wie etwa Bayern, Mittel und Norddeutschland, vor allem aber den deutschen Osten. Zudem hat sich die Forschung vorwiegend auf die Rezeption dieses Rechtsinstituts und das Aufkommen der Notariatsurkunde konzentriert. Über die weitere Entwicklung des Notariats und über seine Bedeutung als Beurkundungsstelle im Spätmittelalter, aber [p. 1226] auch über die gesellschaftliche Stellung der Notare sind wir verhältnismässig schlecht unterrichtet. Dies liegt einmal daran, dass viele deutsche Urkunden-und Regestwerke nur bis etwa 1250 reichen, zum anderen dass die älteren Werke vielfach die notarielle Unterfertigung der Urkunde nicht ausweisen. Eine Notariatsforschung müsste zunächst die erhaltenen Urkundenbestände einer bestimmten Landschaft für das Spätmittelalter in den Archiven systematisch durcharbeiten. Aber hier wird ein Forschungsdefizit deutlich, das nicht nur für das Notariat festzustellen ist, sondern auch für die spätmittelalterliche Diplomatik ganz allgemein zutrifft. Die nachfolgenden Ausführungen zum öffentlichen Notariat beschränken sich auf das Mittelalter, d.h. auf die Zeit vor der Reichsnotariatsordnung (RNO) von 15122. Denn danach bildet sich in Deutschland in dem von der Reichsnotariatsordnung vorgegebenen Rahmen ein partikulares Notariat aus, das durch landesherrliche Ordnungen unterschiedlich geregelt wurde3.
Die Rezeption des öffentlichen Notariats im deutschen Sprachraum vollzog sich nur sehr zögernd und nicht, wie immer noch behauptet wird, durch die Vermittlung deutscher Rechtsstudenten in Italien oder direkt aus Italien und an vielen Orten gleichzeitig4. Das Rechtsstudium einzelner Deutscher an italienischen Universitäten hat zwar ganz allgemein den Boden für die Rezeption des gelehrten Rechts vorbereitet, indem diese Männer nach Ihrer Rückkehr versuchten römisch-kanonische Rechtsgrundsätze in ihrem, Tätigkeitsbereich anzuwenden und ihnen Geltung zu verschaffen5. Damit ist [p. 1227] noch keine Rezeption des Notariats gegeben. Gegen die Rezeption des öffentlichen Notariats zu diesem Zeitpunkt spricht vor allem, dass die äusseren Umstände, das Umfeld für eine notarielle Tätigkeit noch nicht gegeben waren. Die Anerkennung des Notariatsinstrumentes als «instrumentum publicum» spielt in diesem Zusammehang keine Rolle. Denn die notarielle Urkunde war den Deutschen aus Italien längst als Rechtsdokument geläufig6. Auch knüpfte das Notariat nicht an ältere deutsche Beurkundungstraditionen an7. P. Rück8 hat in einer Studie nachgewiesen, dass selbst zwischen dem «Kanzelariat», das sich in der Westschweiz und der deutschsprachigen Schweiz bis Mitte des 12. Jahrhunderts gehalten hat, und dem Notariat keine Verbindung besteht. Die letzten Zeugnisse der Kanzelariatsurkunde, die typische Merkmale einer öffentlichen Urkunde aufweist, stammen aus den Jahren 1036/379. Die Untersuchungen haben eindeutig gezeigt, dass die Rezeption des Notariats in Deutschland ausschliesslich im Zug der Rezeption der bischöflichen Offizialatsgerichtsbarkeit erfolgt ist10. Mit der Einführung der Offizialatsgerichtsbarkeit nördlich der Alpen übernahm man nicht nur das schriftliche Prozessverfahren, sondern auch die in das kirchliche Verfahren eingegangenen Anforderungen hinsichtlich der Beweiskraft von Urkunden. Bereits Papst Alexander III. stellte in der Dekretale «Meminimus» (1167/69) die Forderung auf, dass eine Urkunde nach dem Tod der Zeugen nur dann voll beweiskräftig sei, wenn sie durch eine «manu publica» eines Notars bzw. eines Gerichtes [p. 1228] ausgefertigt11 oder aber durch ein «sigillum authenticum»12 bcglaubigt worden sei. Die päpstliche Dekretale hat damit für das Urkundenwesen nördlich der Alpen keine eigentliche Neuerung gebracht, sondern vielmehr die geltende Praxis bestätigt, indem sie die besondere Qualität des Siegels der öffentlichen Gewalten hinsichtlich der Glaubwürdigkeit noch unterstrich. Für die Rezeption des Notariats in Mitteleuropa war schliesslich die auf dem 4. Laterankonzil (1215) erlassene prozessuale Vorschrift bestimmend, dass eine «persona publica» im geistlichen Prozessverfahren hinzuzuziehen sei. Diese Prozessvorschrift hat dann auch in die Dekretalensammlung Papst Gregors IX. Eingang gefunden13. Nach diesen Bestimmungen hatten die Notare alle Prozesshandlungen, wie Landungen, Streiteinlassungen, Parteien-u. Zeugenaussagen, Einreden und Urteile etc. schriftlich niederzulegen. Mit dem Vordringen der Offizialatsgerichtsbarkeit wurde nun auch die äusseren Voraussetzungen geschaffen, in deren Rahmen ein «notarius publicus» tätig werden konnte.
Die ersten sicheren Nachweise von öffentlichen Notaren setzen in den 50ziger Jahren des 13. Jahrhunderts am Mittelrhein ein. Bei diesen ersten Nachweisen eines öffentlichen Notars ist zu beachten, dass diese Männer häufig von auswärts gekommen sind und oft nur einmal nachweisbar sind, wodurch das Bild des Rezeptionsvorgangs nicht selten verfälscht wird. Anders ausgedrückt, der erste Nachweis ist häufig ein Einzelbeleg und es dauert oft viele Jahre, manchmal Jahrzehnte, bis sich an einem Ort kontinuierlich urkundende Notare nachweisen lassen. Auch muss zwischen den ersten Belegen für einen Notar und den ersten notariellen Beurkundungen unterschieden werden. Das erste Auftreten eines Notars an einem Ort kann durchaus zufällig und aus einem ganz anderen Grund erfolgt sein, der mit dem Notariat nichts zu tun hat. Von einer Rezeption des Notariats in einer Region kann erst dann gesprochen werden, wenn es zu einer gewissen [p. 1229] Kontinuität im Auftreten von Notaren bzw. in der notariellen Beurkundungen kam.
Die ersten nachweisbaren deutschen «notarii publici» begegnen in den Quellen als «tabelliones». Sie nennen sich offenbar bewusst so, um sich von den in den geistlichen und weltlichen Kanzleien tätigen Kanzlei-und Schreibernotaren, den «notarii» («Schreibernotaren») abzusetzen. Die bewusste Wahl der Titulatur «tabellio» macht schon deutlich, dass es sich hier um etwas Neues handelt. In den Urkunden dieser Tabellionen, die bis auf 2-3 Ausnahmen noch nicht in der Funktion eines «notarius publicus» tätig wurden14, lassen sich bereits viele typische Formeln und Formelteile der Notariatsinstrumente nachweisen. Überhaupt zeichnen sich ihre Urkunden durch einen hohen Grad von römisch-rechtlichen Rechtsformeln (z.B. Renuntiationen, Kodizillarklauseln)15 aus. Aber auch das Urkundenformular bei Veräusserungsgeschäften ist von der italienischen Notariatslehre geprägt. Es ist auch bezeichnend, dass es immer geistliche Urkunden sind, in denen wir diese Tabellionen auch als Zeugen oder Urkundenschreiber nachweisen können16. Zwischen 1250 und 1330/1340 hat sich das Notariat im Rahmen der Rezeption des bischöflichen Offizialats überall in Deutschland Eingang verschafft.
Übersicht über Beurkundungsorte:
Jahre | Gesamtzahl | Bischofsstädte Basel | Bischofsstädte Konstanz | Andere Städte |
---|---|---|---|---|
1300-49 | 21 | 3 | 6 | 12 |
1350-99 | 381 | 69 | 86 | 226 |
1400-49 | 746 | 175 | 183 | 388 |
1450-99 | 1.272 | 268 | 202 | 802 |
Gesamtzahl | 2.420 | 515 | 477 | 1.428 |
[p. 1230] Hier im Bereich der geistlichen Gerichtsbarkeit fanden die Notare schnell ein institutionell gesichertes Tätigkeitsfeld. Die enge Verbindung des öffentlichen Notariats mit den geistlichen Gerichten, aber auch bedingt durch die Bestimmungen der kanonischen Prozessordnung, brachte es mit sich, dass sei Mitte des 14. Jahrhunderts die Qualifikation als «notarius publicus» eine unabdingbare Voraussetzung war, um in geistlichen Kanzleien oder Gerichten als Kanzleischreiber oder Prokurator tätig sein zu können. Von diesem Zeitpunkt an müssen alle «notarii iurati» und «procuratores iurati» als öffentliche Notare betrachtet werden, auch wenn sie nicht als öffentliche Notare nachgewiesen werden können.
Die Art und Weise der Rezeption des öffentlichen Notariats bedingte zugleich, dass es sich bis weit in die Mitte des 14. Jahrhunderts vorwiegend auf die Bischofsstädte bzw. den Sitz der geistlichen Gerichte und Verwaltungen beschränkt blieb und zwar als eine vorwiegend von den geistlichen Gerichten genutzte Rechts- und Beurkundungsinstitution. Wie sehr die Notariatsurkunde mit den kirchlichen Institutionen verbunden war17, lässt sich z.B. an den Beurkundungsorten der südwestdeutschen Instrumente sehr gut ablesen (vgl. dazu die Tabelle und die Grafik). Das Notariat konnte erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts den Anschein abstreifen, es handle sich hier um eine vornehmlich dem geistigen Beurkundungsbereich zuzurechnende Beurkundungsform, indem es zunehmend auch von Nichtklerikern und ausserhalb der Bischofsstädte herangezogen wurde. Diese Einschätzung zeigt sich auch bei der Reformatio Sigismundi. Ihr Verfasser fordert ganz allgemein, die Bischöfe und die geistlichen Institutionen sollten sich ausschliesslich des «notarius publicus» bedienen. Das Siegel dagegen soll den weltlichen Herren als Beglaubigungsmittel vorbehal ten sein. Eine ähnliche Aufteilung der Burkundungsformen schlägt er für die Reichsstädte vor. Danach soll der Stadtschreiber die weltlichen, der öffentliche Notar dagegen alle geistlichen Angelegenheiten beurkunden. Solche Äusserungen sind nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass vor 1512 fast [p. 1231] ausschliesslich in den geistlichen Gerichtsordnungen die notarielle Tätigkeit geregelt wurde und die kirchlichen Behörden dadurch indirekt eine Aufsicht über das Notariat ausübten. Diese bischöflichen Gerichtsordnungen regelten bis ins Einzelne die Tätigkeit aller am geistlichen Gericht tätigen Personen, so auch die der Notare, Prokuratoren und Advokaten. Vor allem sollten durch die Ordnungen die Tätigkeiten der verschiedenen Berufsgruppen schärfer voneinander abgegrenzt werden. So war den Notaren untersagt, im gleichen Fall als Prokurator oder gar als Advokat tätig zu werden. Auch wurden die Notare angehalten, ihren Beurkundungspflichten sorgfältig nachzukommen, damit den Parteien aufgrund ihrer Nachlässigkeit kein Schaden entstehe18. Diese Ordnungen suchten daneben auch sicherzustellen, dass nur charakterlich und wissensmässig geeignete Personen zu einem bischöflichen Schreiberamt gelangten19. Um dies zu gewährleisten hatte der bischöfliche Offizial, an anderen Orten der Siegler oder ein eigens dazu bestellter «examinator» eine Überprüfung der Amtsbewerber vorzunehmen. Die Aufsicht über die gerichtsverwandten Personen, d.h. über die Notare, Prokuratoren und Advokaten lag in der Regel beim Offizial20. In der Praxis bedeutete dies, dass die im kirchlichen Dienst tätigen Notare einen relativ hohen Standart an Berufsqualifikation besassen. Die Befähigung der bischöflichen Notare lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass ihre kirchlichen Oberen, sei es der Bischof oder das Domkapitel, gern ihre Dienste für schwierige diplomatische Missionen, z.B. für einen fälligen Bienniumbesuch in Rom21 oder für Verhandlungen am Königshof22 in Anspruch nahmen. Aber auch ganz allgemein wurden sie für [p. 1232] die Verwaltung des Bistumsherangezogen23. Öffentliche Notare waren es zumeist, die z.B. im Bistum Konstanz als «examinator» die Bewerber um das Priesteramt24 prüften und als bischöflicher Kommissar in Ehesachen tätig wurden25.
Von einer allgemeinen Anerkennung des öffentlichen Notariats in allen Rechtsbereichen kann man erst Ende des 14. Jahrhunderts sprechen. Die Durchsetzung der Notariatsurkunde als Beurkundungsform in den Städten hing im 14. Jahrhundert vielfach von Zufällen ab. Etwa von der Tatsache, ob eine Stadt in einen langwierigen Prozess vor einem geistlichen Gericht verwickelt war26 oder aber, ob der Stadtschreiber ein öffentlicher Notar war und gern auf diese Beurkundungsform zurückgriff. So hat sich das Esslinger Stadtgericht zwischen 1370 und 1416 häufig des Notariatsinstruments bedient. Die Ursache hierfür ist in der Tatsache zu suchen, dass der Stadtschreiber nebenbei auch als Gerichtsschreiber fungierte und ein öffentlicher Notar war27.
Bis das Notariat wirklich allgemein und in allen Rechtsbereichen in Deutschland anerkannt wurde, dauerte es noch über 130 Jahre, d.h. bis in die 80ziger Jahre des 14. Jahrhunderts, und wie schwer sich die Notariatsurkunde auch dann noch tat, zeigen nachfolgende Fälle. Im Jahre 1357 hielt es der Konstanzer Offizial für erforderlich, eine als Notariatsinstrument ausgefertigte Vidimusurkunde zu besiegeln und zwar mit der Begründung, damit erhalte auch diese Urkunde vor jedem weltlichen Gericht dieselbe öffentliche Beweiskraft wie die Orginalurkunde28. Noch im Jahr 1374 wird in Tübingen in einer Schenkungsurkunde festgehalten, die Schenkung sei deswegen vom Pfarrer besiegelt worden, «cum usus tabellionum prope nos et pro [p. 1233] salario competenti haberi nequit de facile»29. Aus diesen und anderen Belegen wird deutlich, dass Mitte des 14. Jahrhunderts eine selbstverständliche Anerkennung der Notariatsurkunden im Bereich des weltlichen Gerichts nicht als unbedingt gegeben vorausgesetzt werden darf. Daran ändert auch nichts die Tatsache, dass seit Beginn des 14. Jahrhunderts die deutschen Könige auch in Deutschland öffentliche Notare im Zusammenhang mit geistlichen Sachen oder Personen30 oder in reichsitalienischen Angelegenheiten zur Beurkundung herangezogen haben31. Die Notariatsurkunde wurde im 14. Jahrhundert immer dann als Beurkundungsform gewählt, wenn man eine überregional anerkannte Beurkundung benötigte oder ein geistlicher Rechtsverhalt zu beurkunden war. Ende des 14. Jahrhunderts begann das Notariat mit seinen charakteristischen Instrumenten sich auch in den grösseren Städten als eine allgemein anerkannte Rechtsinstitution auszubreiten und damit eine uneingeschränkte Anerkennung als «instrumentum publicum» in allen Rechtsbereichen zu gewinnen.
Die Rezeption des öffentlichen Notariats im weltlichen Bereich setzt sich — und dies scheint mir bemerkenswert — weitgehend unabhängig von der Rezeption des römischen Rechts im weltlichen Rechtsbereich durch32. Das Notariat wurde seit Mitte des 15. Jahrhunderts immer häufiger als Hilfsorgan der weltlichen Gerichte herangezogen, was in der steigenden Zahl von Beurkundungen ausserhalb der Orte mit geistlichen Gerichten und Verwaltungen zum Ausdruck kommt (vgl. oben die Grafik). Regionale Untersuchungen, die bisher nur für Südwestdeutschland, das Münsterland und Schlesien [p. 1234] vorliegen, ergeben, dass das Notariat in Zusammenspiel mit den weltlichen Gerichten auch ausserhalb der Städte, auf dem Lande Fuss fassen konnte. Der Notar fungierte in diesen Fällen vornehmlich als Gerichtshelfer und Publikationsorgan, indem er im Auftrag der Gerichte und Prozessparteien Appellationen, Kundschaften und Proteste aufnahm, Zitationen oder Ladungen den Parteien unden Zeugen bekannt machte. So wurde im 15. Jahrhundert grundsätzlich nur in Form eines Notariatsinstruments vom Überlinger Stadtgericht an den Freiburger Oberhof appelliert33. Selbst weltliche Standesherren benutzten die Beurkundungsform, um an den Kaiser zu appellieren34. Aber auch gegen Urteile von Niedergerichten wird in Form eines Notariatsinstruments Appellation eingelegt35. Bei allen angeführten Beispielen handelt es sich um Gerichte, deren Prozessverfahren zu diesem Zeitpunkt noch ganz von deutschrechtlichen Grundsätzen geprägt war und noch keine römisch-rechtlichen Einflüsse festzustellen sind. Diese Praxis fand dann in der Reichskammergerichtsordnung von 1495 seinen Niederschlag, die in § 4 festlegte, dass Zitationen und Ladungen des Reichskammergerichts nur noch durch «notarii publici» oder geschworene Kammergerichtsprokuratoren zugestellt werden dürften36. Interessant ist dabei, dass bei diesen gerichtlichen Beurkundungen fast nur die Form eines reinen Notariatsinstruments zur Anwendung kam.
Bei der Darstellung der Rezeption des öffentlichen Notariats wird häufig nicht genügend beachtet, dass die Rezeption dieses Rechtsinstituts [p. 1235] zu einem Zeitpunkt erfolgte, als der Mitte des 12. Jahrhunderts nördlich der Alpen allgemein einsetzende Verschriftlichungsprozess weitgehend abgeschlossen war und in den Städten, aber zunehmend auch in den Territorien, ein eigenständiges Beurkundungswesen sich ausgebildet hatte oder gerade im Begriff war zu entstehen. Im Rahmen dieses Verschriftlichungsprozesses war das Ringen um die allgemein rechtsverbindliche Beurkundungsform des Spätmittelalters bereits entschieden. Im «sigillum authenticum» hatte das spätmittelalterliche Urkunden- Aktenwesen eine den allgemeinen rechtlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen adäquate Ausdrucksform gefunden, die zudem durch Papst Alexanders III. Dekretale «Meminimus» (1176/69) auch für den kirchlichen Bereich als vollgültig anerkannt worden war37. Der Verschriftlichungsprozess ist auch ein Teil der sich ausbildenden Stadtwerdung und Territorialbildung. Es ging den Obrigkeiten primär um «probatio et auctoritas» und erst in zweiter Linie um «scriptura und memoria» im Interesse der Beurkundungsparteien. Abgesehen von den finanziellen Gesichtspunkten, sahen die Obrigkeiten in dem von ihnen beanspruchten Beurkundungsvorrecht einen wichtigen Teil ihrer obrigkeitlichen Gewalt und eine notwendige Voraussetzung allgemeine Rechtssicherheit gewährleisten zu können.
Andererseits darf man auch nicht in den Fehler verfallen, das Notariat als unbedeutend abzutun. In welchem Umfang das Notariat in Deutschland trotz aller Hemmnis rezipiert worden war, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass die bereits angeführte «Reformatio Sigismundi» (ca. 1439) fordert, dass alle Notariatsarchive an einem bestimmten Ort zu konzentrieren seien, um das allgemeine Vertrauen in dieses Rechtsinstitut zu stärken38. Auch die Strassburger Reformschrift aus der Mitte des 15. Jahrhunderts fordert vom zuständigen Bischof im Rahmen einer Gerichtsreform eine Neuordnung des Notariatswesens, damit die allgemeine Rechtssicherheit erhöht werde39. Das Notariat hatte sich im 15. Jahrhundert zwar einen festen [p. 1236] Platz im deutschen Beurkundungswesen erkämpft, jedoch war seine Bedeutung, was die Anzahl der Beurkundungen betrifft, beschränkt.
Die fast ein Jahrhundert andauernde Beschränkung der notariellen Beurkundung auf den geistlichen Beurkundungsbereich und der das ganze Spätmittelalter bestimmende Vorrang der Siegelurkunde verhinderten, dass es bis zum Ausgang des Mittelalters zu einem selbständigen, freien Berufsnotariat kam. Selbst in den kirchlichen Verwaltungszentren konnten sich die Notare keinen zum Leben ausreichenden Anteil an den Beurkundungen sichern, der eine selbständige Notariatspraxis zugelassen hätte. Der Notar verblieb auch in diesen Städten immer in dienender Funktion des geistlichen Gerichts. Im ländlichen Bereich, vor allem in den Alpenländern, begegnen während des ganzen Mittelalters immer wieder Vorurteile gegen das Notariat. So bricht im Jahr 1427 ein Notar seine lateinische Aufzeichnung eines Weistums mit der Bemerkung ab, die Schöffen hätten während der Verhandlung von seiner Anwesenheit erfahren und hätten sich dann geweigert, mit ihrer Rechtsweisung fortzufahren40. Hier drückt sich deutlich die Abneigung gegen das doch sehr förmliche schriftliche Verfahren der notariellen Beurkundung aus. Andererseits lässt sich im 15. Jahrhundert am Oberrhein mehrmals beobachten, dass die Bauern auf eine Beurkundung ihrer Weistümer durch einen öffentlichen Notar bestanden, weil sie dem herrschaftlichen Schreibern noch mehr misstrauten41.
Immer wieder findet sich die Auffassung42, erst mit der Verkündung der Reichsnotariatsordnung von 1512 sei die reichsrechtliche Anerkennung des Notariats erfolgt. Das ist eine völlige Verkennung der tatsächlichen Beurkundungs- und Rechtsverhältnisse des 15. Jahrhunderts. Die Reichsnotariatsordnung setzt vielmehr den Schlusspunkt der mittelalterlichen Entwicklung und schafft den reichsrechtlichen Rahmen für die dann einsetzenden partikularen Entwicklungen in den einzelnen Territorien. Gegen die These von der erst 1512 [p. 1237] erfolgten reichsrechtlichen Anerkennung des Notariats spricht auch, dass Kaiser Fridrich III. im Jahr 1485 den Bischof Mathias von Seckau zum kaiserlichen Kommissar im Imperium ernannte, damit er die Hofpfalzgrafen und Notare auf ihre Amtstätigkeit überprüfe. Schon im Frühjahr 1486 lud der neue kaiserliche Kommissar die ersten Notare auf einen in Ulm angesetzten Notarstag, damit sie ihm Rechenschaft ablegten und er sie nach erfolgter Prüfung in ihrem Amte bestätige43.
Gegen obige These spricht auch die Behandlung des Notarswesens auf den Reichstagen Ende des 15. Jahrhunderts. So wurde bei den Verhandlungen auf den Reichstagen in Worms 1495, Lindau 1497 und Freiburg 1498 die öffentliche. Beweiskraft der Notariatsurkunde als «instrumentum publicum» von den Reichsständen nie bestritten. Vielmehr gerade wegen der Bedeutung dieser Institution forderten sie nachdrücklich eine «reformatio» des Notariatswesens. Auch die ausdrückliche Zulassung der Notare zum Reichskammergericht spricht gegen diese Annahme. Die kaiserliche Kammergerichtsordnung von 1497 bestimmte in Art. 23 ausdrücklich, dass den Notariatsinstrumenten Glauben zu schenken sei44.
Mit der allgemeinen Anerkennung des Notariats im Verlauf des letzten Drittels des 14. Jahrhunderts ist zugleich eine Gegenbewegung festzustellen, die darauf abzielte, die Tätigkeit der Notare einzuschränken oder ganz zu unterbinden. Trusen sieht in den städtischen Massnahmen gegen das Notariat eine Reaktion auf die «Halbbildung» der öffentlichen Notare. Diese Einschätzung ist kaum zu halten, wenn man die einzelnen Verordnungen in ihrem gesamthistorischen Kontext näher betrachtet, und wenn man bedenkt, dass [p. 1238] diese Abwehrmassnahmen z.T. zu einem Zeitpunkt einsetzen, als das Notariat sich erst durchzusetzen begann45. Ein sehr früher Beleg ist die Verordnung des Rates der Stadt Strassburg von 1322, worin dieser seinen Bürgern verbot, solche Rechtsverhalte von Notaren beurkunden zu lassen, die von alters her vom Rat beurkundet worden seien46. Auch der Rat der Stadt Basel hat 1386, nachdem er im Jahr zuvor das bischöfliche Schultheissengericht in der Stadt pfandweise erworben hatte, versucht, in Testamentssachen und anderen frommen Schenkungen ein Beurkundungsmonopol dieses Gerichtes durchzusetzen, indem er Beurkundungen durch einen Notar oder das geistliche Gericht für rechtsungültig erklärte. Zwar konnte sich der Rat zunächst nicht durchsetzen, aberer versuchte sein Gesicht zu wahren, indem er die Vorschriften für die Errichtung von Testamenten vereinfachte und die letzte Willenserklärung am Krankenbett in Anwesenheit von zwei Ratsmitgliedern zuliess47. Beide Fälle sind als ein Teil der Auseinandersetzungen zwischen Bischof und Stadt um die Macht in der Stadt zu sehen und kaum als ein bewusster Angriff auf das Notariat. Auch das Stadtrecht der Universitàts Tübingen untersagte es dem «gemeinen Mann» vor einem Notar sein Testament zu errichten48. Vor allem die Städte waren es, die im 15. Jahrhundert durch Rechtsverordnungen eine notarielle Beurkundung im Liegenschaftswesen und bei Testamenten einzuschränken versuchten. Denn sie befürchteten nicht zu Unrecht, dass durch einen von der Obrigkeit nicht überwachten Liegenschaftsverkehr, immmer mehr Grundstücke in Besitz der toten Hand kamen und damit dem Markt und der Stadtsteuer entzogen wurden. 1474 konnte die Stadt Nürnberg ein kaiserliches Privileg erwerben, wonach nur die in der Stadt zugelassenen Notare in Nürnberg tätig werden durften. Der Nürnberger Rat hatte damit seinen Einfluss auf das städtische Urkundenwesen sichern können, indem er nun in seinem Sinne auf die notarielle [p. 1239] Tätigkeit Einfluss nehmen konnte49. Aber auch einzelne Landesherren wehrten sich gegen das Vordringen des Notariats. Die bayerische Gerichtsordnung von 1444 untersagte den Laien ganz generell, Notare für Beurkundungen heranzuziehen50. Besonders in Tirol lässt sich bei der ländlichen Bevölkerung eine breite Abneigung gegen die Notariatsurkunden feststellen. In den Tiroler Landesordnungen von 1526, 1532 und 1573 wird dann die notarielle Beurkundung in ländlichen Bereichen ausdrücklich untersagt51. All diese Bestimmungen stellen nicht die Rechtsgültigkeit der notariellen Beurkundungsform in Frage, sondern sind als Abwehrmassnahmen der verschiedenen weltlichen Obrigkeiten zu verstehen, wodurch sie ihr Beurkundungsmonopol als Ausdruck ihres Hoheitsanspruchs sichern wollten. Diese Behinderungen der notariellen Tätigkeit bedingte, dass die Notariatsurkunde im städtischen und landesherrlichen Urkundenwesen des Mittelalters nur eine untergeordnete Rolle spielte.
Zusammenfassend darf man für Deutschland sagen, die Ausbildung eines freien Notarsstandes wurde dadurch verhindert, dass sich die Notariatsurkunde weder im geistlichen noch im weltlichen Rechtsbereich gegen die Siegelurkunde hatte durchsetzen können. Sie blieb während des ganzen Mittelalters zwar eine rechtlich voll anerkannte, bei bestimmten Sachverhalten gern gewählte Beurkundungsform, die aber zahlenmässig nur einen bescheidenen Anteil an der Gesamtzahl der Beurkundungen erlangte. Selbst die Ausweitung der notariellen Tätigkeit als Hilfsorgan der weltlichen Gerichte ermöglichte es keinem Notar — ausgenommen Worms, dem Sitz des Reichskammergerichts — ausschliesslich als «Nur-Notar» tätig zu sein.
Die Notare jedoch, die Inhaber eines der kirchlichen Notarsämter waren, brachten es durchweg zu einem beträchtlichen Vermögen. Neben einem festen Grundgehalt bezogen diese «Amtsnotare» den grössten Teil ihres Einkommens aus den anfallenden Gerichtssporteln und Beurkundungsgebühren, die nach festen Taxen erhoben wurden. [p. 1240] Neben ihren amtlichen Tätigkeiten haben sie ausserdem auch als «notarii publici» amtiert, wobei sie die Substituten der bischöflichen Kanzlei zu ihrer Unterstützung herangezogen haben, was sich an den Händen, die in den Notariatsinstrumenten und in den Bischofss- und Offizialatsurkunden vorkommen, nachweisen lässt. Allein für ein Konzept waren Mitte des 15. Jahrhunderts 15 Sch. zu entrichten52. Hatte der Notar auch noch eine Ingrossierung vorzunehmen, belief sich die Gebühr auf 1,5 Gld. Für jede weitere Reinschrift wurde ein weiterer 1/2 Gld. berechnet53. Der Gebührensatz unterschied ausserdem noch zwischen «conceptum in forma longa» und «conceptum in forma bona» — auf diese Beurkundungsformen wird noch zurückzukommen sein54.
An einigen wenigen Beispielen der Konstanzer Stadtsteuerlisten soll nun die Entwicklung der Vermögensverhältnisse von Kollateralnotaren veranschaulicht werden. Nicht einbezogen sind in die nachfolgende Aufstellung die Zinsen, der Grund- und Lehensbesitz, die ausserhalb der Stadtgrenze langen. Dabei ist ausserdem noch zu berücksichtigen, dass die Notare im Gegensatz zu den Bürgern als Kleriker nicht ihr gesamtes Vermögen versteuern mussten.
in Pfund Pfennig | ||||
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Name des Notars | Jahr | fahrendes Gut | liegendes Gut | Gesamtvermögen |
Heinr.Basserstorfs Witwe | 1418 | 450 | 1.270 | 1.720 |
1428 | 2 Häuser 2 Häuser u. 1 Garten |
900 | (900) | |
Leonhard Burg v. Konstanz | 1425 | 900 | 300 | 1.200 |
[p. 1241] | 1432 | 1.000 | 900 | 1.900 |
Heinrich am Hof | 1425 | 3.000 | 1.000 | 4.000 |
1433 | 5.000 | 1.000 | 6.000 | |
Heinrich Link v. Grüningen | 1433 | 300 u. Haus |
500 | 800 |
1440 | 500 u. Haus |
1.800 | 2.300 | |
Friedrich Heidenheimer | 1444 | 1.000 | 7.000 | 8.000 |
Vergleicht man die oben genannten Steuervermögen mit den Besitzverhältnissen, die sich aus den städtischen Steuerveranlagungen der Stadt Konstanz ergeben, so gehörten Leonhard Burg und Friedrich Heidenheimer zu den 164 reichsten Bürgern der Bischofstadt. Heinrich am Hof mit seinen 6.000 Pfd. Pf. ist sogar unter die 37 reichsten Familien zu rechnen55. Dieser Vergleich gewinnt sogar noch an Bedeutung, wenn man weiss, dass in den ersten dreissig Jahren des 15. Jahrhunderts die Zahl der vermögenden Steuerbürger von 181 auf 164 zurückging und sich das Gesamtvermögen dieser Familien von 820.490 Pfd. Pf auf 770.210 Pfd. Pf verminderte56. D.h. die Vermögensentwicklung der bischöflichen Kollateralnotare verlief konträr zum wirtschaftlichen Trend in der Stadt. Aber auch die städtischen und landesherrlichen Notare hatten durchaus die Möglichkeit, im Verlauf ihres Lebens zu einem beträchtlichen Wohlstand zu kommen. Der Gerichtsschreiber Magnus Phunser versteuerte 1429 in Basel ein Vermögen von 500 Gld.. Etwas mehr als 20 Jahre später, [p. 1242] 1456 betrug das zu versteuernde Gut 700 Gld.57. Der Baselr Stadtschreiber Johannes Erhardi ist im Jahr 1398 nachweislich im Besitz von drei Häusern, eines Gartes sowie einens jährlichen Zinses von 70 Gld. ab Schloss, Stadt und Herrschaft Delsperg58. Der Konstanzer Stadtschreiber Nikolaus Schultheiss, der aus sehr armen Verhältnissen stammte, vermehrte zwischen 1425 und 1428 seinen Besitz von 8.000 Pfd. Pf auf 9.122 Pfd. Pf59. Am Ende seiner Laufbahn als fürstenbergischer Schreiber und späterer Kanzler war Andreas Götz von Horb ein sehr begüterter Mann. Neben zahlreichen Lehen, Zehnten und Zinsen besass er neben den beiden von seiner Frau ererbten Höfen noch zwei weitere60.
Bei einer ganzen Reihe von Notaren zeichnet sich eine fast explosionsartige Vermögensentwicklung ab, die nicht allein mit der Tätigkeit als angestellter Schreiber und öffentlicher Notar zu erklären ist. Bereits eine erste Auswertung der südwestdeutschen Notarsbiographien ergab, dass eine Reihe dieser bischöflichen Notare, die beträchtliche Bareinnahmen aus ihrer Schreibertätigkeit hatten, diese zu Geldgeschäften nutzten und im Verlauf der Jahre diese immer weiter ausbauten. Oft waren sie schon nach wenigen Jahren Berufstätigkeit in der Lage, gegenüber dem Bischof oder einzelnen Domherren, aber auch gegenüber Bürgern der Stadt als Kreditgeber aufzutreten. Zwar ist die Rolle der Notare als Kreditgeber noch nicht im Einzelnen untersucht, es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die ausgeliehenen Summen ganz beträchtlich waren. Im Jahre 1412 lieh der bereits oben angeführte Konstanzer Stadtschreiber Nikolaus Schultheiss dem Bischof Otto III. von Konstanz 800 Gld. gegen einen jährlichen Zins von 50 Gld.; 1421 gewährte er dem Grafen Hugo von Montfort und der Stadt Bregenz einen Kredit von 500 Gld.61. Friedrich Heidenheimer bürgt für den Konstanzer Bischof für die sehr beträchtliche Summe von 5000 Gld.62. Eine solche Bürgschaft konnte nur von [p. 1243] jemandem übernommen werden, der einen entsprechenden Gegenwert besass. Anderenfalls hätte der Gläubiger die Bürgschaft kaum akzeptiert. Der Baselr Kollateralnotar Henman Friedrich streckte dem Konstanzer Bischof Thomas zum Kauf von Schloss und Herrschaft Gaienhofen 1000 Gld. vor63. Die hier angefühurten Beispiele repräsentieren keine Einzelfälle oder stellen Ausnahmen dar64.
Das Einkommen der als Prokuratoren tätigen Notare war nicht ganz so hoch, wobei es auch unter ihnen Grossverdiener wie Johannes Zimmerman alias Truckenbrot von Luptingen gibt, der in Konstanz tätig war. 1482 erhält er vom Konstanzer Bischof einen Schadlosbrief über die geliehene Summe von 1000 Gld. und die Zusicherung eines jährlichen Zinses von 50 Gld. Aus anderen Zinsverschreibungen bezog er Zinsen insgesamt von 5 Mark Silber jährlich. In der Stadt Konstanz bsass er nachweislich zwei Häuser in guter Lage. Im Jahr 1497 veranschlagte er sich für die Reichssteuer, den sog. Gemeinen Pfennig, mit einem zu versteuernden Vermögen von 1000 Gld. oder von 50 Gld. jährlichem Zins65.
B) Die berufliche Situation der öffentlichen Notare:
Das Fehlen eines eigentlichen notariellen Berufsfeldes, das auch für alle Notare eine gesicherte Existenz zugelassen hätte, zwang die Mehrzahl von ihnen die im kirchlichen Dienst nicht unterkommen konnte, in verwandten Berufen ihr Auskommen zu suchen, wo sie gegenüber andren Mitbewerbern durch ihre zumeist gründliche Kanzderleiausbildung bevorzugt angestellt wurden. D.h. das Notariat wurde, abgesehen von den Kanzleibeamten im kirchlichen und weltlichen Dienst, für die anderen Notare zu einer «Nebentätigkeit»66.
In diesem Zusammenhang ist es notwendig, einige Sätze über die Bildung der mittelalterlichen Notare einzufügen. Die Abwertung der Notare als «Stümper, Halbgelehrte und Halbwissende» oder als [p. 1244] «plumpe Hände», wie dies in zeitgenössischen Klagen67 und im Anschluss an die ältere Literatur, wie etwa bei Stinzing68 zu finden ist, ist inzwischen einer ausgewogeneren Einschätzung gewichen. Beschäftigt man sich intensiver mit dem Werdegang der Notare stellt man schnell fest, dass sich unter ihnen zahlreiche profilierte Köpfe finden, die als Stadtschreiber69, als bischöflicher Kanzler70 und Universitätprofessoren71 das politische und geistige Leben mitgestaltet haben. Man braucht nur an Ulrich Zasius72 in Freiburg, Sebastian Brant in Strassburg und Konrad Peutinger in Augsburg erinnern. Die Notare gehörten als «homines literati» durchweg zur sozial gehobenen Schicht des Bürgertums. Ausnahmslos dürften sie eine Lateinschule durchlaufen haben. Daran schloss sich eine meist mehrjährige Schreiberausbildung als Kanzleigehilfe («famulus») an, durch die sie nicht nur das Schreiberhandwerk erlernten, sondern darüber hinaus eine juristische Grundausbildung erhielten73. — Vgl. Tafel A: das Blatt zeigt eine solche Schreibübung eines Kanzleischülers. — In Fribourg/Uechtl., in Esslingen und Ulm gab es z.B. eigene Notarsschulen, die von 50 bis 100 Schülern auf einmal besucht wurden74. Viele Städte haben es ihren Stadtschreibern vertraglich zur Pflicht [p. 1245] gemacht, einen oder mehrere Schüler zu beschäftigen. Zahlreich sind auch die Nachweise über die berufliche Schreiberausbildung einzelner Notare in einer solchen Kanzlei. Der Verfasser eines weit verbreiteten süddeutschen Formelbuchs, Alexander Hug aus Pforzheim hat in der bischöflichen Kanzlei in Basel unter Konrad Guntfried seine Schreiberlehre durchlaufen75. Der bekannte Konstanzer Reformationschronist Georg Vögelin hat sich in Konstanz vom Famulus bis zum Stadtschreiber hochgedient76. Auch die Landesherren legten auf einen guten Schreibernachwuchs grössten Wert. 1526 bitten Statthalter und Regent des Herzogtums Württemberg den Freiburger Stadtschreiber doch «etlich jung schriber und substituten» zur Ausbildung anzunehmen77. Bei der praktischen Ausbildung erfuhren die jungen «famuli und substituti» eine ausführliche theoretische Bildung anhand von Formel- und Kanzleibüchern, die sie z.T. abschrieben und selbst ergänzten, um für ihre spätere Tätigkeit ein Handexemplar zur Verfügung zu haben. Die Mehrzahl der in Deutschland entstandenen Formelbücher78 entsprach den typisch deutschen Rechtsbedürfnissen sei es in den geistlichen Kanzleien, sei es in den weltlichen der Städte und Landesherrschaften. Häufig sind gerade in diesen Formularbüchern die typischen individuellen Merkmale der echten Urkundenvorlage nicht getilgt worden. So können z.B. in den gedruckten Formelbüchern des Johannes Riedrer und des Alexander Hug eine Reihe von Urkunden nachgewiesen werden, von denen sich das Orginal nicht erhalten hat. In noch stärkerem Umfang gilt dies für die handgeschriebenen Handexemplare der bischöflichen Kollateralnotare und Stadtschreiber79. Verschiedentilich kann für einzelne Notare nachgenwiesen werden, dass sie sich sogar aus den ortsansässigen Klosterbibliotheken einschlägige Literatur ausgeliehen haben, um sich fortzubilden. Von seinem Stadtschreiber Ulrich Zasius erwartete der Rat der Stadt Aargau es geradezu, dass er sich an Hand von [p. 1246] Büchern juristisch weiterbilde80. Nach dem Abschluss der Schreiberlehre hat eine beträchtliche Anzahl der Notare noch die Universität besucht. In Südwestdeutschland können ca. 18 % der bezeugten Notare in den Universitätsmatrikeln nachgewiesen werden, in Schlesien sind es für denselben Zeitraum etwa 16 %81. Dies ist ein Anteil von Studierenden der in etwa dem des wetlichen Klerus in dieser Zeit entspricht82. Bemerkenswert ist, dass 10 % der als Student nachgewiesenen Notare auch einen akademischen Grad erreicht haben83.
Die so ausgebildeten Notare, die man zutreffend als «gebildetes Personal» charakterisieren darf, bildeten das berufene Reservoir an Verwaltungsbeamten für die bei Gericht und in den Kanzleien der Städte und Landesherren tätigen Schreiber und Kanzleivorstände. So nimmt es nicht Wunder, dass man viele Notare im 15. Jahrhundert in einflussreichen Stellungen als Kanzler von Bischöfen und Landesherren84, als Offiziale und Siegler, als Räte und Richter findet85, d.h. in Stellungen, die im 16. Jahrhundert zunehmend und dann fast ausschliesslich mit Juristen besetzt wurden. Zwei Ämter in der städtischen Verwaltung waren bei den Notaren besonders begehrt. Dies war einmal das des Stadtschreibers, das einem geschickten Mann grossen politischen Einfluss einräumte. Zum anderen das des Lateinschulmeisters, der in vielen Städten durch sein Wirken über die Schule hinaus das geistige Leben der Stadt beeinflusste.
Die sich seit Ende des 13. Jahrhunderts immer mehr ausbildende weltliche Verwaltung in den Städten und Herrschaften, liess es nicht mehr zu, dass die Geschäfte der Stadt nebenamtlich vom Pfarrherrnen [p. 1247] oder voem Lateinschulmeister geführt wurden. Immer deutlicher zeichnete sich die Notwendigkeit ab, dass der Kanzlei eine Persönlichkeit vorstand, die nicht nur das Urkundenwesen beherrschte, sondern den Rat der Stadt in anfallenden juristischen Angelegenheiten auch beraten konnte. Dies hängt nicht zuletzt mit der verfassungsrechtlichen Stellung der Städte zusammen, die fast überwiegend auf einzelnen Rechtsakten wie Privilegien, Freiheiten, aber auch auf Gewohnheitsrechten und zweiseitigen Vereinbarungen beruhte. Bei dieser verfassungsrechtlichen Situation wurde fast jede politische Streitfrage zu einer Rechtsfrage. Der Ausgang einer Auseinadersetzung hing häufig von der genauen Kenntnis der Privilegien und Urkunden, aber auch der bisherigen Vorgänge ab. So ist es nicht verwunderlich, wenn man im Mittelalter für die Leitung der Kanzleien, gleichgültig, ob es sich dabei um die einer Stadt oder die eines Landesherrn handelt, bevorzugt auf den Personenkreis zurückgriff, der in Verwaltungsdingen wie im Urkundenwesen erfahren war und überdies eine für den alltäglichen Rechts- und Urkundenverkehr ausreichende juristische Grundausbildung mitbrachte. Erst mit dem Vordringen des römischen Rechts in die städtischen und landesherrlichen Statuten verdrängte der akademisch ausgebildete Jurist als «syndicus» und «consiliarius» den Notar und Stadtschreiber aus der Stellung des Rechtsberaters des Rates bzw. der Herrschaft. Als Chef des Kanzlei- und Verwaltungswesens war der solid ausgebildete Notar weiterhin begehrt. Seine politische Stellung, vor allem wenn er Zugang zum Rat hatte, blieb bis weit in die Neuzeit hinein eine sehr einflussreiche.
Das politische Gewicht der Stadtschreiber beruhte nicht zuletzt auch darauf, dass er meist der Einzige war, der über längere Zeit in der gleichen Funktion innerhalb des Stadtregiments amtierte und damit auch mit den älteren Vorgängen gut vertraut war. Auch war er meist der Einzige, der zu den Büchern und Urkunden freien Zugang hatte. Damit ergab sich für ihn ein immenser Informationsvorsprung. Die Bedeutung, die dem Amt des Stadtschreibers zugemessen wurde, auch das Vertrauen, das man ihm entgegenbrachte, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass die Städte ihre Stadtschreiber mit wichtigen [p. 1248] auswärtigen Verhandlungen betrauten86, als Schiedsrichter bennanten87 und der Stadtschreiber meist auch Mitglied der Ratsdeputation war, die hochgestellte Gäste begrüsste88. So gehörte der Baselr Stadtschreiber Konrad Künlin de Diepurg der Ratsdeputation an, die 1453 in Rom über die Gründung einer Universität in Basel verhandelte89. Die zunehmende Einstellung von öffentlichen Notaren als Stadtschreiber führte in vielen Städten zu einer Neurordnung und Systematisierung des Kanzleiwesen. So wurde das Archivgut vielfach neu geordnet, was sich an den Dorsalvermerken deutlich nachvollziehen lässt. Neue Bücher für bestimmte Ämter oder Aufgaben wurden angelegt, zugleich wurden die wichtigsten Privilegien und Freiheiten in sog. Handfesten oder Stadtbüchern zusammengestellt und damit oft die Grundlage für ein kodifiziertes Stadtrecht geschaffen90.
Als «homo literatus» wurde der Notar in zahlreichen Fällen zum «städtischen Chronisten». Kaum ein anderer in der Stadt war von der Bildung her, von seinem umfassenden Wissen des städtischen Geschehens geeigneter, eine solche Aufgabe zu übernehmen, als der Stadtschreiber91. Es ist auch bezeichnend für die rechtliche Funktion der städtischen Chronistik des Mittelalters, dass sie in weiten Partien eine Darstellung der Rechte und Freiheiten der Stadt bietet, ergänzt durch besondere Rechtsfälle und Entscheidungen. Daneben werden politische Verhandlungen und Auseinandersetzungen ausführlich dargestellt. Die Stadt als rechtliche und politische Gemeinschaft ist das Thema dieser Chronistik.
Eine ganz erhebliche Anzahl von Notaren bekleidete in den Städten die Stelle eines Lateinschulmeisters. In dieser Funktion waren die Notare durchaus gefordert. Nicht das «tütsch schriben und lesen» zu lehren war ihre Aufgabe, sie hatten die vielmehr Schüler in die «artes [p. 1249] liberales» einzuführen und ihnen einen Wissensstand zu vermitteln, der sie in die Lage versetzte, das Klerikerexamen abzulegen. Im Bistum Konstanz waren es z.T. eigens dazu bestellte Lateinschulmeister, die die Priesterkandidaten auf ihren Wissensstand zu überprüfen hatten92. Diese Lateinschulen waren in der Regel keine Winkelschulen, sondern Stätten der Bildung für zukünftige Geistliche wie Laien gleichermassen. Ganz allgemein wurden diese Lateinschulen von den jungen Männern durchlaufen, die später die Geschicke ihrer Stadt lenkten. Einzelne Lateinschulmeister haben einen grossen Einfluss auf das geistige Leben der Stadt ausgeübt93. So in Freiburg/Br. Ulrich Zasius, um den sich ein Kreis höchst interessierter Schüler scharte94. Seinem Nachfolger Jakob Mennel brachten seine literarischen Versuche die Berufung zum Hofgerichtsschreiber Maximilians I. ein95. In Esslingen hat, Nikolaus von Wyle, der mit vielen geistig führenden Leuten seiner Zeit, unter anderen mit Silvio Piccolomini, in Briefverkehr stand, durch seine Kunst des Übersetzens den deutschen Stil vieler seiner Schüler und über diese hinaus eine Reihe von Schreibern geprägt96.
Die zahlenmässig grösste Gruppe der Notare, sind diejenigen, die von vornherein nur zeitlich begrenzt ihr Notarsamt ausüben wollten und zwar nur so lange, bis sie in Besitz eines kirchlichen Benefiziums gelangten. Das Notariat war für sie nur eine Durchgangsstation. In ein Benefizium eingewiesen, begegnen sie nur noch in Ausnahmefällen in der Notarsfunktion97. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die kirchliche Gesetzgebung ihnen die Notarsausübung untersagte bzw. ihre notarielle Tätigkeit auf bestimmte kirchliche Fälle einschränkte. Dies ist auch die Ursache dafur, dass von vielen Notaren nur 1 bis 3 Instrumente nachgewiesen werden können.
[p. 1250] C) Die notariellen Beurkundungsformen:
Das Fehlen eines eigentlichen Notarsstandes wirkte sich naturgemäss auch auf die Beurkundungstätigkeit, d.h. auf die Zahl der ausgefertigten Instrumente aus. Die kirchlichen und weltlichen Behörden machten sich zwar gerne das juristische Wissen der Notare zunutze, verhinderten aber — wie oben bereits aufgezeigt —, dass sie eine wirkliche Konkurrenz im Beurkundungswesen wurden. Die Notariatsurkunden machen von den erhaltenen Urkunden kaum mehr als 10 — 15 % aus, wovon noch die Mehrzahl entweder geistliche Sachverhalte beinhalten oder ein Kleriker als Partei beteiligt ist. Im weltlichen Urkundsbereich haben sich Notare nur bei Appellationen, aussergerichtlichen Zeugnissen, Kundschaften, Zitationen und Protesturkunden einen gewissen Anteil sichern können. Auffallend ist, dass die Appellationen, sei es an einen Oberhof oder an das königliche Gericht, fast immer in Form von reinen Notariatsinstrumenten eingelegt wurden. In all den aufgezählten Fällen handelt der Notar im Auftrag des Gerichts als Publikationsorgan, das sich seinen Status als «persona publica» mangels anderer Möglichkeiten zunutze machte.
Die Dominanz der Siegelurkunde führte in Deutschland neben dem reinen Notariatsinstrument, für die der Notar als «persona pública» die alleinige Verantwortung trug, zu einer Mischform von Siegelurkunde mit voller notarieller Unterfertigung98. Dieser Urkundentyp begegnet vor allem im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit der geistlichen Gerichte. Diese «notariellen Siegelurkunden», wie man sie am besten bezeichnet, sind trotz der Beachtung der notariellen Solemnitäten, in ihrem Aufbau weit mehr von der Siegelurkunde geprägt als vom Notariatsinstrument. Charakteristisch für diese Urkunden ist die Aufforderung des Urkundenausstellers an den Notar, die Urkunde voll notariell zu unterfertigen. Das Siegel ist hier nicht ein zusätzliches rechtliches Sicherungsmittel «ad maiorem firmitatem», sondern das bei dieser Urkundenform vorrangige Sicherungsmittel von zwei an sich gleichberechtigten Möglichkeiten. Die [p. 1251] notarielle Unterfertigung war andererseits mehr als eine willkommene Verstärkung des Beglaubigungsmittels Siegel. Der unterfertigende Notar amtierte hier in einer den sonstigen Urkundenschreibern überlegenen Rechtsposition. Die Bedeutung der notariellen Beurkundung kommt darin zum Ausdruck, dass die notarielle Siegelurkunde auch nach dem Zerbrechen des Siegels kraft der notariellen Unterfertigung ihre volle Beweiskraft behielt. Der Urkundenempfänger erhielt dadurch eine in doppelter Hinsicht gesicherte öffentliche Urkunde. Diese Mischform, die in der Zeit der Rezeption als Übergangsform entstand, erfreute sich bis zum Ausgang des Mittelalters der grössten Beliebtheit unter den notariellen Beurkundungsformen. Zahlenmässig übertreffen sie die reinen Notariatsinstrumente etwa um das dreifache.
Im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit entwickelte sich im 15. Jahrhundert eine besondere notarielle Beurkundungsform99. Sie stellt eine Urkundenmischform aus notarieller Kopie und Signatur dar. Bereits im 14. Jahrhundert haben die Parteien, um die hohen Kosten der Ausfertigung der notariellen Siegelurkunde zu sparen, sich die Signatur aushändigen lassen. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde den Parteien nicht mehr die Signatur des Notars, sondern eine Kopie oder wenn es gewünscht wurde, ein exdentiertes Konzept, ein sog. Vollkonzept ausgehändigt, das zumeist auf Papier geschrieben war. In ähnlicher Weise verfuhr man auch bei den geistlichen Gerichten, woraus im Südwesten ein eigenartiger Urkundentyp entstand, der bisher nur hier nachweisbar ist. Oben in der Mitte steht «Nos Officialis» oder «Curie Officialis» (Tafel E) dann folgt meist mit einer neuen Zeile, ohne Invokatio und Publikatio, jedoch mit einer verkürzten Datierung sofort der rechtliche Sachverhalt. Das Rechtsgeschäft selbst wird mit allen notwendigen Angaben wiedergegeben, die Rechtsformeln selbst werden aber nur verkürzt angedeutet. Darauf folgt ein verkürz-tes Eschatokoll und die Urkunde schliesst mit einem Schreibervermerk, wie: «Hec Johannes Friedrich not. etc.». Da es sich auch hier um eine Kopie des notariellen Protokolls [p. 1252] handelt, weist die ausgehändigte Urkunde keine eigene Datierung für den Zeitpunkt der Abschrift auf, sondern nur die des eigentlichen Rechtsaktes, d.h. der Beurkundung. Diese Urkunden sind regelmässig in sehr sauberer Schrift und im Gegensatz zu den notariellen Kopien meist auf unregelmässig geschnittenem Pergament geschrieben. Beweisrechtlich haben wir es im Prinzip mit einer besonderen Privaturkunde mit eingeschränkter «fides publica» zu tun. Dieser Urkundentyp scheint aus Kostengründen von den Parteien gerne gewählt worden zu sein, zumal man im Streitfall anhand der Imbreviatur des Notars jederzeit ein vollgültiges Instrument ausfertigen lassen konnte, was nachweislich auch geschah. Bei noch lebenden Notaren reichte diese Beurkundung im Streitfall völlig aus, wie die Baselr Akten zeigen. Handelte es sich um eine «Konzepturkunde» eines verstorbenen Notars, konnte man beim zuständigen geistlichen Gericht eine sogenannte Levation aus dem Imbreviaturenbuch beantragen. Mit dieser Levation hatte man wiederum ein vollgültiges Beweismittel100.
Das reine Notariatsinstrument (Tafel A) spielte zahlenmässig in Deutschland eine untergeordnete Rolle. Sie kam vor allem dann zur Anwendung, wenn sonst keine andere Beurkundungsstelle schnell zu erreichen war, so etwa bei Appellationen und Zitationen.
Neben der «notariellen Konztepturkunde» (Tafel C) hat sich im Verlauf des 14. Jahrhunderts bei den geistlichen Gerichten ein weiterer Urkundentyp entwickelt, die sog. «Kanzelariatsurkunde» (Tafel D)101. Bei ihr handelt es sich rechtlich und diplomatisch um eine Siegelurkunde, an der der öffentliche Notar als «notarius collateralis» der bischöflichen Kanzlei in besonderer Weise beteiligt wurde102, indem er unten rechts, meist auf der Plika, die Urkunde mit einem Schreibervermerk abzeichnete. Mit diesem, seit Mitte des 14. Jahrhunderts nachweisbaren Schreibervermerk brachte der unterfertigende Notar zum Ausdruck, dass er beim Beurkundungsvorgang anwesend war. Das hinzugefügte «audivit» unterstreicht dies noch. [p. 1253] Ähnlich den Rekognitionsvermerken auf den Königsurkunden übernahm der Notar mit seiner eigenhändigen Unterfertigung eine gewisse Haftung für die Richtigkeit des Urkundeninhalts. Die Kanzelariatsurkunde und die notarielle Konzepturkunde sind bisher nur im südwestdeutschen Raum nachgewiesen103. Bei den beiden Urkundentypen dürfte es sich aber kaum um regionale Sondererscheinungen handeln. Der Mangel an Nachweisen wird vielmehr damit zusammenhängen, dass die bisherigen Untersuchungen zum Notariatswesen sich vornehmlich auf das Notariatsinstrument und die notarielle Siegelurkunde konzentrierten und andere Urkundenformen ausser Acht gelassen haben.
Abschliessend soll noch auf ein Phänomen hingewiesen werden, das bisher unter dem Gesichtspunkt des Notariats noch niemand untersucht hat. Es handelt sich hier um notariell beglaubigte Drucke. Hatte ein Notar eine grosse Anzahl von Kopien anzufertigen, etwa bei Ablassbriefen oder Mandaten einer Obrigkeit, dann nutzte er seit Ende des 15. Jahrhunderts die Möglichkeiten des Buchdrucks. Dieser erlaubte es mit relativ geringem Kostenaufwand eine beliebigen Anzahl von Kopien herzustellen, wodurch sich der Notar die zeitraubende Arbeit des Abschreibens und Kollationierens ersparte. Die so vorgefertigten Kopien wurden dann vom Notar mit einem eigenhändigen Schreibervermerk, in Einzelfällen mit einer vollen notariellen Unterfertigung beglaubigt. Im Jahr 1479 hat der Augsburger Drucker und Notar Johannes Pflanzmann auf diese Weise eine Achterklärung Kaiser Fridrichs III. vervielfältigt und publiziert104.